03.11.2025 - Gute Nachbarschaft oder Abschreckung und notfalls Krieg?
Albrecht Müller:
Albrecht Müller, Jahrgang 1938, gehört zu den wenigen noch lebenden
Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs. Als Kind erlebte er Bombennächte, brennende
Städte, Flüchtlinge und Kriegsversehrte - Erfahrungen, die sein Leben und Denken
prägten. Mit eindringlicher Klarheit schildert er, warum "Wir wollen ein Volk
der guten Nachbarn sein" mehr sein muss als eine historische Parole: Es ist eine
Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft. Persönlich, streitbar und nachdenklich
verbindet er Erinnerungen mit Analysen.
In einem Dorf in der Nähe meiner Geburtsstadt Heidelberg bin ich
aufgewachsen. Im Helmholtz-Gymnasium, das damals noch in der Kettengasse mitten
in der Altstadt Heidelbergs lag, habe ich als 12-Jähriger meine ersten und
nachhaltigen friedens- bzw. kriegspolitischen Erfahrungen gesammelt. An meinen
damaligen Erfahrungen werden zwei grundverschiedene Vorstellungen vom
Zusammenleben der Völker sichtbar. In der Quarta, also in der siebten Klasse im
uralten Gemäuer des Helmholtz-Gymnasiums, hatte ich zwei einschlägige
Erlebnisse. Das war 1951, also sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs:
Englisch und Geschichte unterrichtete ein betagter Lehrer. Er war – wie
damals üblich – nach dem Krieg wieder aus dem Ruhestand geholt worden, sah
schlecht und konnte deshalb nicht mitverfolgen, wie wir zu seiner Verwirrung
während des Unterrichts ständig unsere Plätze wechselten. Wir nannten ihn wegen
seiner Kopfform »Zwiebel«. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er verzweifelt an der
Tafel steht und unter Tränen beklagt, er müsse eine solch schlimme Klasse
unterrichten, obwohl er in diesem schrecklichen Krieg seinen Sohn verloren habe.
Dass Kriege sinnvoll seien, vermittelte er uns nicht. Er verachtete den Krieg.
Mathematikunterricht hatten wir bei einem drahtigen, sportlichen Typ. Er
hatte unsere Herzen schon dadurch gewonnen, dass er mit uns im Winter zum
Skifahren nach Hindelang im Allgäu zog. Das war eine beachtliche Leistung – nur
sechs Jahre nach dem Krieg. Er wusste, wie er die Sympathien von 13-jährigen
Jungs gewinnt. Wenn Sie heute auf die Website des Heidelberger Helmholtz
Gymnasiums gehen und die Direktoren aufrufen, dann werden Sie ihn dort
abgebildet finden, als Schulleiter von 1941 bis 1945 – zweite Reihe rechts.
Nicht vermerkt ist auf der Website, dass er in seiner Zeit als Direktor der
Schule vor 1945 die Schüler gelegentlich auf dem Schulhof in Reih und Glied
antreten ließ – er dabei selbst in Naziuniform. Vermerkt ist auch nicht, dass er
nach dem Krieg ein bisschen degradiert worden ist, nur ein bisschen und weiter
tätig an der gleichen Schule, wenn auch nicht mehr als Direktor. Er war ein
recht guter Mathematiklehrer, aber er war ein Verehrer der Kriege zwischen den
Völkern. Er erzählte oft und lang von Panzerschlachten. Sechs Jahre nach dem
Krieg. Er hielt offensichtlich Kriege für ein Mittel der Politik. Und er hielt
die Gewalt eines Volkes gegenüber einem anderen für angebracht.
Bei ihm habe ich damals in der Untertertia, also mit dreizehn, meine
politische Sozialisation hinter mich gebracht: Als er mal wieder von
militärischen Abenteuern schwärmte, meldete ich mich zu Wort und sagte: »Herr
von Neuenstein, wir haben Mathematikunterricht.« – Das war hart für ihn. Aber er
konnte mich nicht verprügeln.
Er rächte sich auf billige Weise. Weil meine Mutter meinte, ich könne wegen
des Konfirmandenunterrichts nicht mit auf die wie-der geplante Ski-Freizeit,
diesmal in den Schwarzwald, kommen und in der schriftlichen Entschuldigung
ehrlich und naiv den Konfirmandenunterricht als Grund angab, nannte er mich
danach nicht mehr Müller, also mit dem Nachnamen, wie das damals auch bei noch
jungen Schülern üblich war, sondern »Gottlieb«. Das war eine perfide
Ableitung aus der schriftlichen Entschuldigung meiner Mutter. Wenn ich in
Mathematik nicht ausgesprochen gut gewesen wäre, hätte diese Diffamierung auch
schlimm ausgehen können. Fast fünf Jahre später traf ich Hermann von
Neuenstein im Heidelberger Stadtteil Neuenheim auf der Straße – wir beide waren
inzwischen an anderen Schulen, er am Raphael-Gymnasium, ich an der
Wirtschaftsoberschule. Er erkundigte sich freundlich, fast schon
freundschaftlich, danach, wie es mir gehe. Die Sicht vom Krieg des Herrn von
Neuenstein unterschied sich total von jener unseres alten, fast blinden
Englischlehrers. Das waren zwei diametral verschiedene Sichten vom Zusammenleben
der Völker. Die eine Version ist am besten gekennzeichnet durch die Aussage in
der Regierungserklärung Willy Brandts vom 28. Oktober 1969: »Wir wollen ein Volk
der guten Nachbarn sein.« – Dazu kamen ähnliche Formulierungen für die gleiche
Politik: sich vertragen, Vertrauen bilden, Entspannungspolitik, Politik der
Verständigung, gemeinsame Sicherheit. – Sich vertragen und Ver-trauen bilden
funktionierten in dieser Phase der Politik und letztlich bis 1990.
Ein Vorläufer der Absage an Krieg war das »Nie wieder Krieg« unmittelbar nach
1945. Aber diese damals weitverbreitete Einsicht galt offenbar nicht für meinen
Mathematiklehrer.
Zu ihm passte eher das, was wir dann in den fünfziger Jahren erlebten:
Wiederbewaffnung. Politik der Stärke. Abschrecken, Feindbilder. Später dann:
Nachrüsten. Kriege sind notfalls die Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln. Das waren die Zeichen und Parolen eines anderen Umgangs miteinander.
03.11.2025 - Gute Nachbarschaft oder Abschreckung und notfalls Krieg?
Albrecht Müller, Jahrgang 1938, gehört zu den wenigen noch lebenden Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs. Als Kind erlebte er Bombennächte, brennende Städte, Flüchtlinge und Kriegsversehrte - Erfahrungen, die sein Leben und Denken prägten. Mit eindringlicher Klarheit schildert er, warum "Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein" mehr sein muss als eine historische Parole: Es ist eine Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft. Persönlich, streitbar und nachdenklich verbindet er Erinnerungen mit Analysen.
In einem Dorf in der Nähe meiner Geburtsstadt Heidelberg bin ich aufgewachsen. Im Helmholtz-Gymnasium, das damals noch in der Kettengasse mitten in der Altstadt Heidelbergs lag, habe ich als 12-Jähriger meine ersten und nachhaltigen friedens- bzw. kriegspolitischen Erfahrungen gesammelt. An meinen damaligen Erfahrungen werden zwei grundverschiedene Vorstellungen vom Zusammenleben der Völker sichtbar. In der Quarta, also in der siebten Klasse im uralten Gemäuer des Helmholtz-Gymnasiums, hatte ich zwei einschlägige Erlebnisse. Das war 1951, also sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs:
Englisch und Geschichte unterrichtete ein betagter Lehrer. Er war – wie damals üblich – nach dem Krieg wieder aus dem Ruhestand geholt worden, sah schlecht und konnte deshalb nicht mitverfolgen, wie wir zu seiner Verwirrung während des Unterrichts ständig unsere Plätze wechselten. Wir nannten ihn wegen seiner Kopfform »Zwiebel«. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er verzweifelt an der Tafel steht und unter Tränen beklagt, er müsse eine solch schlimme Klasse unterrichten, obwohl er in diesem schrecklichen Krieg seinen Sohn verloren habe. Dass Kriege sinnvoll seien, vermittelte er uns nicht. Er verachtete den Krieg.
Mathematikunterricht hatten wir bei einem drahtigen, sportlichen Typ. Er hatte unsere Herzen schon dadurch gewonnen, dass er mit uns im Winter zum Skifahren nach Hindelang im Allgäu zog. Das war eine beachtliche Leistung – nur sechs Jahre nach dem Krieg. Er wusste, wie er die Sympathien von 13-jährigen Jungs gewinnt. Wenn Sie heute auf die Website des Heidelberger Helmholtz Gymnasiums gehen und die Direktoren aufrufen, dann werden Sie ihn dort abgebildet finden, als Schulleiter von 1941 bis 1945 – zweite Reihe rechts.
Nicht vermerkt ist auf der Website, dass er in seiner Zeit als Direktor der Schule vor 1945 die Schüler gelegentlich auf dem Schulhof in Reih und Glied antreten ließ – er dabei selbst in Naziuniform. Vermerkt ist auch nicht, dass er nach dem Krieg ein bisschen degradiert worden ist, nur ein bisschen und weiter tätig an der gleichen Schule, wenn auch nicht mehr als Direktor. Er war ein recht guter Mathematiklehrer, aber er war ein Verehrer der Kriege zwischen den Völkern. Er erzählte oft und lang von Panzerschlachten. Sechs Jahre nach dem Krieg. Er hielt offensichtlich Kriege für ein Mittel der Politik. Und er hielt die Gewalt eines Volkes gegenüber einem anderen für angebracht.
Bei ihm habe ich damals in der Untertertia, also mit dreizehn, meine politische Sozialisation hinter mich gebracht: Als er mal wieder von militärischen Abenteuern schwärmte, meldete ich mich zu Wort und sagte: »Herr von Neuenstein, wir haben Mathematikunterricht.« – Das war hart für ihn. Aber er konnte mich nicht verprügeln.
Er rächte sich auf billige Weise. Weil meine Mutter meinte, ich könne wegen des Konfirmandenunterrichts nicht mit auf die wie-der geplante Ski-Freizeit, diesmal in den Schwarzwald, kommen und in der schriftlichen Entschuldigung ehrlich und naiv den Konfirmandenunterricht als Grund angab, nannte er mich danach nicht mehr Müller, also mit dem Nachnamen, wie das damals auch bei noch jungen Schülern üblich war, sondern »Gottlieb«.
Das war eine perfide Ableitung aus der schriftlichen Entschuldigung meiner Mutter. Wenn ich in Mathematik nicht ausgesprochen gut gewesen wäre, hätte diese Diffamierung auch schlimm ausgehen können.
Fast fünf Jahre später traf ich Hermann von Neuenstein im Heidelberger Stadtteil Neuenheim auf der Straße – wir beide waren inzwischen an anderen Schulen, er am Raphael-Gymnasium, ich an der Wirtschaftsoberschule. Er erkundigte sich freundlich, fast schon freundschaftlich, danach, wie es mir gehe.
Die Sicht vom Krieg des Herrn von Neuenstein unterschied sich total von jener unseres alten, fast blinden Englischlehrers. Das waren zwei diametral verschiedene Sichten vom Zusammenleben der Völker. Die eine Version ist am besten gekennzeichnet durch die Aussage in der Regierungserklärung Willy Brandts vom 28. Oktober 1969: »Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.« – Dazu kamen ähnliche Formulierungen für die gleiche Politik: sich vertragen, Vertrauen bilden, Entspannungspolitik, Politik der Verständigung, gemeinsame Sicherheit. – Sich vertragen und Ver-trauen bilden funktionierten in dieser Phase der Politik und letztlich bis 1990.
Ein Vorläufer der Absage an Krieg war das »Nie wieder Krieg« unmittelbar nach 1945. Aber diese damals weitverbreitete Einsicht galt offenbar nicht für meinen Mathematiklehrer.
Zu ihm passte eher das, was wir dann in den fünfziger Jahren erlebten: Wiederbewaffnung. Politik der Stärke. Abschrecken, Feindbilder. Später dann: Nachrüsten. Kriege sind notfalls die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das waren die Zeichen und Parolen eines anderen Umgangs miteinander.
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