12.07.2025 - Die USA und die Zusicherungen von 1990, die NATO nicht nach Osten zu erweitern: Erhellendes zu einem alten Problem
Marc Trachtenberg:
„Krieg dem Kriege“ – vom Titel dieses Gedichtes des Satirikers Kurt
Tucholsky bleibt die westliche Ukraine-Politik uninspiriert. Das Ergebnis ist
bekannt: Seit über drei Jahren tobt der Krieg mit Hunderttausenden von
getöteten, verwundeten und traumatisierten Soldaten auf beiden Seiten der Front.
Die vorliegende „Chronik eines angekündigten Krieges“ greift Ereignisse und
Aussagen zum Krieg auf, die den Zeitraum vom Anfang 2022 bis zum Frühjahr 2025
umfassen, und enthält einen erhellenden Essay des US-amerikanischen Historikers
Marc Trachtenberg zu den Hintergründen der NATO-Osterweiterung.
Mehr als dreißig Jahre sind vergangen, seit US-Außenminister James Baker dem
sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow im Februar 1990 versicherte, dass
der Zuständigkeitsbereich der NATO »keinen Zentimeter nach Osten« ausgedehnt
würde, wenn Deutschland nach der Wiedervereinigung Teil der
Nordatlantikpakt-Organisation und die Vereinigten Staaten in diesem Land
»präsent« blieben. Später wurde das NATO-Gebiet natürlich nicht nur auf die
ehemaligen Verbündeten der UdSSR in Osteuropa, sondern auch auf einige ehemalige
Sowjetrepubliken ausgedehnt, und viele Russen behaupten, dass die NATO-Mächte
mit der Aufnahme dieser neuen Mitglieder gerade die Versprechen gebrochen
hätten, die Baker und andere hohe westliche Beamte am Ende des Kalten Krieges
abgegeben hatten. Die Amerikaner hatten, wie 2008 Gorbatschow selbst klar gesagt
hat, »versprochen, dass die NATO nach dem Kalten Krieg sich nicht über die
Grenzen Deutschlands hinausbewegen würde, aber jetzt ist halb Mittel- und
Osteuropa Mitglied, was ist also aus ihren Versprechen geworden? Das zeigt, dass
man ihnen nicht trauen kann.«
Was ist von diesen Anschuldigungen zu halten? Jack Matlock, der
US-Botschafter in Moskau im Jahr 1990, war der Ansicht, dass die Russen in
diesem Fall Recht hätten. Seiner Ansicht nach hatte man Gorbatschow
»grundsätzliche Zusicherungen« gegeben, dass, »wenn ein vereinigtes Deutschland
in der NATO bleiben könnte, sich die NATO nicht nach Osten bewegen würde«.
Robert Gates, der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater des
US-Präsidenten, vertrat ebenfalls die Ansicht, »Gorbatschow und andere« seien
»zu der Annahme verleitet« worden, dass eine »NATO-Osterweiterung« nicht
stattfinden würde, »zumindest nicht in absehbarer Zeit«. Und eine Reihe von
Wissenschaftlern ist zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen.
Der US-Politikwissenschaftler Joshua Shifrinson versuchte in einem wichtigen
Artikel, der 2016 in der vom Massachusetts Institute of Technology
herausgegebenen Zeitschrift International Security veröffentlicht wurde, zu
zeigen, dass »die russischen Behauptungen eines ›gebrochenen Versprechens‹ in
Bezug auf die NATO-Erweiterung berechtigt sind« – dass nämlich »während der
diplomatischen Verhandlungen rund um die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990
die Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion wiederholt informelle
Zusicherungen gegen eine künftige Expansion der NATO nach Osteuropa unterbreitet
haben«.
Swetlana Sawranskaja und Tom Blanton verwiesen unter Bezug auf ein viel
zitiertes elektronisches Briefing-Book, das vom National Security Archive 2017
ins Internet gestellt wurde, auf eine »Kaskade von Zusicherungen«, die den
Sowjets 1990 gegeben worden seien, und kamen zu dem Schluss, dass »spätere
sowjetische und russische Beschwerden darüber, dass man in Bezug auf die
NATO-Erweiterung in die Irre geführt wurde«, von den Beweisen gestützt würden.
Und Mary Sarotte, Autorin einer Reihe von wichtigen Büchern und einschlägigen
Artikeln, die sich mit diesen Fragen befassen, stimmt dem zumindest zur Hälfte
zu. Sie hat nämlich die Darstellung ausdrücklich zurückgewiesen, dass die
damaligen Zusicherungen von US-Außenminister James Baker, dem deutschen
Bundeskanzler Helmut Kohl und dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher
gegenüber den sowjetischen Führern, die NATO werde sich nicht nach Osten
ausdehnen, nicht für Osteuropa gegolten, sondern sich lediglich auf
Ostdeutschland bezogen hätten. »Bei ihrem Besuch in Moskau im Februar 1990«, so
Sarotte, »haben alle drei wiederholt bekräftigt, dass sich die NATO überhaupt
nicht nach Osten bewegen würde.« Ich schreibe aber zugleich »zur Hälfte
zustimmend«, weil Mary Sarotte der Meinung ist, dass diese Beteuerungen kein
Versprechen darstellten, da sie nie schriftlich bestätigt worden seien:
Gorbatschow, schreibt sie, »hat den Westen nie dazu gebracht, zu versprechen,
die Grenzen der NATO einzufrieren«. Dennoch glaubt sie, dass man den Russen
nicht wirklich vorwerfen könne, dass sie gedacht hätten, es sei ein Versprechen
darüber abgegeben worden. Die meisten westlichen Akademiker und ehemaligen
Beamten waren jedoch nicht bereit, so weit zu gehen. Baker selbst beharrte 1997
etwa darauf, dass er »nie die Absicht gehabt habe, die Aufnahme neuer
NATO-Mitglieder auszuschließen«, dass »der Vorschlag zum Zuständigkeitsbereich
der NATO sich nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen habe« und dass
selbst dieser Vorschlag »rasch zurückgezogen worden sei«. In einem Interview mit
CNN im Jahr 2009 legte Baker dar, was in dieser Hinsicht inzwischen zur
US-amerikanischen Standardsichtweise bezüglich der »Frage der Erweiterung der
NATO« geworden war: »Wissen Sie, es gab eine Diskussion darüber, ob das
vereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein würde, und das war die einzige
Diskussion, die wir je hatten. Und die Sowjets unterzeichneten einen Vertrag, in
dem sie anerkannten, dass das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein
würde. Ich verstehe also nicht, wie sie auf die Idee kommen können, dass wir
ihnen irgendwie versprochen haben, dass es keine Erweiterung der NATO geben
würde. Es war dabei nie die Rede von etwas anderem als der DDR.«
Viele andere ehemalige Beamte teilen diese Ansicht. Philip Zelikow, der sich
1990 im Stab des Nationalen Sicherheitsrates (NSC) der USA mit diesen Fragen
befasst hatte, und Rodric Braithwaite, der damalige britische Botschafter in
Moskau, sind gute Beispiele dafür, und eine Reihe ehemaliger deutscher Beamter,
darunter auch Genscher selbst, äußerten später ähnliche Ansichten. Sogar Jack
Matlock, der frühere US-Botschafter in der UdSSR, hat bei einigen Gelegenheiten
gesagt, dass sowohl Baker als auch Genscher bei ihren Zusicherungen nur an das
damalige ostdeutsche Gebiet gedacht hätten.
Und diese allgemeine Sichtweise wurde von einer Reihe von Wissenschaftlern
bestätigt, insbesondere von Mark Kramer (USA), Hannes Adomeit (Deutschland) und
Kristina Spohr (Deutschland – USA). Kramer schrieb beispielsweise in einem
wichtigen Beitrag aus dem Jahr 2009 mit dem Titel »Der Mythos einer
NATO-Nichterweiterungszusage an Russland«, dass die »Dokumente aller Seiten
Zelikows Argumentation voll und ganz bestätigen«, dass die »Vereinigten Staaten
keinerlei Verpflichtungen hinsichtlich der künftigen Gebietsumrisse der NATO
eingegangen sind«, abgesehen von »einigen speziellen Punkten in Bezug auf
Ostdeutschland«, die im Zwei-plus-vier-Vertrag vom September 1990 über den
Status des wiedervereinigten deutschen Staates festgeschrieben worden seien. Die
Quellen würden somit »die Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten oder andere
westliche Länder jemals zugesagt hätten, die NATO nicht über Deutschland hinaus
zu erweitern«, widerlegen.
Adomeit stimmt dem zu: »Die Behauptung, die westlichen Staats- und
Regierungschefs hätten feste Zusagen gemacht, dass die NATO sich nicht nach
Osten ausdehnen würde – also über das Gebiet der ehemaligen DDR hinaus –, ist
ein Mythos, der allerdings nach wie vor schwer zu entkräften ist, egal wie viele
Beweise zu dessen Widerlegung angeführt werden können.« Auch Kristina Spohr hält
die Behauptung, bei den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung im Jahr
1990 seien Garantien gegeben worden, »die eine Expansion der NATO nach Osteuropa
ausschließen«, für »völlig unbegründet«. Sie betont, dass nie »rechtlich
verbindliche« Zusagen gemacht worden seien, die eine Ausdehnung der
Zuständigkeit der NATO auf Osteuropa ausschlössen. »Wenn de jure keine Zusagen
gemacht wurden«, schreibt sie, »konnten auch keine Zusagen gebrochen oder
›verraten‹ werden.« Wer hat also Recht? Die Frage ist es wert, detailliert
untersucht zu werden, weil die Art und Weise, wie sie beantwortet wird, eine
direkte Auswirkung auf bestimmte, viel umfassendere historische Probleme hat –
vor allem auf die Frage, wie die Welt nach dem Kalten Krieg zu dem wurde, was
sie heute ist. Das Thema bezieht sich auch auf bestimmte grundlegende Aspekte
der Theorie der Internationalen Beziehungen, insbesondere auf die Frage, ob der
Kampf um die Macht im Mittelpunkt des internationalen politischen Lebens steht.
Die Untersuchung dieses Themas kann uns nicht zuletzt etwas Grundlegendes über
die Funktionsweise von Diplomatie sagen, insbesondere über die Rolle, die dabei
Zusicherungen, Versprechungen und Verpflichtungen in den zwischen-staatlichen
Beziehungen spielen.
Aber vielleicht ist der Hauptgrund, warum dieses Thema es wert ist,
untersucht zu werden – und auch der Hauptgrund, warum dadurch weiterhin so viele
Debatten ausgelöst werden –, derjenige, dass sich dieses Thema direkt auf
bestimmte grundlegende politische Fragen bezieht. Wie diese dann beantwortet
werden, hat einen ganz offensichtlichen Einfluss darauf, wie wir über die
NATO-Erweiterung und ganz allgemein über die amerikanische Politik nach dem
Kalten Krieg denken sollten.
Die historische Analyse kann als Ausgangspunkt für Überlegungen darüber
dienen, ob nicht alternative Vorgehensweisen hätten verfolgt werden sollen, die
mehr mit dem übereinstimmen, was James Baker im Februar 1990 als
US-Außenminister zu versprechen schien – und sogar auch als Ansatz für
Überlegungen darüber, wie die amerikanisch-russischen Beziehungen heute
gestaltet werden sollten.
Angesichts der Bedeutung dieses Themas und der zahlreichen Arbeiten, die
insbesondere in den letzten Jahren dazu verfasst wurden, ist es an der Zeit,
einen Schritt zurückzutreten und einen neuen Blick auf die Debatte zu werfen.
Das Ziel dieser Arbeit ist jedoch nicht nur eine Zusammenfassung dessen, was
verschiedene Wissenschaftler und andere zu diesem Thema gesagt haben. Vielmehr
geht es darum, die Argumente dieser Autoren zu bewerten, indem zunächst gezeigt
wird, wie weitreichende Auslegungsfragen auf relativ eng gefassten historischen
Behauptungen beruhen, um dann diese Behauptungen im Lichte der zu ihrer
Untermauerung vorgebrachten Beweise zu untersuchen. Bei dieser Methode ergeben
sich die Antworten nicht aus einer direkten Prüfung der Beweise, sondern eher
auf indirekte Weise, durch eine Analyse von Argumenten, die andere Experten und
Zeitzeugen vorgebracht haben. Dies ist meines Erachtens ein wirksamer Weg, um zu
grundlegenden Schlussfolgerungen bei jedem wichtigen historischen Thema zu
gelangen.
Daher soll hier auf die drei Hauptargumente eingegangen werden, die von den
Kritikern der russischen Sichtweise vorgebracht worden sind. Erstens behaupten
sie, dass die Zusicherungen nur für Ostdeutschland und nicht für ganz Osteuropa
galten und dass selbst diese Zusicherungen durch im Jahr 1990 mit der UdSSR
ausgearbeitete Vereinbarungen ersetzt worden seien. Zweitens behaupten sie, dass
die Zusicherungen in jedem Fall rechtlich nicht bindend und somit überhaupt
nicht verbindlich gewesen seien, da sie nicht in einem förmlichen,
unterzeichneten Abkommen enthalten wären. Und drittens beharren sie darauf, dass
– welchen Eindruck die Russen auch immer von dem gewonnen hätten, was ihnen
gesagt worden sei – die westlichen Staats- und Regierungschefs nicht absichtlich
versucht hätten, sie in die Irre zu führen.
Autoren von "Die USA und die Zusicherungen von 1990, die NATO nicht nach Osten zu erweitern: Erhellendes zu einem alten Problem"
12.07.2025 - Die USA und die Zusicherungen von 1990, die NATO nicht nach Osten zu erweitern: Erhellendes zu einem alten Problem
„Krieg dem Kriege“ – vom Titel dieses Gedichtes des Satirikers Kurt Tucholsky bleibt die westliche Ukraine-Politik uninspiriert. Das Ergebnis ist bekannt: Seit über drei Jahren tobt der Krieg mit Hunderttausenden von getöteten, verwundeten und traumatisierten Soldaten auf beiden Seiten der Front. Die vorliegende „Chronik eines angekündigten Krieges“ greift Ereignisse und Aussagen zum Krieg auf, die den Zeitraum vom Anfang 2022 bis zum Frühjahr 2025 umfassen, und enthält einen erhellenden Essay des US-amerikanischen Historikers Marc Trachtenberg zu den Hintergründen der NATO-Osterweiterung.
Mehr als dreißig Jahre sind vergangen, seit US-Außenminister James Baker dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow im Februar 1990 versicherte, dass der Zuständigkeitsbereich der NATO »keinen Zentimeter nach Osten« ausgedehnt würde, wenn Deutschland nach der Wiedervereinigung Teil der Nordatlantikpakt-Organisation und die Vereinigten Staaten in diesem Land »präsent« blieben. Später wurde das NATO-Gebiet natürlich nicht nur auf die ehemaligen Verbündeten der UdSSR in Osteuropa, sondern auch auf einige ehemalige Sowjetrepubliken ausgedehnt, und viele Russen behaupten, dass die NATO-Mächte mit der Aufnahme dieser neuen Mitglieder gerade die Versprechen gebrochen hätten, die Baker und andere hohe westliche Beamte am Ende des Kalten Krieges abgegeben hatten. Die Amerikaner hatten, wie 2008 Gorbatschow selbst klar gesagt hat, »versprochen, dass die NATO nach dem Kalten Krieg sich nicht über die Grenzen Deutschlands hinausbewegen würde, aber jetzt ist halb Mittel- und Osteuropa Mitglied, was ist also aus ihren Versprechen geworden? Das zeigt, dass man ihnen nicht trauen kann.«
Was ist von diesen Anschuldigungen zu halten?
Jack Matlock, der US-Botschafter in Moskau im Jahr 1990, war der Ansicht, dass die Russen in diesem Fall Recht hätten. Seiner Ansicht nach hatte man Gorbatschow »grundsätzliche Zusicherungen« gegeben, dass, »wenn ein vereinigtes Deutschland in der NATO bleiben könnte, sich die NATO nicht nach Osten bewegen würde«.
Robert Gates, der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, vertrat ebenfalls die Ansicht, »Gorbatschow und andere« seien »zu der Annahme verleitet« worden, dass eine »NATO-Osterweiterung« nicht stattfinden würde, »zumindest nicht in absehbarer Zeit«. Und eine Reihe von Wissenschaftlern ist zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen.
Der US-Politikwissenschaftler Joshua Shifrinson versuchte in einem wichtigen Artikel, der 2016 in der vom Massachusetts Institute of Technology herausgegebenen Zeitschrift International Security veröffentlicht wurde, zu zeigen, dass »die russischen Behauptungen eines ›gebrochenen Versprechens‹ in Bezug auf die NATO-Erweiterung berechtigt sind« – dass nämlich »während der diplomatischen Verhandlungen rund um die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 die Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion wiederholt informelle Zusicherungen gegen eine künftige Expansion der NATO nach Osteuropa unterbreitet haben«.
Swetlana Sawranskaja und Tom Blanton verwiesen unter Bezug auf ein viel zitiertes elektronisches Briefing-Book, das vom National Security Archive 2017 ins Internet gestellt wurde, auf eine »Kaskade von Zusicherungen«, die den Sowjets 1990 gegeben worden seien, und kamen zu dem Schluss, dass »spätere sowjetische und russische Beschwerden darüber, dass man in Bezug auf die NATO-Erweiterung in die Irre geführt wurde«, von den Beweisen gestützt würden.
Und Mary Sarotte, Autorin einer Reihe von wichtigen Büchern und einschlägigen Artikeln, die sich mit diesen Fragen befassen, stimmt dem zumindest zur Hälfte zu. Sie hat nämlich die Darstellung ausdrücklich zurückgewiesen, dass die damaligen Zusicherungen von US-Außenminister James Baker, dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher gegenüber den sowjetischen Führern, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen, nicht für Osteuropa gegolten, sondern sich lediglich auf Ostdeutschland bezogen hätten. »Bei ihrem Besuch in Moskau im Februar 1990«, so Sarotte, »haben alle drei wiederholt bekräftigt, dass sich die NATO überhaupt nicht nach Osten bewegen würde.« Ich schreibe aber zugleich »zur Hälfte zustimmend«, weil Mary Sarotte der Meinung ist, dass diese Beteuerungen kein Versprechen darstellten, da sie nie schriftlich bestätigt worden seien: Gorbatschow, schreibt sie, »hat den Westen nie dazu gebracht, zu versprechen, die Grenzen der NATO einzufrieren«. Dennoch glaubt sie, dass man den Russen nicht wirklich vorwerfen könne, dass sie gedacht hätten, es sei ein Versprechen darüber abgegeben worden.
Die meisten westlichen Akademiker und ehemaligen Beamten waren jedoch nicht bereit, so weit zu gehen. Baker selbst beharrte 1997 etwa darauf, dass er »nie die Absicht gehabt habe, die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder auszuschließen«, dass »der Vorschlag zum Zuständigkeitsbereich der NATO sich nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen habe« und dass selbst dieser Vorschlag »rasch zurückgezogen worden sei«. In einem Interview mit CNN im Jahr 2009 legte Baker dar, was in dieser Hinsicht inzwischen zur US-amerikanischen Standardsichtweise bezüglich der »Frage der Erweiterung der NATO« geworden war: »Wissen Sie, es gab eine Diskussion darüber, ob das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein würde, und das war die einzige Diskussion, die wir je hatten. Und die Sowjets unterzeichneten einen Vertrag, in dem sie anerkannten, dass das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein würde. Ich verstehe also nicht, wie sie auf die Idee kommen können, dass wir ihnen irgendwie versprochen haben, dass es keine Erweiterung der NATO geben würde. Es war dabei nie die Rede von etwas anderem als der DDR.«
Viele andere ehemalige Beamte teilen diese Ansicht. Philip Zelikow, der sich 1990 im Stab des Nationalen Sicherheitsrates (NSC) der USA mit diesen Fragen befasst hatte, und Rodric Braithwaite, der damalige britische Botschafter in Moskau, sind gute Beispiele dafür, und eine Reihe ehemaliger deutscher Beamter, darunter auch Genscher selbst, äußerten später ähnliche Ansichten. Sogar Jack Matlock, der frühere US-Botschafter in der UdSSR, hat bei einigen Gelegenheiten gesagt, dass sowohl Baker als auch Genscher bei ihren Zusicherungen nur an das damalige ostdeutsche Gebiet gedacht hätten.
Und diese allgemeine Sichtweise wurde von einer Reihe von Wissenschaftlern bestätigt, insbesondere von Mark Kramer (USA), Hannes Adomeit (Deutschland) und Kristina Spohr (Deutschland – USA). Kramer schrieb beispielsweise in einem wichtigen Beitrag aus dem Jahr 2009 mit dem Titel »Der Mythos einer NATO-Nichterweiterungszusage an Russland«, dass die »Dokumente aller Seiten Zelikows Argumentation voll und ganz bestätigen«, dass die »Vereinigten Staaten keinerlei Verpflichtungen hinsichtlich der künftigen Gebietsumrisse der NATO eingegangen sind«, abgesehen von »einigen speziellen Punkten in Bezug auf Ostdeutschland«, die im Zwei-plus-vier-Vertrag vom September 1990 über den Status des wiedervereinigten deutschen Staates festgeschrieben worden seien. Die Quellen würden somit »die Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten oder andere westliche Länder jemals zugesagt hätten, die NATO nicht über Deutschland hinaus zu erweitern«, widerlegen.
Adomeit stimmt dem zu: »Die Behauptung, die westlichen Staats- und Regierungschefs hätten feste Zusagen gemacht, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen würde – also über das Gebiet der ehemaligen DDR hinaus –, ist ein Mythos, der allerdings nach wie vor schwer zu entkräften ist, egal wie viele Beweise zu dessen Widerlegung angeführt werden können.« Auch Kristina Spohr hält die Behauptung, bei den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 seien Garantien gegeben worden, »die eine Expansion der NATO nach Osteuropa ausschließen«, für »völlig unbegründet«. Sie betont, dass nie »rechtlich verbindliche« Zusagen gemacht worden seien, die eine Ausdehnung der Zuständigkeit der NATO auf Osteuropa ausschlössen. »Wenn de jure keine Zusagen gemacht wurden«, schreibt sie, »konnten auch keine Zusagen gebrochen oder ›verraten‹ werden.«
Wer hat also Recht? Die Frage ist es wert, detailliert untersucht zu werden, weil die Art und Weise, wie sie beantwortet wird, eine direkte Auswirkung auf bestimmte, viel umfassendere historische Probleme hat – vor allem auf die Frage, wie die Welt nach dem Kalten Krieg zu dem wurde, was sie heute ist. Das Thema bezieht sich auch auf bestimmte grundlegende Aspekte der Theorie der Internationalen Beziehungen, insbesondere auf die Frage, ob der Kampf um die Macht im Mittelpunkt des internationalen politischen Lebens steht. Die Untersuchung dieses Themas kann uns nicht zuletzt etwas Grundlegendes über die Funktionsweise von Diplomatie sagen, insbesondere über die Rolle, die dabei Zusicherungen, Versprechungen und Verpflichtungen in den zwischen-staatlichen Beziehungen spielen.
Aber vielleicht ist der Hauptgrund, warum dieses Thema es wert ist, untersucht zu werden – und auch der Hauptgrund, warum dadurch weiterhin so viele Debatten ausgelöst werden –, derjenige, dass sich dieses Thema direkt auf bestimmte grundlegende politische Fragen bezieht. Wie diese dann beantwortet werden, hat einen ganz offensichtlichen Einfluss darauf, wie wir über die NATO-Erweiterung und ganz allgemein über die amerikanische Politik nach dem Kalten Krieg denken sollten.
Die historische Analyse kann als Ausgangspunkt für Überlegungen darüber dienen, ob nicht alternative Vorgehensweisen hätten verfolgt werden sollen, die mehr mit dem übereinstimmen, was James Baker im Februar 1990 als US-Außenminister zu versprechen schien – und sogar auch als Ansatz für Überlegungen darüber, wie die amerikanisch-russischen Beziehungen heute gestaltet werden sollten.
Angesichts der Bedeutung dieses Themas und der zahlreichen Arbeiten, die insbesondere in den letzten Jahren dazu verfasst wurden, ist es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und einen neuen Blick auf die Debatte zu werfen. Das Ziel dieser Arbeit ist jedoch nicht nur eine Zusammenfassung dessen, was verschiedene Wissenschaftler und andere zu diesem Thema gesagt haben. Vielmehr geht es darum, die Argumente dieser Autoren zu bewerten, indem zunächst gezeigt wird, wie weitreichende Auslegungsfragen auf relativ eng gefassten historischen Behauptungen beruhen, um dann diese Behauptungen im Lichte der zu ihrer Untermauerung vorgebrachten Beweise zu untersuchen. Bei dieser Methode ergeben sich die Antworten nicht aus einer direkten Prüfung der Beweise, sondern eher auf indirekte Weise, durch eine Analyse von Argumenten, die andere Experten und Zeitzeugen vorgebracht haben. Dies ist meines Erachtens ein wirksamer Weg, um zu grundlegenden Schlussfolgerungen bei jedem wichtigen historischen Thema zu gelangen.
Daher soll hier auf die drei Hauptargumente eingegangen werden, die von den Kritikern der russischen Sichtweise vorgebracht worden sind. Erstens behaupten sie, dass die Zusicherungen nur für Ostdeutschland und nicht für ganz Osteuropa galten und dass selbst diese Zusicherungen durch im Jahr 1990 mit der UdSSR ausgearbeitete Vereinbarungen ersetzt worden seien. Zweitens behaupten sie, dass die Zusicherungen in jedem Fall rechtlich nicht bindend und somit überhaupt nicht verbindlich gewesen seien, da sie nicht in einem förmlichen, unterzeichneten Abkommen enthalten wären. Und drittens beharren sie darauf, dass – welchen Eindruck die Russen auch immer von dem gewonnen hätten, was ihnen gesagt worden sei – die westlichen Staats- und Regierungschefs nicht absichtlich versucht hätten, sie in die Irre zu führen.
Autoren von "Die USA und die Zusicherungen von 1990, die NATO nicht nach Osten zu erweitern: Erhellendes zu einem alten Problem"
Bücher von Marc Trachtenberg