13.10.2025 - Völkermord und die systematische Spaltung des Bewusstseins
Rainer Mausfeld:
Der Westen verdankt seine hegemoniale Position in der Welt der
Überlegenheit seiner militärischen und ökonomischen Gewalt. Rainer Mausfeld
beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit gegenwärtigen Kriegen und Konflikten
und belegt anhand von Studien aus der vergleichenden Ökonomie, dass die
privilegierte Lebensform des Westens wesentlich auf der Ausbeutung schwächerer
Länder beruht. Die schwere Krise des Westens lässt deutlich werden, dass die vom
Westen geschaffenen ideologischen Scheinwelten mit den auf eine Multipolarität
gerichteten geopolitischen Realitäten nicht mehr in Einklang zu bringen sind.
Statt auf diplomatischen Wegen einen Interessenausgleich zwischen Staaten zu
suchen, reagiert der Westen auf diese Herausforderung mit einer Steigerung
seiner Bereitschaft zu organisierter Gewalt. Aus Angst um einen Machtverlust
wechseln seine politischen Eliten in den Endspielmodus blinder
Zerstörungsbereitschaft. Sie riskieren lieber eine nukleare Katastrophe, als
dass sie eine Begrenzung ihres hegemonialen Anspruchs hinnehmen.
Es ist geradezu ein charakteristisches Merkmal des vom Westen errichteten
ideologischen Denkraumes, dass er eine eigenartige und scheinbar paradoxe
Gleichzeitigkeit von Wissen und Nichtwissen ermöglicht. Es ist bekannt, dass die
USA »die kriegerischste Nation der Weltgeschichte« sind. Es ist bekannt, dass
sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch Angriffe auf andere Länder für
den Tod von Abermillionen Zivilisten verantwortlich sind. Es ist bekannt, dass
die USA allein in dem auf einer offenkundigen Lüge aufbauenden Irakkrieg ab 2003
bis zu einer Million Zivilisten umgebracht haben. Zugleich sind diese leicht
nachlesbaren Fakten im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. […] Es ist
bekannt, dass Israel, so Amnesty International in seinem Jahresbericht 2025, vor
den Augen der Welt einen »live-streamed genocide« begeht und dabei gezielt
Zivilisten, Säuglinge, Kinder und Frauen erschießt, Krankenhäuser, Schulen und
alle zivile Infrastruktur zerstört und den dort lebenden Palästinensern den
Zugang zu Wasser, Nahrung und Medikamentenverwehrt. […] All dies ist wie nie
zuvor bei einem Völkermord im Überfluss dokumentiert. Zugleich sind alle diese
Fakten, mit denen die Öffentlichkeit täglich massenmedial konfrontiert wird,
nicht bekannt. […] Vielmehr herrscht immer noch in weiten Teilen der
Öffentlichkeit die Überzeugung vor, dass Israel bei der Zerstörung Gazas und der
Zerstörung der gesamten Lebensgrundlage der Palästinenser allein aus seinem
Recht auf Selbstverteidigung handele und sich dabei im Großen und Ganzen an das
Völkerrecht halte. Und dass damit auch die massive deutsche militärische
Unterstützung für Israels »Gaza-Offensive«, wie der Vernichtungskrieg gegen die
Palästinenser im offiziellen westlichen Sprachgebrauch genannt wird, im
Wesentlichen gerechtfertigt sei. […] Deutschland trägt also, ebenso wie die USA,
durch Finanzhilfe, Waffenlieferungen und durch eine ausdrückliche politische
Legitimierung eine faktische Mitschuld an diesem Völkermord. [...]
All diese Fakten zur bedingungslosen deutschen Unterstützung israelischer
Kriegsverbrechen und Massenmorde sind bekannt – und sie sind zugleich nicht
bekannt. Die mediale Indoktrination sorgt zuverlässig dafür, dass die
Bevölkerung aus bekannten elementaren Fakten keine ‚falschen‘ Schlussfolgerungen
zieht.
Dieses ›Nichtwissen‹, das jedoch tatsächlich eine Verleugnung des Gewussten
oder ein Nicht-Wissen-Wollen ist, bietet, wie aus der Geschichte bekannt, den
psychodynamischen Vorteil, dass man auch hinterher, wenn die Fakten nicht mehr
zu leugnen sind, das eigene Selbstbild des moralisch Guten aufrechterhalten
kann. Schließlich sei man selbstverständlich immer schon dagegen gewesen, habe
aber von dem Ausmaß und der Qualität dieser »Selbstverteidigung« wirklich nichts
wissen können.
Das Muster der Selbstentlastung von einer Verantwortung für begangene
Verbrechen, für die man moralisch eine eindeutige Mitverantwortung trägt, ist in
der Geschichte immer dasselbe. Auch bei Gaza wird es wieder so sein. Im
Nachhinein werden besonders das stets nach Anerkennung durch Autoritäten
strebende und gehorsamsbereite Bildungsbürgertum – dazu gehören, bis auf sehr
wenige Ausnahmen, auch die sogenannten intellektuellen Schichten – sowie das
übrige selbstgerechte Milieu wieder in erstickender Selbstzufriedenheit
behaupten, dass an ihrer moralischen Festigkeit und an ihrem
unmissverständlichen Widerstand gegen jede Form von Völkermord
selbstverständlich nie Zweifel hätten bestehen können. Ein Selbstbetrug, mit dem
sie sich ihrer Zugehörigkeit zu ›den wesenhaft Guten‹ zu versichern suchen. Die
Mehrheit wird einfach in bewährter Weise ihr moralisches Versagen mit dem Mantel
des Schweigens zudecken. Innerhalb des ideologischen Gewölbes des Westens bleibt
die Welt also unerschütterlich in Ordnung.
Dass gerade das Bildungsbürgertum verstärkt zu einer moralischen Heuchelei
neigt, ist keineswegs überraschend. Es hat seiner Beschaffenheit nach am
längsten alle Sozialisations- und damit Indoktrinationsinstanzen des Staates
durchlaufen. In seiner historischen Entwicklung hat es höchst ausdifferenzierte
Mechanismen der Rechtfertigung einer ›moralischen Entkopplung‹ deklarierter
Normen vom tatsächlichen eigenen Verhalten entwickelt – eine Art innerer
doppelter Buchführung. Das Bildungsbürgertum hat stets in besonderer Weise
verstanden, sich selbst davon zu überzeugen, dass ethische Standards in einem
bestimmten Kontext nicht für eigenes Handeln gelten. […] Das vom Westen
errichtete und gegen die tatsächlichen Realitäten hermetisch abgeschlossene
ideologische Gewölbe führt zwangsläufig zu einer Abspaltung von Gefühlen und zu
einer Spaltung des Bewusstseins. Das ist machttechnisch von großem Vorteil,
denn, wie Noam Chomsky feststellt: »Die allgemeine Bevölkerung weiß nicht, was
passiert, und sie weiß nicht einmal, dass sie es nicht weiß.« Erst durch eine
solche systematisch erzeugte Spaltung kann die Stabilität des ideologischen
Gewölbes und damit die Stabilität des westlichen Machtgefüges gewährleistet
werden.
13.10.2025 - Völkermord und die systematische Spaltung des Bewusstseins
Der Westen verdankt seine hegemoniale Position in der Welt der Überlegenheit seiner militärischen und ökonomischen Gewalt. Rainer Mausfeld beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit gegenwärtigen Kriegen und Konflikten und belegt anhand von Studien aus der vergleichenden Ökonomie, dass die privilegierte Lebensform des Westens wesentlich auf der Ausbeutung schwächerer Länder beruht. Die schwere Krise des Westens lässt deutlich werden, dass die vom Westen geschaffenen ideologischen Scheinwelten mit den auf eine Multipolarität gerichteten geopolitischen Realitäten nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Statt auf diplomatischen Wegen einen Interessenausgleich zwischen Staaten zu suchen, reagiert der Westen auf diese Herausforderung mit einer Steigerung seiner Bereitschaft zu organisierter Gewalt. Aus Angst um einen Machtverlust wechseln seine politischen Eliten in den Endspielmodus blinder Zerstörungsbereitschaft. Sie riskieren lieber eine nukleare Katastrophe, als dass sie eine Begrenzung ihres hegemonialen Anspruchs hinnehmen.
Es ist geradezu ein charakteristisches Merkmal des vom Westen errichteten ideologischen Denkraumes, dass er eine eigenartige und scheinbar paradoxe Gleichzeitigkeit von Wissen und Nichtwissen ermöglicht. Es ist bekannt, dass die USA »die kriegerischste Nation der Weltgeschichte« sind. Es ist bekannt, dass sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch Angriffe auf andere Länder für den Tod von Abermillionen Zivilisten verantwortlich sind. Es ist bekannt, dass die USA allein in dem auf einer offenkundigen Lüge aufbauenden Irakkrieg ab 2003 bis zu einer Million Zivilisten umgebracht haben. Zugleich sind diese leicht nachlesbaren Fakten im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. […]
Es ist bekannt, dass Israel, so Amnesty International in seinem Jahresbericht 2025, vor den Augen der Welt einen »live-streamed genocide« begeht und dabei gezielt Zivilisten, Säuglinge, Kinder und Frauen erschießt, Krankenhäuser, Schulen und alle zivile Infrastruktur zerstört und den dort lebenden Palästinensern den Zugang zu Wasser, Nahrung und Medikamentenverwehrt. […] All dies ist wie nie zuvor bei einem Völkermord im Überfluss dokumentiert. Zugleich sind alle diese Fakten, mit denen die Öffentlichkeit täglich massenmedial konfrontiert wird, nicht bekannt. […] Vielmehr herrscht immer noch in weiten Teilen der Öffentlichkeit die Überzeugung vor, dass Israel bei der Zerstörung Gazas und der Zerstörung der gesamten Lebensgrundlage der Palästinenser allein aus seinem Recht auf Selbstverteidigung handele und sich dabei im Großen und Ganzen an das Völkerrecht halte. Und dass damit auch die massive deutsche militärische Unterstützung für Israels »Gaza-Offensive«, wie der Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser im offiziellen westlichen Sprachgebrauch genannt wird, im Wesentlichen gerechtfertigt sei. […] Deutschland trägt also, ebenso wie die USA, durch Finanzhilfe, Waffenlieferungen und durch eine ausdrückliche politische Legitimierung eine faktische Mitschuld an diesem Völkermord. [...]
All diese Fakten zur bedingungslosen deutschen Unterstützung israelischer Kriegsverbrechen und Massenmorde sind bekannt – und sie sind zugleich nicht bekannt. Die mediale Indoktrination sorgt zuverlässig dafür, dass die Bevölkerung aus bekannten elementaren Fakten keine ‚falschen‘ Schlussfolgerungen zieht.
Dieses ›Nichtwissen‹, das jedoch tatsächlich eine Verleugnung des Gewussten oder ein Nicht-Wissen-Wollen ist, bietet, wie aus der Geschichte bekannt, den psychodynamischen Vorteil, dass man auch hinterher, wenn die Fakten nicht mehr zu leugnen sind, das eigene Selbstbild des moralisch Guten aufrechterhalten kann. Schließlich sei man selbstverständlich immer schon dagegen gewesen, habe aber von dem Ausmaß und der Qualität dieser »Selbstverteidigung« wirklich nichts wissen können.
Das Muster der Selbstentlastung von einer Verantwortung für begangene Verbrechen, für die man moralisch eine eindeutige Mitverantwortung trägt, ist in der Geschichte immer dasselbe. Auch bei Gaza wird es wieder so sein. Im Nachhinein werden besonders das stets nach Anerkennung durch Autoritäten strebende und gehorsamsbereite Bildungsbürgertum – dazu gehören, bis auf sehr wenige Ausnahmen, auch die sogenannten intellektuellen Schichten – sowie das übrige selbstgerechte Milieu wieder in erstickender Selbstzufriedenheit behaupten, dass an ihrer moralischen Festigkeit und an ihrem unmissverständlichen Widerstand gegen jede Form von Völkermord selbstverständlich nie Zweifel hätten bestehen können. Ein Selbstbetrug, mit dem sie sich ihrer Zugehörigkeit zu ›den wesenhaft Guten‹ zu versichern suchen. Die Mehrheit wird einfach in bewährter Weise ihr moralisches Versagen mit dem Mantel des Schweigens zudecken. Innerhalb des ideologischen Gewölbes des Westens bleibt die Welt also unerschütterlich in Ordnung.
Dass gerade das Bildungsbürgertum verstärkt zu einer moralischen Heuchelei neigt, ist keineswegs überraschend. Es hat seiner Beschaffenheit nach am längsten alle Sozialisations- und damit Indoktrinationsinstanzen des Staates durchlaufen. In seiner historischen Entwicklung hat es höchst ausdifferenzierte Mechanismen der Rechtfertigung einer ›moralischen Entkopplung‹ deklarierter Normen vom tatsächlichen eigenen Verhalten entwickelt – eine Art innerer doppelter Buchführung. Das Bildungsbürgertum hat stets in besonderer Weise verstanden, sich selbst davon zu überzeugen, dass ethische Standards in einem bestimmten Kontext nicht für eigenes Handeln gelten. […]
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Autoren von "Völkermord und die systematische Spaltung des Bewusstseins"
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