Als Journalist jettete Sebastian Schoepp zwei Jahrzehnte lang rastlos
durch die Welt. Bis er eine Depression in sich hochkriechen spürt und sich
fragt: Brauche ich das? Geht es nicht auch langsamer? Er beginnt, Deutschland zu
Fuß zu erkunden, und findet auf den einsamen Höhen der Mittelgebirge, abseits
der touristischen Hotspots, nicht nur seine Seelenpfade – sondern im Vorbeigehen
auch die Antwort auf allerlei Fragen: Wer hat das Wandern erfunden? Wie
entstehen eigentlich Pfade? Warum tut Wandern so gut in Zeiten des
Beschleunigungsdiktats? Und ist langsames Gehen gar ein subversiver Akt, eine
Art stiller Protest gegen das Immermehr, das unseren Planeten an den Rand des
Kollapses gebracht hat? Ein Kommentar.
Gehen ist die natürlichste
Fortbewegungsart des Menschen. Es bringt uns in Kontakt mit unserem nomadischen
Erbe, hat der Schriftsteller und Vielwanderer Bruce Chatwin mal behauptet.
Deswegen würden kleine Kinder weniger schreien, wenn die Eltern sie umhertragen,
denn in Säuglingen sei das nomadische Erbe noch wach. Über die
gesundheitsfördernde Wirkung für Körper und Seele, die entsteht, wenn man
gemächlich einen Fuß vor den anderen setzt, kann eigentlich kein Zweifel
bestehen. Insofern ist es verwunderlich, dass Gehen in unserer Zeit so wenig
Anhänger hat. Treppe hoch, Treppe runter, noch schnell zum Einkaufen, der
Straßenbahn hinterhersprinten, Mülltonne rausstellen, die Hemden aus der
Reinigung holen oder beim Nachbarn die Sendung einsammeln, die die gestresste
Paketbotin hinterlassen hat: Diese Art des Gehens nervt, sie fühlt sich an wie
ein Rennen, Hetzen, Abliefern, gehorcht dem „Beschleunigungstotalitarismus“
unserer Zeit, vor dem der Soziologe Hartmut Rosa gewarnt hat. In der Freizeit
wird dann vielleicht gewandert, aber nicht entspannt und genussvoll, sondern
ähnlich leistungsorientiert und gipfelorientiert wie im Beruf: Schneller, höher,
weiter lautet die Devise. Und die Seele bleibt nicht selten auf der Strecke.
Wer hingegen beim Gehen die Umgebung sehend und fühlend in sich aufnimmt, muss
sich fast wie ein Sonderling fühlen. Oder ist langsames Wandern gar ein
subversiver Akt, ein leiser Aufstand gegen das Diktat des zwanghaften „Immer
mehr“, das nicht nur uns, sondern unseren Planeten an den Rand des Kollaps
gebracht hat? Auf solche Gedanken komme ich, wenn ich meine „Seelenpfade“
entlangwandere. So nenne ich Wege, auf denen wir gehen und uns dabei ganz im
Einklang mit uns selbst fühlen, auf denen Körper und Geist zu einem harmonischen
Rhythmus finden, der uns vorwärtsträgt. Auf einem Seelenpfad fühle ich mich zu
Hause, solange ich auf ihm unterwegs bin. Seelenpfade können sich überall
eröffnen, auf einem Pilgerpfad oder auf dem Weg zur nächsten Waldwirtschaft. Ich
habe sie da entdeckt, wo ich sie am wenigsten vermutet hätte: in deutschen
Mittelgebirgen. Auf ihren meist einsamen Routen habe ich das gefunden, wonach
meine Seele am meisten dürstete: Ruhe in der Bewegung. Diese Art des
Wanderns war zunächst nur als Ausgleich gedacht zum beruflichen Vielfliegen, das
ich als Redakteur für Außenpolitik in einer großen deutschen Tageszeitung zu
absolvieren hatte. Mit der Zeit stellte ich auf meinen Touren auf Rheinsteig,
Goldsteig, Lausitzer Bergweg oder Hermannsweg jedoch fest, dass die Aussicht auf
dahinrollende Hügel und verschwiegene Bachtäler auch den Blick auf eine ganz
neue Lebensauffassung eröffnete. Ging es nicht grundsätzlich ein bisschen
langsamer? Als die krisengeschüttelte Zeitung ein freiwilliges
Ausstiegsprogramms auflegte, fackelte ich nicht lange. Ich stieg nach dreißig
Jahren aus dem Hamsterrad aus und schnürte die Stiefel für den Aufbruch in ein
neues Leben. Gewissermaßen im Vorbeigehen hat das Wandern in Mittelgebirgen
mich auch mit der deutschen Provinz nicht nur versöhnt, ja, es hat mir ein Land
nähergebracht, das ich bis dato kaum kannte. Ich war vertraut mit Mexiko-Stadt,
Buenos Aires und Bogotá. Aber Darmstadt, Miltenberg, Zittau, Bad Bergzabern,
Bielefeld? Inzwischen bin ich überall dort gewesen, und zwar zu Fuß. Ich bin die
Weinterrassen im rheinischen Schiefergebirge emporgeklettert, habe mich durch
die Felsspalten der Luxemburgischen Schweiz gezwängt und den Frachtschiffen auf
der Mosel beim Dahingleiten zugesehen. Das Unspektakuläre, Impulsarme hat nicht
nur meinen vom medialen Überfluss gereizten Nerven gutgetan, es barg auch
unerwartete Entdeckungen: In Sachsen gab es Tafelberge, am Rhein Klettersteige,
in der Fränkischen Schweiz Höhlen. Anstatt mich wie eine Hammelherde durch die
Nacktscanner am Flughafen treiben zu lassen, zähle ich nun die Schäfchenwolken
auf der Alb. Immer wieder komme ich auf meinen Touren in Kontakt mit
unerwarteten Lebensformen. Wo, wenn nicht in der Provinz, gibt es noch
Rückzugsräume für individuelle Lebensentwürfe abseits des digitalen Mainstreams
der Ballungsräume, wo sonst gibt es Nischen für Maler, Musikerinnen, Tagträumer,
Kreative, Gründer? Wo sonst stehen die alten Schützenhäuser oder stillgelegten
Bauernhöfe, die sie sich leisten können, wo gibt es billige Übungsräume,
Ateliers, Parzellen für Öko-Gärtner? Deutschland kommt mir ungeordneter,
durchlässiger, verkrauteter, diverser, vielfältiger und liberaler vor, als es
die meisten Deutschen selber wahrhaben wollen. Nebenbei finde ich diese Art
Freizeitgestaltung konstruktiver als den Wochenendtrip in die Hotspots des
Overtourism. Dort, wo ich durch das Trampeln auf Pfaden nichts zerstöre, sondern
- im Gegenteil – zu ihrem Erhalt beitrage, trampele ich gerne mit. Manche Ecken
Mittelhessens oder Westfrankens scheinen Strukturhilfe nötiger zu haben als
Sardinien oder Andalusien. Ist das nicht ein Argument für Urlaub zuhause in
unserer um die Gute Tat bemühten Zeit? Anders als auf Mallorca muss man sich im
Hunsrück auch nicht fühlen wie einer mehr in der Masse; da freut sich die Wirtin
noch, wenn jemand kommt. Das Wandern durch den heimischen Obst- und
Bauerngarten hat überdies meine Sensibilität geschärft für das, was am Wegesrand
wächst. Und das wiederum hat mich aufmerksamer gemacht, was meinen alltäglichen
Konsum angeht. Ich achte nun auch zuhause darauf, was wann auf heimischen
Äckern, an Bäumen und Sträuchern reif ist, ich esse Erdbeeren nur im Juni und
Birnen nur im Herbst. Im Winter gibt es Steckrüben, die haben viel Vitamin C.
Ich pflücke Löwenzahn und Bärlauch, mampfe eigene Stachelbeeren statt Litschi,
koche Pesto aus wild wachsender Zitronenmelisse und Minze, rühre mir aus den
Haselnüssen vom Baum im Garten Nutella an. Tropische Früchte lasse ich im Regal
liegen, ebenso wie südafrikanischen Wein. Schmeckt ein kantiger Mosel-Riesling
nicht viel facettenreicher? Natürlich ist so ein lebensverändernder Umstieg
mit Risiken verbunden. Doch das Wandern hat mich auch gelehrt, mit weniger
auszukommen, denn es reduziert die Ansprüche auf die Grundbedürfnisse. Der
norwegische Abenteurer Erling Kagge lobt das „Gefühl der Freiheit, wenn ich
alles, was ich zum Leben brauche, in den Stunden, Tagen oder Monaten, die eine
Tour dauert, auf dem Rücken habe“. Dafür muss man nicht zwingend auf den Mount
Everest kraxeln. Vielleicht genügt ja der Spessart? Epikur empfahl einst: Setze
dir nur Ziele, die du erreichen kannst. Das habe ich beim Wandern gelernt.
Seitdem versuche ich, das Leben anzugehen wie eine Frühlingswanderung, wenn die
hellgrünen Blättchen sich wie von ganz alleine sich aus den Zweiglein tasten.
Und ich staune, was ich damit alles schaffe. Das empfinde ich in der Tat als
politischen Akt.
23.03.2025 - Warum Gehen subversiv ist
Als Journalist jettete Sebastian Schoepp zwei Jahrzehnte lang rastlos durch die Welt. Bis er eine Depression in sich hochkriechen spürt und sich fragt: Brauche ich das? Geht es nicht auch langsamer? Er beginnt, Deutschland zu Fuß zu erkunden, und findet auf den einsamen Höhen der Mittelgebirge, abseits der touristischen Hotspots, nicht nur seine Seelenpfade – sondern im Vorbeigehen auch die Antwort auf allerlei Fragen: Wer hat das Wandern erfunden? Wie entstehen eigentlich Pfade? Warum tut Wandern so gut in Zeiten des Beschleunigungsdiktats? Und ist langsames Gehen gar ein subversiver Akt, eine Art stiller Protest gegen das Immermehr, das unseren Planeten an den Rand des Kollapses gebracht hat? Ein Kommentar.
Gehen ist die natürlichste Fortbewegungsart des Menschen. Es bringt uns in Kontakt mit unserem nomadischen Erbe, hat der Schriftsteller und Vielwanderer Bruce Chatwin mal behauptet. Deswegen würden kleine Kinder weniger schreien, wenn die Eltern sie umhertragen, denn in Säuglingen sei das nomadische Erbe noch wach. Über die gesundheitsfördernde Wirkung für Körper und Seele, die entsteht, wenn man gemächlich einen Fuß vor den anderen setzt, kann eigentlich kein Zweifel bestehen. Insofern ist es verwunderlich, dass Gehen in unserer Zeit so wenig Anhänger hat. Treppe hoch, Treppe runter, noch schnell zum Einkaufen, der Straßenbahn hinterhersprinten, Mülltonne rausstellen, die Hemden aus der Reinigung holen oder beim Nachbarn die Sendung einsammeln, die die gestresste Paketbotin hinterlassen hat: Diese Art des Gehens nervt, sie fühlt sich an wie ein Rennen, Hetzen, Abliefern, gehorcht dem „Beschleunigungstotalitarismus“ unserer Zeit, vor dem der Soziologe Hartmut Rosa gewarnt hat. In der Freizeit wird dann vielleicht gewandert, aber nicht entspannt und genussvoll, sondern ähnlich leistungsorientiert und gipfelorientiert wie im Beruf: Schneller, höher, weiter lautet die Devise. Und die Seele bleibt nicht selten auf der Strecke.
Wer hingegen beim Gehen die Umgebung sehend und fühlend in sich aufnimmt, muss sich fast wie ein Sonderling fühlen. Oder ist langsames Wandern gar ein subversiver Akt, ein leiser Aufstand gegen das Diktat des zwanghaften „Immer mehr“, das nicht nur uns, sondern unseren Planeten an den Rand des Kollaps gebracht hat? Auf solche Gedanken komme ich, wenn ich meine „Seelenpfade“ entlangwandere. So nenne ich Wege, auf denen wir gehen und uns dabei ganz im Einklang mit uns selbst fühlen, auf denen Körper und Geist zu einem harmonischen Rhythmus finden, der uns vorwärtsträgt. Auf einem Seelenpfad fühle ich mich zu Hause, solange ich auf ihm unterwegs bin. Seelenpfade können sich überall eröffnen, auf einem Pilgerpfad oder auf dem Weg zur nächsten Waldwirtschaft. Ich habe sie da entdeckt, wo ich sie am wenigsten vermutet hätte: in deutschen Mittelgebirgen. Auf ihren meist einsamen Routen habe ich das gefunden, wonach meine Seele am meisten dürstete: Ruhe in der Bewegung.
Diese Art des Wanderns war zunächst nur als Ausgleich gedacht zum beruflichen Vielfliegen, das ich als Redakteur für Außenpolitik in einer großen deutschen Tageszeitung zu absolvieren hatte. Mit der Zeit stellte ich auf meinen Touren auf Rheinsteig, Goldsteig, Lausitzer Bergweg oder Hermannsweg jedoch fest, dass die Aussicht auf dahinrollende Hügel und verschwiegene Bachtäler auch den Blick auf eine ganz neue Lebensauffassung eröffnete. Ging es nicht grundsätzlich ein bisschen langsamer? Als die krisengeschüttelte Zeitung ein freiwilliges Ausstiegsprogramms auflegte, fackelte ich nicht lange. Ich stieg nach dreißig Jahren aus dem Hamsterrad aus und schnürte die Stiefel für den Aufbruch in ein neues Leben.
Gewissermaßen im Vorbeigehen hat das Wandern in Mittelgebirgen mich auch mit der deutschen Provinz nicht nur versöhnt, ja, es hat mir ein Land nähergebracht, das ich bis dato kaum kannte. Ich war vertraut mit Mexiko-Stadt, Buenos Aires und Bogotá. Aber Darmstadt, Miltenberg, Zittau, Bad Bergzabern, Bielefeld? Inzwischen bin ich überall dort gewesen, und zwar zu Fuß. Ich bin die Weinterrassen im rheinischen Schiefergebirge emporgeklettert, habe mich durch die Felsspalten der Luxemburgischen Schweiz gezwängt und den Frachtschiffen auf der Mosel beim Dahingleiten zugesehen. Das Unspektakuläre, Impulsarme hat nicht nur meinen vom medialen Überfluss gereizten Nerven gutgetan, es barg auch unerwartete Entdeckungen: In Sachsen gab es Tafelberge, am Rhein Klettersteige, in der Fränkischen Schweiz Höhlen. Anstatt mich wie eine Hammelherde durch die Nacktscanner am Flughafen treiben zu lassen, zähle ich nun die Schäfchenwolken auf der Alb.
Immer wieder komme ich auf meinen Touren in Kontakt mit unerwarteten Lebensformen. Wo, wenn nicht in der Provinz, gibt es noch Rückzugsräume für individuelle Lebensentwürfe abseits des digitalen Mainstreams der Ballungsräume, wo sonst gibt es Nischen für Maler, Musikerinnen, Tagträumer, Kreative, Gründer? Wo sonst stehen die alten Schützenhäuser oder stillgelegten Bauernhöfe, die sie sich leisten können, wo gibt es billige Übungsräume, Ateliers, Parzellen für Öko-Gärtner? Deutschland kommt mir ungeordneter, durchlässiger, verkrauteter, diverser, vielfältiger und liberaler vor, als es die meisten Deutschen selber wahrhaben wollen.
Nebenbei finde ich diese Art Freizeitgestaltung konstruktiver als den Wochenendtrip in die Hotspots des Overtourism. Dort, wo ich durch das Trampeln auf Pfaden nichts zerstöre, sondern - im Gegenteil – zu ihrem Erhalt beitrage, trampele ich gerne mit. Manche Ecken Mittelhessens oder Westfrankens scheinen Strukturhilfe nötiger zu haben als Sardinien oder Andalusien. Ist das nicht ein Argument für Urlaub zuhause in unserer um die Gute Tat bemühten Zeit? Anders als auf Mallorca muss man sich im Hunsrück auch nicht fühlen wie einer mehr in der Masse; da freut sich die Wirtin noch, wenn jemand kommt.
Das Wandern durch den heimischen Obst- und Bauerngarten hat überdies meine Sensibilität geschärft für das, was am Wegesrand wächst. Und das wiederum hat mich aufmerksamer gemacht, was meinen alltäglichen Konsum angeht. Ich achte nun auch zuhause darauf, was wann auf heimischen Äckern, an Bäumen und Sträuchern reif ist, ich esse Erdbeeren nur im Juni und Birnen nur im Herbst. Im Winter gibt es Steckrüben, die haben viel Vitamin C. Ich pflücke Löwenzahn und Bärlauch, mampfe eigene Stachelbeeren statt Litschi, koche Pesto aus wild wachsender Zitronenmelisse und Minze, rühre mir aus den Haselnüssen vom Baum im Garten Nutella an. Tropische Früchte lasse ich im Regal liegen, ebenso wie südafrikanischen Wein. Schmeckt ein kantiger Mosel-Riesling nicht viel facettenreicher?
Natürlich ist so ein lebensverändernder Umstieg mit Risiken verbunden. Doch das Wandern hat mich auch gelehrt, mit weniger auszukommen, denn es reduziert die Ansprüche auf die Grundbedürfnisse. Der norwegische Abenteurer Erling Kagge lobt das „Gefühl der Freiheit, wenn ich alles, was ich zum Leben brauche, in den Stunden, Tagen oder Monaten, die eine Tour dauert, auf dem Rücken habe“. Dafür muss man nicht zwingend auf den Mount Everest kraxeln. Vielleicht genügt ja der Spessart? Epikur empfahl einst: Setze dir nur Ziele, die du erreichen kannst. Das habe ich beim Wandern gelernt. Seitdem versuche ich, das Leben anzugehen wie eine Frühlingswanderung, wenn die hellgrünen Blättchen sich wie von ganz alleine sich aus den Zweiglein tasten. Und ich staune, was ich damit alles schaffe. Das empfinde ich in der Tat als politischen Akt.
Autoren von "Warum Gehen subversiv ist"
Bücher von Sebastian Schoepp