Es ist das wohl meistdiskutierte politische Debattenbuch des noch jungen
Jahres: In seinem so scharfsinnigen wie provokanten Essay „Shitbürgertum“
entlarvt Ulf Poschardt einen neuen Sozialcharakter, der unsere Gesellschaft
präge und lähme: den „Shitbürger“. Mit einer unheilvollen Mischung aus Anmaßung
und Untertanengeist inszeniere sich der Shitbürger als moralisch überlegener
Retter der Welt – verteidige dabei jedoch vor allem seine eigenen Privilegien
und Interessen, so Poschardt. Ein Auszug.
Der Shitbürger hat das Bürgertum als liberale Kraft gesellschaftlicher
Emanzipations- und Innovationsprozesse sediert. Dabei muss das Bürgertum (wie
alle ehemaligen revolutionären Klassen) die Gefahr postrevolutionärer
Saturiertheit meiden. Wer sediert ist, vergisst zu kämpfen. Die Geschichte
des deutschen Bürgertums war immer schon besonders. Weite Teile dieser Anamnese
einer ebenso tristen wie gefährlichen Deviation der Bourgeoisie aber gelten wohl
für alle liberalen Gesellschaften des Westens, denen es materiell zu lange zu
gut gegangen ist. Otto von Bismarck blickte ungerührt auf die Degeneration
opportunistisch bequemer Teile der Bourgeoisie: »Die erste Generation verdient
Geld, die zweite verwaltet das Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und
die vierte verkommt vollends.«
Das deutsche Shitbürgertum ist die Konsequenz mehrerer Traditionslinien von
Untertanentum, Spießbürgerlichkeit und Opportunismus, die sich in verschiedenen
Schüben im Nachkriegsdeutschland ausgebreitet haben: von den Moralpredigern der
Bonner Republik über die verbeamteten Rebellionsdarsteller nach 1968 bis hin zu
den im Wohlstand übermütig gewordenen Umerziehungsrigoristen des frühen 21.
Jahrhunderts.
Das Shitbürgertum hat in einem langen Marsch durch die Institutionen den
Staat zu seiner Beute gemacht und übernimmt den Part als moralisches Oberhaupt
einer säkularen Gesellschaft, der insbesondere in den Renditeschüben dank der
kohlschen und dann schröderschen Wirtschaftsvernunft einen kultur-, medien- und
diskursdominierenden Status errungen hat. Ökonomisch weitgehend ignorant,
politisch heiter weltfremd, aber stets im Gestus geliehener Autorität, der
Mehrheit der Gesellschaft den Weg weisen wollend. Während die Avantgarde des
Westens, der argentinische Präsident Javier Milei und Trumps neuer
Chefentbürokratisierer Elon Musk mit seiner DOGE-Abteilung, sich anschickt, die
Geschichte staatlicher Allmachtsfantasien lustvoll zu zertrümmern, hat sich das
Shitbürgertum symbolisch vor den Staat geworfen.
Der Staat ist chronisch überfordert und unterfinanziert, weil er in den
Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts wächst, während die Privatwirtschaft
schrumpft. Statt dass dieses Missverhältnis korrigiert wird, werden neue
Absicherungsmechanismen des etatistischen Status quo konstruiert.
Politikerbeleidigung und Staatsdelegitimierung sind die neue
Majestätsbeleidigung. Im Juni 2020 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der
Großen Koalition ein Sonderstrafrecht für das Beleidigen von Politikern: Wer
einen Politiker beleidigt, wird härter bestraft als jemand, der seine übrigen
Mitbürger beleidigt. Im April 2021 richtete das Bundesamt für Verfassungsschutz
(BfV) den Phänomenbereich »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des
Staates« ein. Dieser Bereich erfasst Bestrebungen, die durch systematische
Verunglimpfung staatlicher Institutionen und Repräsentanten das Vertrauen in die
freiheitlich-demokratische Grundordnung erschüttern wollen.
Doch Staatskritik ist die Essenz bürgerlicher Freiheitsliebe. Wer sich selbst
als seines Glückes Schmied versteht, will einen Staat, der ihn nicht stört und
ihm nicht nimmt, was er braucht, um Autor seiner Biografie zu sein. Milton
Friedman skizzierte 1962 in Kapitalismus und Freiheit eine Art Minimalprogramm
an staatlichen Aufgaben, in dessen Zentrum die Durchsetzung individueller
Freiheiten und Rechte steht. Der Staat soll Bürger vor Gewalt und Zwang schützen
– vor äußeren Feinden und inneren Bedrohungen. Deswegen braucht ein Staat sowohl
Armee als auch Polizei. Zudem ist eine rechtsstaatliche Ordnung unerlässlich,
die Eigentumsrechte, persönliche Freiheit und stabiles Geld garantiert. Zur
Sicherstellung eines funktionierenden Marktsystems sollen Monopole und
wesentliche externe Effekte möglichst begrenzt und die Wettbewerbsordnung
durchgesetzt werden. Die Sicherstellung einer funktionierenden Marktwirtschaft
ermöglicht Wohlstand für so ziemlich alle, auch im Sinne Ludwig Erhards.
Wer so argumentiert, steht in Deutschland, aber auch in anderen Ländern des
Westens häufig am Rande. Seit 1945 sind die Staaten komplexer, bürokratischer,
übergriffiger und teurer geworden, mit Ausnahme jener Reformschneisen
historischer Figuren wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Jetzt wird im 21.
Jahrhundert die Frage nach dem Staat neu gestellt. Er ist dysfunktional und
teuer für jene, die ihn finanzieren müssen – und einträglich für jene, die von
ihm gemästet werden. In Deutschland ist es allen voran das Shitbürgertum.
21.04.2025 - Shitbürgertum
Es ist das wohl meistdiskutierte politische Debattenbuch des noch jungen Jahres: In seinem so scharfsinnigen wie provokanten Essay „Shitbürgertum“ entlarvt Ulf Poschardt einen neuen Sozialcharakter, der unsere Gesellschaft präge und lähme: den „Shitbürger“. Mit einer unheilvollen Mischung aus Anmaßung und Untertanengeist inszeniere sich der Shitbürger als moralisch überlegener Retter der Welt – verteidige dabei jedoch vor allem seine eigenen Privilegien und Interessen, so Poschardt. Ein Auszug.
Der Shitbürger hat das Bürgertum als liberale Kraft gesellschaftlicher Emanzipations- und Innovationsprozesse sediert. Dabei muss das Bürgertum (wie alle ehemaligen revolutionären Klassen) die Gefahr postrevolutionärer Saturiertheit meiden. Wer sediert ist, vergisst zu kämpfen.
Die Geschichte des deutschen Bürgertums war immer schon besonders. Weite Teile dieser Anamnese einer ebenso tristen wie gefährlichen Deviation der Bourgeoisie aber gelten wohl für alle liberalen Gesellschaften des Westens, denen es materiell zu lange zu gut gegangen ist. Otto von Bismarck blickte ungerührt auf die Degeneration opportunistisch bequemer Teile der Bourgeoisie: »Die erste Generation verdient Geld, die zweite verwaltet das Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt vollends.«
Das deutsche Shitbürgertum ist die Konsequenz mehrerer Traditionslinien von Untertanentum, Spießbürgerlichkeit und Opportunismus, die sich in verschiedenen Schüben im Nachkriegsdeutschland ausgebreitet haben: von den Moralpredigern der Bonner Republik über die verbeamteten Rebellionsdarsteller nach 1968 bis hin zu den im Wohlstand übermütig gewordenen Umerziehungsrigoristen des frühen 21. Jahrhunderts.
Das Shitbürgertum hat in einem langen Marsch durch die Institutionen den Staat zu seiner Beute gemacht und übernimmt den Part als moralisches Oberhaupt einer säkularen Gesellschaft, der insbesondere in den Renditeschüben dank der kohlschen und dann schröderschen Wirtschaftsvernunft einen kultur-, medien- und diskursdominierenden Status errungen hat. Ökonomisch weitgehend ignorant, politisch heiter weltfremd, aber stets im Gestus geliehener Autorität, der Mehrheit der Gesellschaft den Weg weisen wollend. Während die Avantgarde des Westens, der argentinische Präsident Javier Milei und Trumps neuer Chefentbürokratisierer Elon Musk mit seiner DOGE-Abteilung, sich anschickt, die Geschichte staatlicher Allmachtsfantasien lustvoll zu zertrümmern, hat sich das Shitbürgertum symbolisch vor den Staat geworfen.
Der Staat ist chronisch überfordert und unterfinanziert, weil er in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts wächst, während die Privatwirtschaft schrumpft. Statt dass dieses Missverhältnis korrigiert wird, werden neue Absicherungsmechanismen des etatistischen Status quo konstruiert. Politikerbeleidigung und Staatsdelegitimierung sind die neue Majestätsbeleidigung. Im Juni 2020 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition ein Sonderstrafrecht für das Beleidigen von Politikern: Wer einen Politiker beleidigt, wird härter bestraft als jemand, der seine übrigen Mitbürger beleidigt. Im April 2021 richtete das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) den Phänomenbereich »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« ein. Dieser Bereich erfasst Bestrebungen, die durch systematische Verunglimpfung staatlicher Institutionen und Repräsentanten das Vertrauen in die freiheitlich-demokratische Grundordnung erschüttern wollen.
Doch Staatskritik ist die Essenz bürgerlicher Freiheitsliebe. Wer sich selbst als seines Glückes Schmied versteht, will einen Staat, der ihn nicht stört und ihm nicht nimmt, was er braucht, um Autor seiner Biografie zu sein. Milton Friedman skizzierte 1962 in Kapitalismus und Freiheit eine Art Minimalprogramm an staatlichen Aufgaben, in dessen Zentrum die Durchsetzung individueller Freiheiten und Rechte steht. Der Staat soll Bürger vor Gewalt und Zwang schützen – vor äußeren Feinden und inneren Bedrohungen. Deswegen braucht ein Staat sowohl Armee als auch Polizei. Zudem ist eine rechtsstaatliche Ordnung unerlässlich, die Eigentumsrechte, persönliche Freiheit und stabiles Geld garantiert. Zur Sicherstellung eines funktionierenden Marktsystems sollen Monopole und wesentliche externe Effekte möglichst begrenzt und die Wettbewerbsordnung durchgesetzt werden. Die Sicherstellung einer funktionierenden Marktwirtschaft ermöglicht Wohlstand für so ziemlich alle, auch im Sinne Ludwig Erhards.
Wer so argumentiert, steht in Deutschland, aber auch in anderen Ländern des Westens häufig am Rande. Seit 1945 sind die Staaten komplexer, bürokratischer, übergriffiger und teurer geworden, mit Ausnahme jener Reformschneisen historischer Figuren wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Jetzt wird im 21. Jahrhundert die Frage nach dem Staat neu gestellt. Er ist dysfunktional und teuer für jene, die ihn finanzieren müssen – und einträglich für jene, die von ihm gemästet werden. In Deutschland ist es allen voran das Shitbürgertum.
Autoren von "Shitbürgertum"
Bücher von Ulf Poschardt