Wer nichts weiß, muss viel glauben. Aber kann man sich – gerade in Zeiten
von Desinformationskampagnen mittels Fake News – wirklich auf jedes x-beliebige
Medium verlassen, wenn man Antworten auf Fragen sucht? Wohl kaum. Über
Social-Media-Plattformen geschürte Filterblasen verkleinern unseren
Bildungsraum, indem sie belastbare (wissenschaftliche) Erkenntnisse zu
kriegerischen Konflikten, gesundheitsförderlicher Ernährungsweisen oder Aspekte
des Klimawandels ins Abseits drängen. Wird die für Lernprozesse konstitutive
Offenheit von Bildungsräumen unterlaufen, leidet auch die Offenheit unserer
Gesellschaft. Ohne breitenwirksame Bildungsangebote können wir keine Demokratie
erwarten, denn die für freiheitlich-demokratische Grundordnungen elementare
politische Meinungsbildung setzt das Interesse der Bürgerinnen und Bürger für
politische Angelegenheiten voraus, sagt der Bildungsexperte Tim Engartner.
Kitas, Schulen und Hochschulen müssen als Felsen in der Brandung auf
Demokratieförderung verpflichtet sein, fordert er auch in seinem aktuellen Buch
“Raus aus der Bildungsfalle”.
Davon ausgehend, dass Demokratien
keine Ewigkeitsgarantie zugesprochen werden können, muss insbesondere politische
Bildung nicht nur in den disziplinär einschlägigen Unterrichtsfächern nach dem
Fachprinzip stattfinden, sondern auch in Gestalt eines fächerübergreifenden
Unterrichtsprinzips. Alle in den Stundentafeln verankerten Unterrichtsfächer
müssen einen Beitrag zur politischen Bildung leisten, um junge Menschen
demokratiefähig werden zu lassen. Wenn im Deutschunterricht ein Brecht-Zitat
analysiert, im Kunstunterricht Wahlwerbung interpretiert oder im
Physikunterricht die atomare Energiegewinnung diskutiert wird, sollten auch
diese Unterrichtsstunden einen Beitrag zur politischen Urteilsbildung leisten.
Diese Ansprüche einzulösen, ist auch deshalb dringlich, weil demokratisches
Bewusstsein keine anthropologische Konstante darstellt, sondern täglich erlernt
werden muss. Eine zentrale Aufgabe politischer Bildung besteht unter anderem
darin, Vorurteile infrage zu stellen und Begegnungsräume zu schaffen, sodass
sich Fremde kennen, verstehen und schätzen lernen können (»Kontakthypothese«).
Im Zuge dieser Begegnungen muss deutlich werden, dass eine zivile Gesellschaft
von der wechselseitigen Anerkennung unterschiedlicher Lebensstile, Kulturen und
Perspektiven lebt. Kitas, Schulen und Hochschulen müssen als Felsen in der
Brandung auf Demokratieförderung verpflichtet werden. So müssen Kinder und
Jugendliche partizipatorische Gestaltungsmöglichkeiten erfahren, das heißt, die
Kinderkonferenz in der Kita muss ebenso ihren Platz haben wie der Klassenrat,
die Schülervertretung und die Schulkonferenz beziehungsweise die studentische
Vertretung über die Fachschaften an Hochschulen. Bildung – insbesondere
politische – muss unsere Demokratie mehr denn je festigen, denn fehlende soziale
Bindungen, der vielfach unbeantwortet bleibende Wunsch nach Zugehörigkeiten
sowie der sich mitunter ungehemmt entladende Druck der Peergroup führen
insbesondere bei Jugendlichen zu einer Suche nach kollektiven Ersatzidentitäten.
Nationale Identität und ethnische Zugehörigkeit liefern gerade denen
Orientierung, die orientierungslos geworden sind – oder jedenfalls glauben,
orientierungslos zu sein.
Die daraus erwachsenden Verwerfungen für die Bindekräfte einer auf Humanität
und sozialen Ausgleich verpflichteten demokratischen Gesellschaft sind in
Gestalt der politischen Polarisierung schon jetzt zu erkennen, aber die
tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüche drohen sich fortzusetzen. Der
Verlust der vor mehr als einem Vierteljahrhundert von Ralf Dahrendorf
beschriebenen »Ligaturen« – verstanden als »tiefe kulturelle Bindungen, die
Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden«
– schreitet unaufhörlich fort. Kirchen, Parteien und Gewerkschaften fallen immer
häufiger als identitätsstiftende Bindeglieder aus: Die ehemaligen Volksparteien
SPD und CDU verloren seit 1990 rund die Hälfte ihrer Mitglieder. 2060 werden
laut Prognosen nur noch 22 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürger und damit
nur noch gut ein Viertel der bundesrepublikanischen Bevölkerung einer der beiden
großen Kirchen angehören; auch die meisten Gewerkschaften erfahren einen
kontinuierlichen Aderlass.
Sich diese Entwicklung vor Augen zu führen, ist essenziel, da die
gesellschaftliche und parlamentarische Verfestigung des Rechtspopulismus und
-extremismus unsere Demokratie auf eine harte Probe stellt. Die Radikalisierung
der politischen, medialen und kulturellen Öffentlichkeit – man denke an die
Videoclips der sogenannten Identitären Bewegung, die Konzerte von sogenannten
Rechtsrock-Bands oder die Pegida- und Legida-Demonstrationen – ist ebenso sicht-
wie hörbar und damit nicht mehr zu leugnen. Zugleich offenbart die
Normalisierung rechtspopulistischer Politik in Gestalt der parlamentarischen
Repräsentanz der AfD, dass demokratische Prinzipien als Grundlage für ein
gelingendes Miteinander von einem wachsenden Teil der Gesellschaft nicht mehr
erkannt, nicht mehr verstanden oder sogar abgelehnt werden. Etablierte
demokratische Prinzipien werden mehr und mehr verletzt. Um in einer historisch
außergewöhnlich politisierten, emotionalisierten und medialisierten Zeit die
Sensibilität für die Vorzüge unserer Demokratie als Staats- und Lebensform zu
erhalten oder zu wecken, braucht es (politische) Bildung.
Wollen wir der auch bei jungen Menschen zu verspürenden Parteien-, Fakten-
und Institutionenverdrossenheit sowie dem sich (dadurch) Aufschwung erhaltenden
Rechtspopulismus begegnen, müssen wir (an-)erkennen, dass sich unsere
Bemühungen nicht nur von der Migrations- und Steuerpolitik über die Sozial-
und Arbeitsmarktpolitik bis hin zur Verkehrs- und Wohnungspolitik erstrecken
dürfen, sondern auch (politische) Bildung ihren Raum braucht. Zu Recht sieht
Herfried Münkler ausweislich eines in dem Magazin der Neuen Zürcher Zeitung
veröffentlichten Beitrags im Populismus »die dezidierte Absage an die Zumutungen
des Lernens«, wenn er die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten
unter anderem damit begründet, dass dieser seine Wählerinnen und Wähler »von
der mühseligen Beschäftigung mit Sachfragen freigesprochen hat«.
Und auch hierzulande verweigert sich ein wachsender Teil der Bevölkerung der
politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Komplexität in Zeiten der von
Jürgen Habermas schon 1985 identifizierten »neuen Unübersichtlichkeit«. Das
öffentliche Interesse an politisch verhandelten Themen zu beleben, stellt daher
nicht nur mit Blick auf die politische Partizipation im Kontext von Wahlen eine
unabdingbare Voraussetzung für den Zusammenhalt und letztlich die Existenz
einer demokratischen Gesellschaft dar. Da der seit nunmehr einem Jahrzehnt
aufkeimende Rechtspopulismus die Grundfesten unseres Werte-, Gesellschafts- und
Rechtssystems bedroht, müssen wir lernen, Haltung statt Zurückhaltung zu
zeigen. Dazu braucht es zwingend (mehr) (politische) Bildung.
Autoren von "Bildung verspricht gesellschaftliche Stabilität"
21.09.2024 - Bildung verspricht gesellschaftliche Stabilität
Wer nichts weiß, muss viel glauben. Aber kann man sich – gerade in Zeiten von Desinformationskampagnen mittels Fake News – wirklich auf jedes x-beliebige Medium verlassen, wenn man Antworten auf Fragen sucht? Wohl kaum. Über Social-Media-Plattformen geschürte Filterblasen verkleinern unseren Bildungsraum, indem sie belastbare (wissenschaftliche) Erkenntnisse zu kriegerischen Konflikten, gesundheitsförderlicher Ernährungsweisen oder Aspekte des Klimawandels ins Abseits drängen. Wird die für Lernprozesse konstitutive Offenheit von Bildungsräumen unterlaufen, leidet auch die Offenheit unserer Gesellschaft. Ohne breitenwirksame Bildungsangebote können wir keine Demokratie erwarten, denn die für freiheitlich-demokratische Grundordnungen elementare politische Meinungsbildung setzt das Interesse der Bürgerinnen und Bürger für politische Angelegenheiten voraus, sagt der Bildungsexperte Tim Engartner. Kitas, Schulen und Hochschulen müssen als Felsen in der Brandung auf Demokratieförderung verpflichtet sein, fordert er auch in seinem aktuellen Buch “Raus aus der Bildungsfalle”.
Davon ausgehend, dass Demokratien keine Ewigkeitsgarantie zugesprochen werden können, muss insbesondere politische Bildung nicht nur in den disziplinär einschlägigen Unterrichtsfächern nach dem Fachprinzip stattfinden, sondern auch in Gestalt eines fächerübergreifenden Unterrichtsprinzips. Alle in den Stundentafeln verankerten Unterrichtsfächer müssen einen Beitrag zur politischen Bildung leisten, um junge Menschen demokratiefähig werden zu lassen. Wenn im Deutschunterricht ein Brecht-Zitat analysiert, im Kunstunterricht Wahlwerbung interpretiert oder im Physikunterricht die atomare Energiegewinnung diskutiert wird, sollten auch diese Unterrichtsstunden einen Beitrag zur politischen Urteilsbildung leisten.
Diese Ansprüche einzulösen, ist auch deshalb dringlich, weil demokratisches Bewusstsein keine anthropologische Konstante darstellt, sondern täglich erlernt werden muss. Eine zentrale Aufgabe politischer Bildung besteht unter anderem darin, Vorurteile infrage zu stellen und Begegnungsräume zu schaffen, sodass sich Fremde kennen, verstehen und schätzen lernen können (»Kontakthypothese«). Im Zuge dieser Begegnungen muss deutlich werden, dass eine zivile Gesellschaft von der wechselseitigen Anerkennung unterschiedlicher Lebensstile, Kulturen und Perspektiven lebt.
Kitas, Schulen und Hochschulen müssen als Felsen in der Brandung auf Demokratieförderung verpflichtet werden. So müssen Kinder und Jugendliche partizipatorische Gestaltungsmöglichkeiten erfahren, das heißt, die Kinderkonferenz in der Kita muss ebenso ihren Platz haben wie der Klassenrat, die Schülervertretung und die Schulkonferenz beziehungsweise die studentische Vertretung über die Fachschaften an Hochschulen. Bildung – insbesondere politische – muss unsere Demokratie mehr denn je festigen, denn fehlende soziale Bindungen, der vielfach unbeantwortet bleibende Wunsch nach Zugehörigkeiten sowie der sich mitunter ungehemmt entladende Druck der Peergroup führen insbesondere bei Jugendlichen zu einer Suche nach kollektiven Ersatzidentitäten. Nationale Identität und ethnische Zugehörigkeit liefern gerade denen Orientierung, die orientierungslos geworden sind – oder jedenfalls glauben, orientierungslos zu sein.
Die daraus erwachsenden Verwerfungen für die Bindekräfte einer auf Humanität und sozialen Ausgleich verpflichteten demokratischen Gesellschaft sind in Gestalt der politischen Polarisierung schon jetzt zu erkennen, aber die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüche drohen sich fortzusetzen. Der Verlust der vor mehr als einem Vierteljahrhundert von Ralf Dahrendorf beschriebenen »Ligaturen« – verstanden als »tiefe kulturelle Bindungen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden« – schreitet unaufhörlich fort. Kirchen, Parteien und Gewerkschaften fallen immer häufiger als identitätsstiftende Bindeglieder aus: Die ehemaligen Volksparteien SPD und CDU verloren seit 1990 rund die Hälfte ihrer Mitglieder. 2060 werden laut Prognosen nur noch 22 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürger und damit nur noch gut ein Viertel der bundesrepublikanischen Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen angehören; auch die meisten Gewerkschaften erfahren einen kontinuierlichen Aderlass.
Sich diese Entwicklung vor Augen zu führen, ist essenziel, da die gesellschaftliche und parlamentarische Verfestigung des Rechtspopulismus und -extremismus unsere Demokratie auf eine harte Probe stellt. Die Radikalisierung der politischen, medialen und kulturellen Öffentlichkeit – man denke an die Videoclips der sogenannten Identitären Bewegung, die Konzerte von sogenannten Rechtsrock-Bands oder die Pegida- und Legida-Demonstrationen – ist ebenso sicht- wie hörbar und damit nicht mehr zu leugnen. Zugleich offenbart die Normalisierung rechtspopulistischer Politik in Gestalt der parlamentarischen Repräsentanz der AfD, dass demokratische Prinzipien als Grundlage für ein gelingendes Miteinander von einem wachsenden Teil der Gesellschaft nicht mehr erkannt, nicht mehr verstanden oder sogar abgelehnt werden. Etablierte demokratische Prinzipien werden mehr und mehr verletzt. Um in einer historisch außergewöhnlich politisierten, emotionalisierten und medialisierten Zeit die Sensibilität für die Vorzüge unserer Demokratie als Staats- und Lebensform zu erhalten oder zu wecken, braucht es (politische) Bildung.
Wollen wir der auch bei jungen Menschen zu verspürenden Parteien-, Fakten- und Institutionenverdrossenheit sowie dem sich (dadurch) Aufschwung erhaltenden Rechtspopulismus begegnen, müssen wir (an-)erkennen, dass sich unsere Bemühungen nicht nur von der Migrations- und Steuerpolitik über die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bis hin zur Verkehrs- und Wohnungspolitik erstrecken dürfen, sondern auch (politische) Bildung ihren Raum braucht. Zu Recht sieht Herfried Münkler ausweislich eines in dem Magazin der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Beitrags im Populismus »die dezidierte Absage an die Zumutungen des Lernens«, wenn er die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten unter anderem damit begründet, dass dieser seine Wählerinnen und Wähler »von der mühseligen Beschäftigung mit Sachfragen freigesprochen hat«.
Und auch hierzulande verweigert sich ein wachsender Teil der Bevölkerung der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Komplexität in Zeiten der von Jürgen Habermas schon 1985 identifizierten »neuen Unübersichtlichkeit«. Das öffentliche Interesse an politisch verhandelten Themen zu beleben, stellt daher nicht nur mit Blick auf die politische Partizipation im Kontext von Wahlen eine unabdingbare Voraussetzung für den Zusammenhalt und letztlich die Existenz einer demokratischen Gesellschaft dar. Da der seit nunmehr einem Jahrzehnt aufkeimende Rechtspopulismus die Grundfesten unseres Werte-, Gesellschafts- und Rechtssystems bedroht, müssen wir lernen, Haltung statt Zurückhaltung zu zeigen. Dazu braucht es zwingend (mehr) (politische) Bildung.
Autoren von "Bildung verspricht gesellschaftliche Stabilität"
Bücher von Tim Engartner