Ein weiterer großer Krieg ist kein Schicksal. Er kann verhindert werden, wenn
eine multipolare Welt akzeptiert und Russland als integraler Bestandteil einer
europäischen Sicherheitsarchitektur behandelt wird, sagen Stefan Luft, Jan
Opielka und Jürgen Wendler. In ihrem neuen Buch zeigen sie, dass gravierende
Fehlentwicklungen eine Abkehr von überkommenen Einschätzungen nötig machen. Sie
schildern, wie alle Teile der deutschen Gesellschaft abermals auf den Irrweg des
Krieges geführt werden, welchen Irrtümern Mittelosteuropäer aufgrund
historischer Erfahrungen erliegen und was die westliche Zivilisation anfechtbar
macht - auch mit Blick aufs Völkerrecht und die Russlandfrage.
Deutschland ist in den ersten drei Jahren des Krieges nach den USA der
zweitgrößte Waffenlieferant der Ukraine gewesen. Es wurden immer mehr
Waffensysteme geliefert und damit eine Eskalationsstufe nach der anderen
beschritten. Das Motto: Waffen in die Ukraine, mehr Waffen, noch mehr Waffen.
Erst Kampfpanzer, dann Raketen mit abgereichertem Uran, dann Streumunition,
Kampfjets, Marschflugkörper. Im Jahr 2008 hatte der damalige Außenminister
Steinmeier noch die internationale Konvention gegen diese besonders grausame
Waffenart für die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet.1 Inzwischen
verteidigt er die Lieferung dieser Munition aus den USA an die Ukraine.2 Der
Zweck heiligt die Mittel, wenn es darum geht, Russland zu schaden. Der Grundsatz
der Vertragstreue – er war einmal. Welchen Wert haben in Zukunft derartige
Unterschriften, wenn sie sich im Krisenfall als bedeutungslos erweisen?
Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Die wenigen warnenden Stimmen, so sie
überhaupt in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, erzielten keine
nachhaltige Wirkung. Eine sehr große Koalition aus den Regierungsfraktionen SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und der FDP sowie der größten Oppositionsfraktion aus CDU
und CSU setzte die Bundesregierung dauerhaft unter massiven politischen Druck,
ohne Zögern nahezu alles, was von der Ukraine und den USA gefordert wurde, zu
liefern. Jegliche Zurückhaltung oder gar Weigerung, bestimmte Systeme zu
liefern, wurde zum Stoff einer Dolchstoßlegende neuen Typs: Das ukrainische
Militär habe den verdienten Sieg nicht erringen können, weil feige Politiker
sich weigerten, ihm die Unterstützung zu gewähren, die für einen Sieg benötigt
worden wäre.
Der Grünen-Politiker Hofreiter und der CDU-Politiker Röttgen haben diese
Version einer Dolchstoßlegende als »Defaitismus von Olaf Scholz«3 bezeichnet.
Die Vorwürfe klangen zum Beispiel so: »Seit zwei Jahren wird die Lieferung jeder
neuen Waffengattung von mühsamsten Diskussionen, Scheinargumenten und
Angstrhetorik begleitet. Atomkrieg. Eskalation. Kriegspartei. Das sind nur
einige der Schlagworte, die der Kanzler seit dem 24. Februar 2022 geprägt hat
[…].« Olaf Scholz fehle es »(a)n dem unbedingten Willen, dass wir die Ukraine
und damit unsere Werte und Interessen nicht aufgeben, [daran] darf nicht der
geringste Zweifel entstehen.«
Der »unbedingte Wille«, den Krieg zu führen, den Hofreiter und Röttgen
fordern, darf gerade nicht die alles dominierende Handlungsmaxime sein. Die
Abwägung grundlegender Interessen und die Einschätzung von Risiken ist für die
Beteiligung als Dritter an einem Krieg unverzichtbar. Die Einschätzung des
SPD-Bundeskanzlers, die russische Regierung werde die Lieferung von
Marschflugkörpern aus hiesiger Produktion mit einer Reichweite von rund 500
Kilometern als endgültigen Kriegseintritt Deutschlands betrachten, ist nicht von
der Hand zu weisen. Zumindest müsste sie von den politischen
Verantwortungsträgern ernsthaft erwogen werden. Scholz hatte sich in dieser
Frage ein erstes Mal als Bundeskanzler öffentlich festgelegt. In seinem Gespräch
mit dem US-amerikanischen Präsidenten Biden am 10. Februar 2024, zu dem er als
einziger europäischer Regierungschef geladen worden war, wird ihm zudem auch
vermittelt worden sein, dass die USA nicht sehr viel länger bereit sein würden,
den Konflikt mit Russland weiterzuführen. Europa stünde dann alleine da und
wäre, das ist offensichtlich, von dieser Aufgabe eindeutig überfordert. Die
jüngsten Bemühungen um eine Strategie der EU für eine europäische
Rüstungsindustrie und damit für eine rasche Steigerung der Produktion werden
daran nichts Grundlegendes ändern. […] Die Menschen sind stark beunruhigt
wegen des Krieges in Europa. »61 Prozent der Bundesbürger machen sich große
Sorgen, dass Deutschland in militärische Konflikte verwickelt werden könnte. […]
Der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung macht der Ukraine-Krieg unverändert
große Sorgen. 90 Prozent sind darüber außerordentlich beunruhigt«, zeigen
Befragungen im Januar 2025.4 Aber: Es herrscht Ruhe im Land. Der Gedanke an den
Zauberberg Thomas Manns, eine abgeschlossene Welt vor Beginn des Ersten
Weltkriegs, drängt sich auf: Während sich Europa in eine der beiden größten
Katastrophen des 20. Jahrhunderts hineinbewegt, bleibt das Leben im
schweizerischen Davos weitgehend unberührt davon. Auch in der Gegenwart bleibt
die Bevölkerung angesichts von Militarisierung, Krieg und Feindpropaganda nach
außen merkwürdig gelassen. Fest steht: Eine Mehrheit wollte ein rasches Ende des
Krieges.
»Viele Bürger wünschen sich mittlerweile ein rasches Ende des
Ukraine-Krieges, auch um den Preis von Gebietsverlusten. 52 Prozent der
Bevölkerung vertreten diese Position, während lediglich 24 Prozent
widersprechen. Dabei gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen West und
Ost: Während die westdeutsche Bevölkerung in dieser Frage gespalten ist,
votieren zwei Drittel der ostdeutschen Bevölkerung für eine rasche Beendigung
des Krieges auch um den Preis, dass Russland die besetzten Gebiete behält.«5
Lieb Vaterland, magst ruhig sein – dieser Text auf Feldpostkarten aus dem
Ersten Weltkrieg sollte die Adressaten in Sicherheit wiegen, sedieren. Niemand
muss sich Sorgen machen – Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Erst wenn die
eigenen Söhne und Töchter eingezogen werden, wird sich in der öffentlichen
Meinung Grundlegendes wenden.
1 Auswärtiges Amt, Weltweite Ächtung von Streumunition, 15. Juli 2021,
https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/sicherheitspolitik/abruestung-ruestungskontrolle/uebersicht-konvalles-node/streumunition-node.
2
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-07/zdf-sommerinterview-bundespraesident-frank-walter-steinmeier-streumunition-ukraine-usa.
3
https://www.faz.net/aktuell/politik/ukraine/taurus-lieferung-der-defaetismus-von-olaf-scholz-19576955.html
4 16. Sicherheitsreport. Deutsche fühlen sich zunehmend unsicher, 30. Januar
2025,
https://www.sicherheitsreport.net/wp-content/uploads/PM_16.Sicherheitsreport_2025.pdf.
5 Ebd.
19.07.2025 - Dolchstoßlegende neuen Typs
Ein weiterer großer Krieg ist kein Schicksal. Er kann verhindert werden, wenn eine multipolare Welt akzeptiert und Russland als integraler Bestandteil einer europäischen Sicherheitsarchitektur behandelt wird, sagen Stefan Luft, Jan Opielka und Jürgen Wendler. In ihrem neuen Buch zeigen sie, dass gravierende Fehlentwicklungen eine Abkehr von überkommenen Einschätzungen nötig machen. Sie schildern, wie alle Teile der deutschen Gesellschaft abermals auf den Irrweg des Krieges geführt werden, welchen Irrtümern Mittelosteuropäer aufgrund historischer Erfahrungen erliegen und was die westliche Zivilisation anfechtbar macht - auch mit Blick aufs Völkerrecht und die Russlandfrage.
Deutschland ist in den ersten drei Jahren des Krieges nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant der Ukraine gewesen. Es wurden immer mehr Waffensysteme geliefert und damit eine Eskalationsstufe nach der anderen beschritten. Das Motto: Waffen in die Ukraine, mehr Waffen, noch mehr Waffen. Erst Kampfpanzer, dann Raketen mit abgereichertem Uran, dann Streumunition, Kampfjets, Marschflugkörper. Im Jahr 2008 hatte der damalige Außenminister Steinmeier noch die internationale Konvention gegen diese besonders grausame Waffenart für die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet.1 Inzwischen verteidigt er die Lieferung dieser Munition aus den USA an die Ukraine.2 Der Zweck heiligt die Mittel, wenn es darum geht, Russland zu schaden. Der Grundsatz der Vertragstreue – er war einmal. Welchen Wert haben in Zukunft derartige Unterschriften, wenn sie sich im Krisenfall als bedeutungslos erweisen? Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Die wenigen warnenden Stimmen, so sie überhaupt in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, erzielten keine nachhaltige Wirkung. Eine sehr große Koalition aus den Regierungsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP sowie der größten Oppositionsfraktion aus CDU und CSU setzte die Bundesregierung dauerhaft unter massiven politischen Druck, ohne Zögern nahezu alles, was von der Ukraine und den USA gefordert wurde, zu liefern. Jegliche Zurückhaltung oder gar Weigerung, bestimmte Systeme zu liefern, wurde zum Stoff einer Dolchstoßlegende neuen Typs: Das ukrainische Militär habe den verdienten Sieg nicht erringen können, weil feige Politiker sich weigerten, ihm die Unterstützung zu gewähren, die für einen Sieg benötigt worden wäre.
Der Grünen-Politiker Hofreiter und der CDU-Politiker Röttgen haben diese Version einer Dolchstoßlegende als »Defaitismus von Olaf Scholz«3 bezeichnet. Die Vorwürfe klangen zum Beispiel so: »Seit zwei Jahren wird die Lieferung jeder neuen Waffengattung von mühsamsten Diskussionen, Scheinargumenten und Angstrhetorik begleitet. Atomkrieg. Eskalation. Kriegspartei. Das sind nur einige der Schlagworte, die der Kanzler seit dem 24. Februar 2022 geprägt hat […].« Olaf Scholz fehle es »(a)n dem unbedingten Willen, dass wir die Ukraine und damit unsere Werte und Interessen nicht aufgeben, [daran] darf nicht der geringste Zweifel entstehen.«
Der »unbedingte Wille«, den Krieg zu führen, den Hofreiter und Röttgen fordern, darf gerade nicht die alles dominierende Handlungsmaxime sein. Die Abwägung grundlegender Interessen und die Einschätzung von Risiken ist für die Beteiligung als Dritter an einem Krieg unverzichtbar. Die Einschätzung des SPD-Bundeskanzlers, die russische Regierung werde die Lieferung von Marschflugkörpern aus hiesiger Produktion mit einer Reichweite von rund 500 Kilometern als endgültigen Kriegseintritt Deutschlands betrachten, ist nicht von der Hand zu weisen. Zumindest müsste sie von den politischen Verantwortungsträgern ernsthaft erwogen werden. Scholz hatte sich in dieser Frage ein erstes Mal als Bundeskanzler öffentlich festgelegt. In seinem Gespräch mit dem US-amerikanischen Präsidenten Biden am 10. Februar 2024, zu dem er als einziger europäischer Regierungschef geladen worden war, wird ihm zudem auch vermittelt worden sein, dass die USA nicht sehr viel länger bereit sein würden, den Konflikt mit Russland weiterzuführen. Europa stünde dann alleine da und wäre, das ist offensichtlich, von dieser Aufgabe eindeutig überfordert. Die jüngsten Bemühungen um eine Strategie der EU für eine europäische Rüstungsindustrie und damit für eine rasche Steigerung der Produktion werden daran nichts Grundlegendes ändern. […]
Die Menschen sind stark beunruhigt wegen des Krieges in Europa. »61 Prozent der Bundesbürger machen sich große Sorgen, dass Deutschland in militärische Konflikte verwickelt werden könnte. […] Der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung macht der Ukraine-Krieg unverändert große Sorgen. 90 Prozent sind darüber außerordentlich beunruhigt«, zeigen Befragungen im Januar 2025.4 Aber: Es herrscht Ruhe im Land. Der Gedanke an den Zauberberg Thomas Manns, eine abgeschlossene Welt vor Beginn des Ersten Weltkriegs, drängt sich auf: Während sich Europa in eine der beiden größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts hineinbewegt, bleibt das Leben im schweizerischen Davos weitgehend unberührt davon. Auch in der Gegenwart bleibt die Bevölkerung angesichts von Militarisierung, Krieg und Feindpropaganda nach außen merkwürdig gelassen. Fest steht: Eine Mehrheit wollte ein rasches Ende des Krieges.
»Viele Bürger wünschen sich mittlerweile ein rasches Ende des Ukraine-Krieges, auch um den Preis von Gebietsverlusten. 52 Prozent der Bevölkerung vertreten diese Position, während lediglich 24 Prozent widersprechen. Dabei gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen West und Ost: Während die westdeutsche Bevölkerung in dieser Frage gespalten ist, votieren zwei Drittel der ostdeutschen Bevölkerung für eine rasche Beendigung des Krieges auch um den Preis, dass Russland die besetzten Gebiete behält.«5
Lieb Vaterland, magst ruhig sein – dieser Text auf Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg sollte die Adressaten in Sicherheit wiegen, sedieren. Niemand muss sich Sorgen machen – Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Erst wenn die eigenen Söhne und Töchter eingezogen werden, wird sich in der öffentlichen Meinung Grundlegendes wenden.
1 Auswärtiges Amt, Weltweite Ächtung von Streumunition, 15. Juli 2021, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/sicherheitspolitik/abruestung-ruestungskontrolle/uebersicht-konvalles-node/streumunition-node.
2 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-07/zdf-sommerinterview-bundespraesident-frank-walter-steinmeier-streumunition-ukraine-usa.
3 https://www.faz.net/aktuell/politik/ukraine/taurus-lieferung-der-defaetismus-von-olaf-scholz-19576955.html
4 16. Sicherheitsreport. Deutsche fühlen sich zunehmend unsicher, 30. Januar 2025, https://www.sicherheitsreport.net/wp-content/uploads/PM_16.Sicherheitsreport_2025.pdf.
5 Ebd.
Autoren von "Dolchstoßlegende neuen Typs"
Bücher von Stefan Luft