13.09.2025 - Die schlimmste Zeit: Frauenzuchthaus Hoheneck
Renate Werwigk-Schneider:
Freiheit und Demokratie ist für viele junge Menschen hierzulande
selbstverständlich. So selbstverständlich, dass sie gar keine Vorstellung davon
haben, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Deshalb ist Renate
Werwigk-Schneider seit Jahrzehnten als Zeitzeugin tätig. In der DDR verfolgt und
verhaftet weiß sie genau, wie sich Diktatur anfühlt. In ihrem Buch „Ein bisschen
Diktatur gibt es nicht“ berichtet sie eindrücklich über ihr Leben in der DDR,
ihre zwei Fluchtversuche und ihre Inhaftierungen. Sie musste lernen, dass
Freiheit nicht selbstverständlich ist. Mit ihrem Buch kämpft sie für die
Stärkung unserer Demokratie: Denn ein bisschen Diktatur gibt es nicht.
In dem berüchtigtsten Frauengefängnis des Landes sollte ich meine Strafe
verbüßen. »Mörderburg« wurde das Gefängnis genannt. »Jetzt werden wir Ihnen erst
mal zeigen, was Knast ist«, erklärten sie mir direkt nach meiner Ankunft. Und
daran erinnerten sie mich immer wieder. Angst war besonders in Hoheneck mein
ständiger Begleiter. In der Nacht hatte ich Angst vor Brutalität und
Belästigungen durch meine Zellengenossinnen, tagsüber vor ihren Beschimpfungen,
Geschichten oder ihren gezielten Schubsereien. Jeden Abend schlief ich mit dem
Gedanken ein, ob ich am Morgen wohl noch leben würde. Ich saß mit den
sogenannten Langstrafern in einer Zelle. Sie hatten alle ihre Kinder umgebracht.
Eine Kinderärztin zusammen mit Kindsmörderinnen, da hatte sich dieses
hinterhältige System etwas Besonderes für mich ausgedacht. Ich entwickelte für
mich die aus meiner Sicht klügste Strategie, möglichst wenig an mich herankommen
zu lassen: nicht lächeln, nicht reden, nicht reagieren, nicht provozieren
lassen.
Ab März 1968 saß ich meine Strafe ab. Offiziell gab es zwar keine Mörder in
der DDR, dennoch lernte ich einige von ihnen kennen. 200 Mörderinnen saßen in
Hoheneck, meine Zelle teilte ich mir mit zehn Kindesmörderinnen, die zu
lebenslangen Haftstrafen verurteilt waren. In Hoheneck saßen wesentlich mehr
Kriminelle als Politische. Das Verhältnis dürfte zehn zu 200 gewesen sein. Und
ich lernte endlich das wahre Leben kennen: Schwerstkriminelle, die meisten mit
langen Strafen, sodass sie völlig illusions- und hemmungslos agierten. »Bild dir
bloß nicht ein, dass du was Besseres bist«, erklärten sie mir immer wieder.
Sie schikanierten mich und andere Politische, sie waren brutal in ihrem
Auftreten, in ihrer Sprache und Drohungen. Sie kippten gerne mal volle
Toilettenkübel vor mir aus und ließen mich den Dreck wegmachen, sie fegten beim
Essen meinen Suppenteller beiläufig vom Tisch, stellten ein Bein, stießen mit
den Ellenbogen im Vorübergehen in die Seite, sie erzählten mir von ihren
brutalen Morden an ihren Kindern. Die eine hatte ihr Kind ersäuft, die andere
hatte es totgeschlagen, die dritte ihren Mann und die Kinder zusammen vergast
und auf der Treppe vor der Haustür abgewartet, was passiert. So etwas stand in
keiner Zeitung. Es gab so viele Mörder, das wussten die DDR-Bürger gar nicht.
Natürlich waren sie wütend auf die Mitgefangenen, die nur eine begrenzte Haft
verbüßen mussten, denn viele von ihnen waren zu lebenslänglichen Haftstrafen
verurteilt. Die Politischen hatten im Vergleich dazu keine langen Strafen. Meine
dreieinhalb Jahre saßen sie nach ihren Worten »auf der Klobrille ab«. In
Hoheneck herrschten Neid, Missgunst, Misstrauen. Natürlich hatte ich Angst vor
diesen Frauen, mehr als vor den Schließerinnen, den sogenannten »Wachteln«, die
uns bei Auseinandersetzungen mit den Lebenslänglichen sogar zu Hilfe kamen. Auch
mein Zorn und Unschuldsbewusstsein wappneten mich zumindest ein wenig gegen die
permanenten Demütigungen und halfen mir zu überleben.
Unter den Inhaftierten gab es auch Aufseherinnen aus der NS-Zeit, die mit
»Heil Hitler« grüßten. Obwohl sie sich größtenteils ihrer Schuld bewusst waren,
wussten sie, dass sie hier vermutlich nicht mehr rauskamen, und waren gebrochene
Menschen. Sie waren alt, saßen in Extrazellen, gingen allein auf den Hof und
allein zum Essen. Wie später dokumentiert und von Zeitzeugen berichtet wurde,
waren darunter auch solche, die daran beteiligt waren, Lampenschirme aus
Menschenhaut zu bauen. Es waren Schwerverbrecherinnen, die im KZ auf grausame
Art Kinder getötet hatten. Wir durften nicht in Kontakt mit ihnen treten, sahen
sie nur von hinten. Sie hatten unten ihre Zellen und schrien immer noch: »Heil
Hitler!«
Man musste unentwegt vorsichtig sein, denn es bestand immer die Möglichkeit,
dass sich ein Spitzel unter die Gefangenen mischte. Am sichersten war man allein
und in sich gekehrt. Mein Fluchtpunkt war die Kirche in Hoheneck, die einem ein
wenig Ruhe bot und wo ich mich mit anderen politischen Gefangenen austauschen
konnte. Meistens vermied ich aber den Kontakt zu anderen und versuchte allen aus
dem Weg zu gehen.
Die Zellen waren überbelegt, eng, dreckig und oft fensterlos. Die
hygienischen Bedingungen stellten eine kaum zumutbare Herausforderung dar: Ein
Klo pro Zelle, ein Handwaschbecken, einmal pro Woche durften wir duschen. An der
Wand gab es Waschkojen, direkt daneben verrichtete ein anderer seine Notdurft.
Privatsphäre gab es kaum, und die sanitären Einrichtungen waren unzureichend.
Verwahrraum war die Bezeichnung für unsere Unterkunft. Etagenbetten waren darin,
der Kampf um die besten Plätze blieb nicht aus. Tagsüber durfte keiner im Bett
bleiben, Stühle aber gab es nicht genug. Bei kleinsten Vergehen drohten Strafen
wie Isolation oder Entzug von Privilegien. Die Gefangenen waren der Willkür der
Aufseherinnen und der ständigen Überwachung durch die Staatssicherheit
ausgesetzt. Die Kombination aus harter Arbeit, schlechten Lebensbedingungen und
der Ungewissheit über die eigene Zukunft führte häufig zu psychischen
Belastungen. Für mich war der Zusammenhalt unter den politischen Gefangenen eine
wichtige Stütze, um die Zeit zu überstehen.
Am schlimmsten war das Essen in Hoheneck: Rüben, Rüben, Rüben, zu ekelhaften
Suppen verarbeitet. Ich nahm in wenigen Monaten zehn Kilo ab und sah aus wie ein
Gespenst. Morgens um vier wurden wir geweckt, und dann ging es in die langen
Säle, wo wir hübsche Blümchen-Bettwäsche genäht haben. Die Vorarbeiterin, die
uns kontrollierte, war eine lebenslängliche Mörderin, die uns jeden noch so
kleinen Fehler um die Ohren haute. Jeden Morgen hörte ich: »Du bist auch nichts
Besseres als wir!« Immer wieder musste ich mir diesen Satz anhören. Die größte
Strafe war für mich aber, dass sie mich auf eine Stufe mit diesen
Verbrecherinnen stellten.
Wir arbeiteten für den VEB Planet in Eppendorf in Sachsen und nähten im
Akkord. Jahre später habe ich tatsächlich Bettwäsche mit meiner Kennnummer beim
Kaufhaus Neckermann in Frankfurt am Main wiedergesehen. Die von mir produzierte
Wäsche hatte es auch in den Westen geschafft. Ich aber schwor mir schon in
Hoheneck, dass ich nie wieder eine Nähmaschine anfassen würde. Das habe ich auch
durchgezogen. Allein das Summen einer Nähmaschine verursacht Übelkeit bei mir.
Meine Eltern, die sich große Sorgen machten, hatten sich vor meiner
Verurteilung wieder an die Brodhäckers gewandt. Sie merkten, wie es mir ging,
und kamen damit selber nicht gut klar. Das habe ich später vor allem aus den
Briefwechseln zwischen ihnen und den Brodhäckers erfahren. Im Mai schrieb meine
Mutter:
»Gestern war ich also in Hoheneck. Es tut wirklich sehr weh, sein Kind – sei
es 2 oder 29 Jahre – leiden zu sehen, ohne ihm richtig helfen zu können. […] Wir
waren sehr froh, uns zu sehen, aber sie ist so mit den Nerven fertig, dass sie
bei jedem lieben Namen weint. […] R. ist dort nicht Arzt, sondern sie sitzt an
der Nähmaschine. Sie ist stolz, dass sie sich gar nicht so dumm anstellt.«
Aber ich habe es gehasst, wollte nur stark wirken. Eine Nähmaschine gab es
später nicht in meinem Haushalt. Die Brodhäckers kümmerten sich erneut um
meine Freilassung. Sie kontaktierten Anwalt Jürgen Stange und schilderten ihm
meinen Fall. Stange war in Westdeutschland für die Aushandlung von Freikäufen
zuständig und nahm Kontakt zu Rechtsanwalt Vogel auf, wie ich später aus Briefen
erfuhr. Über Details wurde nichts geschrieben, denn diese Angelegenheiten wurden
immer unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit gehalten. Es sollte auf gar
keinen Fall nach Menschenhandel aussehen.
Ab Mitte der 1960er-Jahre wurden rund 35000 Häftlinge aus der DDR für mehrere
Milliarden D-Mark freigekauft, darunter waren Tausende Frauen aus Hoheneck.
Autoren von "Die schlimmste Zeit: Frauenzuchthaus Hoheneck"
13.09.2025 - Die schlimmste Zeit: Frauenzuchthaus Hoheneck
Freiheit und Demokratie ist für viele junge Menschen hierzulande selbstverständlich. So selbstverständlich, dass sie gar keine Vorstellung davon haben, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Deshalb ist Renate Werwigk-Schneider seit Jahrzehnten als Zeitzeugin tätig. In der DDR verfolgt und verhaftet weiß sie genau, wie sich Diktatur anfühlt. In ihrem Buch „Ein bisschen Diktatur gibt es nicht“ berichtet sie eindrücklich über ihr Leben in der DDR, ihre zwei Fluchtversuche und ihre Inhaftierungen. Sie musste lernen, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist. Mit ihrem Buch kämpft sie für die Stärkung unserer Demokratie: Denn ein bisschen Diktatur gibt es nicht.
In dem berüchtigtsten Frauengefängnis des Landes sollte ich meine Strafe verbüßen. »Mörderburg« wurde das Gefängnis genannt. »Jetzt werden wir Ihnen erst mal zeigen, was Knast ist«, erklärten sie mir direkt nach meiner Ankunft. Und daran erinnerten sie mich immer wieder. Angst war besonders in Hoheneck mein ständiger Begleiter. In der Nacht hatte ich Angst vor Brutalität und Belästigungen durch meine Zellengenossinnen, tagsüber vor ihren Beschimpfungen, Geschichten oder ihren gezielten Schubsereien. Jeden Abend schlief ich mit dem Gedanken ein, ob ich am Morgen wohl noch leben würde. Ich saß mit den sogenannten Langstrafern in einer Zelle. Sie hatten alle ihre Kinder umgebracht. Eine Kinderärztin zusammen mit Kindsmörderinnen, da hatte sich dieses hinterhältige System etwas Besonderes für mich ausgedacht. Ich entwickelte für mich die aus meiner Sicht klügste Strategie, möglichst wenig an mich herankommen zu lassen: nicht lächeln, nicht reden, nicht reagieren, nicht provozieren lassen.
Ab März 1968 saß ich meine Strafe ab. Offiziell gab es zwar keine Mörder in der DDR, dennoch lernte ich einige von ihnen kennen. 200 Mörderinnen saßen in Hoheneck, meine Zelle teilte ich mir mit zehn Kindesmörderinnen, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt waren. In Hoheneck saßen wesentlich mehr Kriminelle als Politische. Das Verhältnis dürfte zehn zu 200 gewesen sein. Und ich lernte endlich das wahre Leben kennen: Schwerstkriminelle, die meisten mit langen Strafen, sodass sie völlig illusions- und hemmungslos agierten. »Bild dir bloß nicht ein, dass du was Besseres bist«, erklärten sie mir immer wieder.
Sie schikanierten mich und andere Politische, sie waren brutal in ihrem Auftreten, in ihrer Sprache und Drohungen. Sie kippten gerne mal volle Toilettenkübel vor mir aus und ließen mich den Dreck wegmachen, sie fegten beim Essen meinen Suppenteller beiläufig vom Tisch, stellten ein Bein, stießen mit den Ellenbogen im Vorübergehen in die Seite, sie erzählten mir von ihren brutalen Morden an ihren Kindern. Die eine hatte ihr Kind ersäuft, die andere hatte es totgeschlagen, die dritte ihren Mann und die Kinder zusammen vergast und auf der Treppe vor der Haustür abgewartet, was passiert. So etwas stand in keiner Zeitung. Es gab so viele Mörder, das wussten die DDR-Bürger gar nicht. Natürlich waren sie wütend auf die Mitgefangenen, die nur eine begrenzte Haft verbüßen mussten, denn viele von ihnen waren zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Die Politischen hatten im Vergleich dazu keine langen Strafen. Meine dreieinhalb Jahre saßen sie nach ihren Worten »auf der Klobrille ab«. In Hoheneck herrschten Neid, Missgunst, Misstrauen. Natürlich hatte ich Angst vor diesen Frauen, mehr als vor den Schließerinnen, den sogenannten »Wachteln«, die uns bei Auseinandersetzungen mit den Lebenslänglichen sogar zu Hilfe kamen. Auch mein Zorn und Unschuldsbewusstsein wappneten mich zumindest ein wenig gegen die permanenten Demütigungen und halfen mir zu überleben.
Unter den Inhaftierten gab es auch Aufseherinnen aus der NS-Zeit, die mit »Heil Hitler« grüßten. Obwohl sie sich größtenteils ihrer Schuld bewusst waren, wussten sie, dass sie hier vermutlich nicht mehr rauskamen, und waren gebrochene Menschen. Sie waren alt, saßen in Extrazellen, gingen allein auf den Hof und allein zum Essen. Wie später dokumentiert und von Zeitzeugen berichtet wurde, waren darunter auch solche, die daran beteiligt waren, Lampenschirme aus Menschenhaut zu bauen. Es waren Schwerverbrecherinnen, die im KZ auf grausame Art Kinder getötet hatten. Wir durften nicht in Kontakt mit ihnen treten, sahen sie nur von hinten. Sie hatten unten ihre Zellen und schrien immer noch: »Heil Hitler!«
Man musste unentwegt vorsichtig sein, denn es bestand immer die Möglichkeit, dass sich ein Spitzel unter die Gefangenen mischte. Am sichersten war man allein und in sich gekehrt. Mein Fluchtpunkt war die Kirche in Hoheneck, die einem ein wenig Ruhe bot und wo ich mich mit anderen politischen Gefangenen austauschen konnte. Meistens vermied ich aber den Kontakt zu anderen und versuchte allen aus dem Weg zu gehen.
Die Zellen waren überbelegt, eng, dreckig und oft fensterlos. Die hygienischen Bedingungen stellten eine kaum zumutbare Herausforderung dar: Ein Klo pro Zelle, ein Handwaschbecken, einmal pro Woche durften wir duschen. An der Wand gab es Waschkojen, direkt daneben verrichtete ein anderer seine Notdurft. Privatsphäre gab es kaum, und die sanitären Einrichtungen waren unzureichend. Verwahrraum war die Bezeichnung für unsere Unterkunft. Etagenbetten waren darin, der Kampf um die besten Plätze blieb nicht aus. Tagsüber durfte keiner im Bett bleiben, Stühle aber gab es nicht genug. Bei kleinsten Vergehen drohten Strafen wie Isolation oder Entzug von Privilegien. Die Gefangenen waren der Willkür der Aufseherinnen und der ständigen Überwachung durch die Staatssicherheit ausgesetzt. Die Kombination aus harter Arbeit, schlechten Lebensbedingungen und der Ungewissheit über die eigene Zukunft führte häufig zu psychischen Belastungen. Für mich war der Zusammenhalt unter den politischen Gefangenen eine wichtige Stütze, um die Zeit zu überstehen.
Am schlimmsten war das Essen in Hoheneck: Rüben, Rüben, Rüben, zu ekelhaften Suppen verarbeitet. Ich nahm in wenigen Monaten zehn Kilo ab und sah aus wie ein Gespenst. Morgens um vier wurden wir geweckt, und dann ging es in die langen Säle, wo wir hübsche Blümchen-Bettwäsche genäht haben. Die Vorarbeiterin, die uns kontrollierte, war eine lebenslängliche Mörderin, die uns jeden noch so kleinen Fehler um die Ohren haute. Jeden Morgen hörte ich: »Du bist auch nichts Besseres als wir!« Immer wieder musste ich mir diesen Satz anhören. Die größte Strafe war für mich aber, dass sie mich auf eine Stufe mit diesen Verbrecherinnen stellten.
Wir arbeiteten für den VEB Planet in Eppendorf in Sachsen und nähten im Akkord. Jahre später habe ich tatsächlich Bettwäsche mit meiner Kennnummer beim Kaufhaus Neckermann in Frankfurt am Main wiedergesehen. Die von mir produzierte Wäsche hatte es auch in den Westen geschafft. Ich aber schwor mir schon in Hoheneck, dass ich nie wieder eine Nähmaschine anfassen würde. Das habe ich auch durchgezogen. Allein das Summen einer Nähmaschine verursacht Übelkeit bei mir.
Meine Eltern, die sich große Sorgen machten, hatten sich vor meiner Verurteilung wieder an die Brodhäckers gewandt. Sie merkten, wie es mir ging, und kamen damit selber nicht gut klar. Das habe ich später vor allem aus den Briefwechseln zwischen ihnen und den Brodhäckers erfahren. Im Mai schrieb meine Mutter:
»Gestern war ich also in Hoheneck. Es tut wirklich sehr weh, sein Kind – sei es 2 oder 29 Jahre – leiden zu sehen, ohne ihm richtig helfen zu können. […] Wir waren sehr froh, uns zu sehen, aber sie ist so mit den Nerven fertig, dass sie bei jedem lieben Namen weint. […] R. ist dort nicht Arzt, sondern sie sitzt an der Nähmaschine. Sie ist stolz, dass sie sich gar nicht so dumm anstellt.«
Aber ich habe es gehasst, wollte nur stark wirken. Eine Nähmaschine gab es später nicht in meinem Haushalt.
Die Brodhäckers kümmerten sich erneut um meine Freilassung. Sie kontaktierten Anwalt Jürgen Stange und schilderten ihm meinen Fall. Stange war in Westdeutschland für die Aushandlung von Freikäufen zuständig und nahm Kontakt zu Rechtsanwalt Vogel auf, wie ich später aus Briefen erfuhr. Über Details wurde nichts geschrieben, denn diese Angelegenheiten wurden immer unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit gehalten. Es sollte auf gar keinen Fall nach Menschenhandel aussehen.
Ab Mitte der 1960er-Jahre wurden rund 35000 Häftlinge aus der DDR für mehrere Milliarden D-Mark freigekauft, darunter waren Tausende Frauen aus Hoheneck.
Autoren von "Die schlimmste Zeit: Frauenzuchthaus Hoheneck"
Bücher von Renate Werwigk-Schneider