Die blinden Flecken des Westens werden immer größer: Egoismus,
Eurozentrismus und Rassismus sind stärker denn je, zeigt Emran Feroz in seinem
neuen Buch „Wir wollen leben!“. Nichts verdeutlicht dies mehr als der Krieg in
Gaza, der zum Sinnbild jener korrumpierten Moralvorstellung geworden ist, die
den Nahen Osten und andere Regionen der Welt seit Jahrzehnten heimsucht. Nach
den gescheiterten Kriegen in Afghanistan, Irak und anderswo hätte man meinen
können, dass die westliche Welt aus ihren Fehlern gelernt hätte. Doch seit Gaza
wird täglich deutlich, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Errungenschaften der
Aufklärung – Menschenrechte, liberale Demokratie und alles andere – hat für
viele Teile der Welt nie gegolten. Der Westen hat alles verraten, wofür er einst
angeblich stand.
Das Buch ist eine Intervention. Eine Intervention in einer Zeit, in der ich
fast jede Hoffnung verloren habe. Hoffnung für die Menschen in Gaza, in der
Ukraine, Afghanistan und anderswo. Hoffnung für unseren Planeten, der von
Menschen regiert wird, die ihn willkürlich zerstören. Hoffnung auf ein
friedliches Zusammenleben, während immer mehr Gesellschaften sich bekriegen und
mit mehr und mehr Waffen, darunter mittlerweile auch autonomen KI-Systemen, die
selbst entscheiden, wen es zu töten gilt, beliefern lassen, um einander zu
zerstören. Gesellschaften, die besetzen, um andere Gesellschaften auszulöschen.
Ich habe aber vor allem Hoffnung in meinen Berufsstand, den Journalismus,
verloren. Denn meine Zunft hat versagt. Sie hat es in weiten Teilen nicht
geschafft, den israelischen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung des
Gazastreifens, den wir alle, so pervers es klingt, im Minutentakt im Livestream
erleben, als das zu benennen, was es ist. Nämlich ein grauenvoller
Zivilisationsbruch. The point of no return – denn die Welt wird nach dem Ende
des Grauens, das dort weiterhin vor sich geht, nicht mehr dieselbe sein. Der vor
unseren Augen ablaufende Genozid in Gaza zeigt, dass manche Menschenleben
offenbar weniger wertvoll sind als andere. Gaza verdeutlicht uns, dass für
Millionen von Menschen die stets hoch gehaltenen Werte der westlichen Welt
schlicht und einfach nicht gelten – selbst wenn sie monatelang minutiös
dokumentieren, was mit ihnen geschieht, wie sie lebendig verbrannt, ausgehungert
oder von Drohnen und Scharfschützen gejagt werden. Und Gaza zeigt uns, der
vermeintlich aufgeklärten und fortgeschrittenen Gesellschaft Europas, wie wenig
wir von diesen Werten selbst halten, denn unser System – die liberale Demokratie
– zerfällt, und wir haben dazu beigetragen.
Tatsächlich war ich einst dummerweise etwas optimistischer. Nach den
gescheiterten Antiterrorkriegen der westlichen Welt in Afghanistan, Irak und
anderswo dachte ich, dass viele der Verantwortlichen aus ihren Fehlern gelernt
hätten. Viel sprach auch damals nicht dafür, doch es gab Szenen, wie jene am
Kabuler Flughafen im August 2021, die man nicht leugnen und, so dachte ich
zumindest naiverweise, nicht anders deuten konnte. Die Terroranschläge des 11.
Septembers 2001 kosteten fast 3 000 unschuldigen Menschen das Leben. Bis heute
gibt es nichts, das diese Gräueltat in irgendeiner Art und Weise rechtfertigen
könnte. Eine konservative Schätzung des »Costs of War Project« aus dem Jahr 2021
beziffert die direkten Todesfälle infolge der Post-9/11-Kriege in Afrika, Nahost
und Asien auf etwa 900.000 bis 940.000, davon über 430.000 Zivilisten. Andere
Todeszahlen und Dunkelziffern liegen deutlich höher. Sie sind realistischer und
wahrscheinlicher, unter anderem auch, weil viele der Opfer nie richtig gezählt
wurden. Auch die Gewalt, die gegen all diese Menschen jahrzehntelang ausgeübt
wurde, um sie im Kollektiv zu bestrafen, lässt sich durch nichts rechtfertigen.
»Afghanen sind nicht so billig«, sagte mir einmal ein Anwalt, der die Opfer
eines NATO-Luftangriffs vertrat. Er erzählte von Familien, die für ihre
ermordeten Familienmitglieder von der Bundeswehr mit einigen hundert Dollar
»entschädigt« worden waren. Wie undenkbar doch so etwas in Deutschland sein
würde, dachte ich mir damals. Und wie wenig jene Menschen, die so hießen und
aussahen wie ich, wert waren. Dass die verantwortlichen Akteure, demokratisch
gewählte Staatschefs, mit ihren Verbrechen dennoch davongekommen sind, hat die
westliche Werteordnung nachhaltig massiv beschädigt. 2022 kam Agnés Callamard,
die Generalsekretärin von Amnesty International, zum Schluss, dass der globale
Abbau des Völkerrechts im 21. Jahrhundert mit dem »War on Terror« der Amerikaner
in Afghanistan und Irak begann. Erst dadurch merkten die Despoten der Welt, dass
sie mit praktisch allem davonkommen können. Die Ermordung Jamal Khashoggis durch
den saudischen Kronprinz Mohammed bin Salman. Russlands illegale Invasion der
Ukraine.
Die Verfolgung der muslimischen Uiguren in China. Schon damals sprach
Callamard auch von der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete.
Seit dem 7. Oktober 2023 spricht sie explizit von Genozid – und zeigt wenig
Verständnis für jene, die das, was tagtäglich vor unseren Augen geschieht,
leugnen. Es gibt nichts, das die Gräueltaten der Hamas und die Ermordung von
1200 Menschen rechtfertigen könnte. Das sage ich nicht nur aufgrund einer
eindeutigen Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten, sondern auch als
jemand, der einen muslimischen Hintergrund hat und sich mit sogenannten
militant-islamistischen Gruppen (aber: wann sprechen wir endlich auch von
militanten Christianisten und Judaisten?) auskennt. Die Hamas ist eine brutale
Gruppe von Mördern, die jegliches Widerstandsrecht stets für ihre eigene Agenda
missbraucht und instrumentalisiert hat. Islamische Regeln, die es auch im Krieg
gibt, etwa gegenüber Frauen, Kindern oder selbst der Natur, werden von ihr
ignoriert. Selbiges gilt im Übrigen auch für andere Gruppierungen wie Al-Qaida
oder die Taliban. Doch die Hamas ist nicht von heute auf morgen entstanden – und
sie ist deutlich jünger als die Palästinafrage. Als die Vorläufer der Taliban,
die Mudschaheddin-Rebellen, erstmals in Afghanistan auftauchten, war man im
Westen froh darüber und unterstützte sie. Warum? Weil man in Zeiten des Kalten
Krieges mit der Sowjetunion sowie der kommunistischen Diktatur in Kabul einen
gemeinsamen Feind hatte. Kriegsverbrechen der Mudschaheddin wurden hier und da
benannt, etwa vom damaligen UN-Sonderbeauftragten für Menschen-rechte in
Afghanistan, dem österreichischen Juristen Felix Ermacora. In einem
ausführlichen Bericht schrieb Ermacora allerdings auch, dass die Gewalt der
Rebellen in keiner Weise vergleichbar sei mit der genozidalen Kriegsführung der
Sowjets im Afghanistan der 1980er-Jahre. Zur Erinnerung, weil vieles davon heute
verdrängt und vergessen scheint: Die Rote Armee löschte ganze Dörfer aus, ließ
in Kabul einen weitreichenden Folterapparat errichten und sprengte Kindern mit
als Spielzeug getarnten Minen die Gliedmaßen weg. Im Fall der Beziehung zwischen
der Hamas und Israel war man zuerst froh über die neue, militante Kraft, die
neben der deutlich populäreren, marxistischen PLO, unter deren Flagge sowohl
Muslime als auch Christen kämpften, entstanden war.
Später – und vor allem seit dem 7. Oktober – konnte die Hamas für jeglichen
Gewaltexzess herhalten, denn allen voran Benjamin Netanjahu und seine
Extremisten brauchten den Feind auf der Gegenseite. Dabei berichtete die New
York Times schon im November 2023, dass Israel bereits ein Jahr vor dem Angriff
der Hamas über die Pläne der Extremisten informiert war. Heute spricht ein
Großteil der Welt immer weniger über die Gräueltaten der Hamas, weil sie neben
mehr als 60.000 getöteten Palästinensern (Stand: August 2025) verschwindend
klein aussehen. Die Dunkelziffer liegt mit über 200.000 Toten deutlich höher.
Laut den Zahlen der israelischen Armee selbst handelt es sich bei mindestens 83
Prozent der Todesopfer um Zivilisten. Viele dieser erschütternden Entwicklungen
erinnern an die Antiterrorkriege des Westens, denn auch dort wurde viel
bombardiert, wenig untersucht und umso mehr vertuscht. Das Geschehen in Gaza ist
deshalb nicht von den Kriegen in Afghanistan, Irak und anderswo zu trennen,
sondern muss zusammenhängend betrachtet werden. Nichts, auch nicht das Massaker
des 7. Oktober, rechtfertigt den fortwährenden Genozid an der palästinensischen
Bevölkerung. Es ist nicht nur ein Genozid, der vom israelischen Staat getragen
wird, sondern auch von den Liberalen und den Demokraten westlicher
Gesellschaften. Der britische Soziologe Martin Shaw spricht in diesem Kontext
deshalb von einem »demokratischen Genozid«. Diese präzise Bezeichnung mag für
manche erschütternd klingen, weil sie die Fundamente westlicher Gesellschaften
erschüttert. Doch sie sind Mittäter – und zu ihnen zählen nicht nur Politiker,
die unter anderem Waffenlieferungen genehmigen und den Massenmord seit zwei
Jahren mittragen, sondern auch viele Journalisten, die täglich in kreativster
Manier Wege und Mittel finden, um zu leugnen, zu relativieren und zu
entmenschlichen. Auch das werden wir, die sich dem wahren Kern des Journalismus
verpflichtet sehen, weder vergeben noch vergessen.
Deutlich schlimmer ist allerdings die Demontage der westlichen Idee, an der –
und das könnte manche nun schockieren – mir als Kind afghanischer Geflüchteter
tatsächlich etwas liegt. Österreich und Deutschland waren und sind weiterhin die
Orte, an denen ich lebe. Ich bin Österreicher und verlasse mich auf Gesetz und
Ordnung meines Geburtslandes – meiner Heimat. Als die Sowjets Afghanistan
überfielen, fand mein Vater in den Tiroler Alpen ein neues Zuhause. Meine Kritik
an westlicher Machtpolitik und ihrer Folgen äußere ich als ein-heimischer
Dissident und nicht als ausländischer Scharfmacher. Das sollte offensichtlich
sein, denn es gibt wenige (oder wahrscheinlich gar keine) Länder oder Regionen,
die für mich und meine Familie sonst jemals infrage gekommen wären. Das
politische System in Westeuropa ist natürlich nicht vergleichbar mit autoritären
und totalitären Diktaturen wie China, Russland, dem Iran oder Saudi-Arabien. Ich
bin überzeugt davon, dass der Aufstieg der jeweiligen Regime in diesen Ländern
bedrohlich für unser friedliches Zusammenleben ist. Und selbstverständlich kommt
für mich und viele andere Menschen mit derselben Herkunft auch Afghanistan, das
seit August 2021 wieder von den Taliban regiert wird, nicht infrage. Kurz und
knapp: Der Westen ist trotz seiner zahlreichen Makel weiterhin die beste Option.
Doch er zerstört sich, indem er seinen eigenen Fortschritt zugrunde richtet. Was
bringt ein Internationaler Strafgerichtshof, wenn dort hauptsächlich
afrikanische oder jugoslawische Kriegsverbrecher verurteilt werden, aber keine
amerikanischen oder israelischen? Wie kann man stolz auf die Abschaffung der
Todesstrafe sein, während man anderswo Menschen per Drohnen oder wie zuletzt im
Libanon mittels manipulierter Pager extralegal in die Luft jagt? Warum
publizieren liberale Zeitungen in Deutschland menschenfeindliche Stücke, in
denen der Massenmord an arabischstämmigen Menschen gutgeheißen und das
Aushungern der palästinensischen Bevölkerung in Gaza als »strategisch richtig«
bezeichnet wird? Es gibt viele solcher Fragen, die allesamt berechtigt sind.
Nichts zeigt die hässliche Fratze des Westens mehr als seine eigene Heuchelei –
und deutlicher könnte diese in diesen Tagen kaum noch sein.
20.10.2025 - Wir wollen leben!
Die blinden Flecken des Westens werden immer größer: Egoismus, Eurozentrismus und Rassismus sind stärker denn je, zeigt Emran Feroz in seinem neuen Buch „Wir wollen leben!“. Nichts verdeutlicht dies mehr als der Krieg in Gaza, der zum Sinnbild jener korrumpierten Moralvorstellung geworden ist, die den Nahen Osten und andere Regionen der Welt seit Jahrzehnten heimsucht. Nach den gescheiterten Kriegen in Afghanistan, Irak und anderswo hätte man meinen können, dass die westliche Welt aus ihren Fehlern gelernt hätte. Doch seit Gaza wird täglich deutlich, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Errungenschaften der Aufklärung – Menschenrechte, liberale Demokratie und alles andere – hat für viele Teile der Welt nie gegolten. Der Westen hat alles verraten, wofür er einst angeblich stand.
Das Buch ist eine Intervention. Eine Intervention in einer Zeit, in der ich fast jede Hoffnung verloren habe. Hoffnung für die Menschen in Gaza, in der Ukraine, Afghanistan und anderswo. Hoffnung für unseren Planeten, der von Menschen regiert wird, die ihn willkürlich zerstören. Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben, während immer mehr Gesellschaften sich bekriegen und mit mehr und mehr Waffen, darunter mittlerweile auch autonomen KI-Systemen, die selbst entscheiden, wen es zu töten gilt, beliefern lassen, um einander zu zerstören. Gesellschaften, die besetzen, um andere Gesellschaften auszulöschen. Ich habe aber vor allem Hoffnung in meinen Berufsstand, den Journalismus, verloren. Denn meine Zunft hat versagt. Sie hat es in weiten Teilen nicht geschafft, den israelischen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung des Gazastreifens, den wir alle, so pervers es klingt, im Minutentakt im Livestream erleben, als das zu benennen, was es ist. Nämlich ein grauenvoller Zivilisationsbruch. The point of no return – denn die Welt wird nach dem Ende des Grauens, das dort weiterhin vor sich geht, nicht mehr dieselbe sein. Der vor unseren Augen ablaufende Genozid in Gaza zeigt, dass manche Menschenleben offenbar weniger wertvoll sind als andere. Gaza verdeutlicht uns, dass für Millionen von Menschen die stets hoch gehaltenen Werte der westlichen Welt schlicht und einfach nicht gelten – selbst wenn sie monatelang minutiös dokumentieren, was mit ihnen geschieht, wie sie lebendig verbrannt, ausgehungert oder von Drohnen und Scharfschützen gejagt werden. Und Gaza zeigt uns, der vermeintlich aufgeklärten und fortgeschrittenen Gesellschaft Europas, wie wenig wir von diesen Werten selbst halten, denn unser System – die liberale Demokratie – zerfällt, und wir haben dazu beigetragen.
Tatsächlich war ich einst dummerweise etwas optimistischer. Nach den gescheiterten Antiterrorkriegen der westlichen Welt in Afghanistan, Irak und anderswo dachte ich, dass viele der Verantwortlichen aus ihren Fehlern gelernt hätten. Viel sprach auch damals nicht dafür, doch es gab Szenen, wie jene am Kabuler Flughafen im August 2021, die man nicht leugnen und, so dachte ich zumindest naiverweise, nicht anders deuten konnte. Die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 kosteten fast 3 000 unschuldigen Menschen das Leben. Bis heute gibt es nichts, das diese Gräueltat in irgendeiner Art und Weise rechtfertigen könnte. Eine konservative Schätzung des »Costs of War Project« aus dem Jahr 2021 beziffert die direkten Todesfälle infolge der Post-9/11-Kriege in Afrika, Nahost und Asien auf etwa 900.000 bis 940.000, davon über 430.000 Zivilisten. Andere Todeszahlen und Dunkelziffern liegen deutlich höher. Sie sind realistischer und wahrscheinlicher, unter anderem auch, weil viele der Opfer nie richtig gezählt wurden. Auch die Gewalt, die gegen all diese Menschen jahrzehntelang ausgeübt wurde, um sie im Kollektiv zu bestrafen, lässt sich durch nichts rechtfertigen. »Afghanen sind nicht so billig«, sagte mir einmal ein Anwalt, der die Opfer eines NATO-Luftangriffs vertrat. Er erzählte von Familien, die für ihre ermordeten Familienmitglieder von der Bundeswehr mit einigen hundert Dollar »entschädigt« worden waren. Wie undenkbar doch so etwas in Deutschland sein würde, dachte ich mir damals. Und wie wenig jene Menschen, die so hießen und aussahen wie ich, wert waren. Dass die verantwortlichen Akteure, demokratisch gewählte Staatschefs, mit ihren Verbrechen dennoch davongekommen sind, hat die westliche Werteordnung nachhaltig massiv beschädigt. 2022 kam Agnés Callamard, die Generalsekretärin von Amnesty International, zum Schluss, dass der globale Abbau des Völkerrechts im 21. Jahrhundert mit dem »War on Terror« der Amerikaner in Afghanistan und Irak begann. Erst dadurch merkten die Despoten der Welt, dass sie mit praktisch allem davonkommen können. Die Ermordung Jamal Khashoggis durch den saudischen Kronprinz Mohammed bin Salman. Russlands illegale Invasion der Ukraine.
Die Verfolgung der muslimischen Uiguren in China. Schon damals sprach Callamard auch von der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete. Seit dem 7. Oktober 2023 spricht sie explizit von Genozid – und zeigt wenig Verständnis für jene, die das, was tagtäglich vor unseren Augen geschieht, leugnen. Es gibt nichts, das die Gräueltaten der Hamas und die Ermordung von 1200 Menschen rechtfertigen könnte. Das sage ich nicht nur aufgrund einer eindeutigen Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten, sondern auch als jemand, der einen muslimischen Hintergrund hat und sich mit sogenannten militant-islamistischen Gruppen (aber: wann sprechen wir endlich auch von militanten Christianisten und Judaisten?) auskennt. Die Hamas ist eine brutale Gruppe von Mördern, die jegliches Widerstandsrecht stets für ihre eigene Agenda missbraucht und instrumentalisiert hat. Islamische Regeln, die es auch im Krieg gibt, etwa gegenüber Frauen, Kindern oder selbst der Natur, werden von ihr ignoriert. Selbiges gilt im Übrigen auch für andere Gruppierungen wie Al-Qaida oder die Taliban. Doch die Hamas ist nicht von heute auf morgen entstanden – und sie ist deutlich jünger als die Palästinafrage. Als die Vorläufer der Taliban, die Mudschaheddin-Rebellen, erstmals in Afghanistan auftauchten, war man im Westen froh darüber und unterstützte sie. Warum? Weil man in Zeiten des Kalten Krieges mit der Sowjetunion sowie der kommunistischen Diktatur in Kabul einen gemeinsamen Feind hatte. Kriegsverbrechen der Mudschaheddin wurden hier und da benannt, etwa vom damaligen UN-Sonderbeauftragten für Menschen-rechte in Afghanistan, dem österreichischen Juristen Felix Ermacora. In einem ausführlichen Bericht schrieb Ermacora allerdings auch, dass die Gewalt der Rebellen in keiner Weise vergleichbar sei mit der genozidalen Kriegsführung der Sowjets im Afghanistan der 1980er-Jahre. Zur Erinnerung, weil vieles davon heute verdrängt und vergessen scheint: Die Rote Armee löschte ganze Dörfer aus, ließ in Kabul einen weitreichenden Folterapparat errichten und sprengte Kindern mit als Spielzeug getarnten Minen die Gliedmaßen weg. Im Fall der Beziehung zwischen der Hamas und Israel war man zuerst froh über die neue, militante Kraft, die neben der deutlich populäreren, marxistischen PLO, unter deren Flagge sowohl Muslime als auch Christen kämpften, entstanden war.
Später – und vor allem seit dem 7. Oktober – konnte die Hamas für jeglichen Gewaltexzess herhalten, denn allen voran Benjamin Netanjahu und seine Extremisten brauchten den Feind auf der Gegenseite. Dabei berichtete die New York Times schon im November 2023, dass Israel bereits ein Jahr vor dem Angriff der Hamas über die Pläne der Extremisten informiert war. Heute spricht ein Großteil der Welt immer weniger über die Gräueltaten der Hamas, weil sie neben mehr als 60.000 getöteten Palästinensern (Stand: August 2025) verschwindend klein aussehen. Die Dunkelziffer liegt mit über 200.000 Toten deutlich höher. Laut den Zahlen der israelischen Armee selbst handelt es sich bei mindestens 83 Prozent der Todesopfer um Zivilisten. Viele dieser erschütternden Entwicklungen erinnern an die Antiterrorkriege des Westens, denn auch dort wurde viel bombardiert, wenig untersucht und umso mehr vertuscht. Das Geschehen in Gaza ist deshalb nicht von den Kriegen in Afghanistan, Irak und anderswo zu trennen, sondern muss zusammenhängend betrachtet werden. Nichts, auch nicht das Massaker des 7. Oktober, rechtfertigt den fortwährenden Genozid an der palästinensischen Bevölkerung. Es ist nicht nur ein Genozid, der vom israelischen Staat getragen wird, sondern auch von den Liberalen und den Demokraten westlicher Gesellschaften. Der britische Soziologe Martin Shaw spricht in diesem Kontext deshalb von einem »demokratischen Genozid«. Diese präzise Bezeichnung mag für manche erschütternd klingen, weil sie die Fundamente westlicher Gesellschaften erschüttert. Doch sie sind Mittäter – und zu ihnen zählen nicht nur Politiker, die unter anderem Waffenlieferungen genehmigen und den Massenmord seit zwei Jahren mittragen, sondern auch viele Journalisten, die täglich in kreativster Manier Wege und Mittel finden, um zu leugnen, zu relativieren und zu entmenschlichen. Auch das werden wir, die sich dem wahren Kern des Journalismus verpflichtet sehen, weder vergeben noch vergessen.
Deutlich schlimmer ist allerdings die Demontage der westlichen Idee, an der – und das könnte manche nun schockieren – mir als Kind afghanischer Geflüchteter tatsächlich etwas liegt. Österreich und Deutschland waren und sind weiterhin die Orte, an denen ich lebe. Ich bin Österreicher und verlasse mich auf Gesetz und Ordnung meines Geburtslandes – meiner Heimat. Als die Sowjets Afghanistan überfielen, fand mein Vater in den Tiroler Alpen ein neues Zuhause. Meine Kritik an westlicher Machtpolitik und ihrer Folgen äußere ich als ein-heimischer Dissident und nicht als ausländischer Scharfmacher. Das sollte offensichtlich sein, denn es gibt wenige (oder wahrscheinlich gar keine) Länder oder Regionen, die für mich und meine Familie sonst jemals infrage gekommen wären. Das politische System in Westeuropa ist natürlich nicht vergleichbar mit autoritären und totalitären Diktaturen wie China, Russland, dem Iran oder Saudi-Arabien. Ich bin überzeugt davon, dass der Aufstieg der jeweiligen Regime in diesen Ländern bedrohlich für unser friedliches Zusammenleben ist. Und selbstverständlich kommt für mich und viele andere Menschen mit derselben Herkunft auch Afghanistan, das seit August 2021 wieder von den Taliban regiert wird, nicht infrage. Kurz und knapp: Der Westen ist trotz seiner zahlreichen Makel weiterhin die beste Option. Doch er zerstört sich, indem er seinen eigenen Fortschritt zugrunde richtet. Was bringt ein Internationaler Strafgerichtshof, wenn dort hauptsächlich afrikanische oder jugoslawische Kriegsverbrecher verurteilt werden, aber keine amerikanischen oder israelischen? Wie kann man stolz auf die Abschaffung der Todesstrafe sein, während man anderswo Menschen per Drohnen oder wie zuletzt im Libanon mittels manipulierter Pager extralegal in die Luft jagt? Warum publizieren liberale Zeitungen in Deutschland menschenfeindliche Stücke, in denen der Massenmord an arabischstämmigen Menschen gutgeheißen und das Aushungern der palästinensischen Bevölkerung in Gaza als »strategisch richtig« bezeichnet wird? Es gibt viele solcher Fragen, die allesamt berechtigt sind. Nichts zeigt die hässliche Fratze des Westens mehr als seine eigene Heuchelei – und deutlicher könnte diese in diesen Tagen kaum noch sein.
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