26.05.2024 - Der Frosch im Kochtopf: Schluss mit der Ungleichheit
Jens Berger:
"
Der Traum einer Gesellschaft, in der jeder die gleichen Chancen hat und ohne
materielle Sorgen sein Glück suchen kann, ist vorbei. Die Schere zwischen Arm
und Reich klafft in Deutschland immer weiter auseinander. Die breite
Mittelschicht, die einst unser Land gekennzeichnet und unsere Gesellschaft
getragen hat, erodiert. Die Krisen der letzten Jahre haben diesen Trend
verstärkt und die Politik will oder kann nicht gegensteuern. Jens Berger wirft
in seinem Buch „Wem gehört Deutschland?“ einen schonungslosen Blick hinter die
Zahlen und Statistiken, erklärt die Zusammenhänge und zeigt Lösungen, die
unumgänglich sind, wenn wir den gesellschaftlichen Frieden im 21. Jahrhundert
erhalten wollen.
Dass die Vermögen in Deutschland ungleich verteilt sind,
ist allseits geläufig – allenfalls das Maß der Ungleichheit und die Dynamik der
Entwicklung sind vielfach überraschend. Es ist auch nicht so, dass die
Ungleichheit zwar wahrgenommen, aber niemanden so richtig stören würde. Umfragen
sprechen da eine klare Sprache. So einig man sich in der Wahrnehmung des
Problems ist, so uneinig ist man sich in der Analyse der Ursachen. Und wenn es
um konkrete Maßnahmen zur Lösung des Problems geht, ist man sich vollends
uneins. Das Problem ist zwar erkannt. Maßnahmen wollen viele aber gar nicht
ergreifen, oder sie glauben, dass diese nicht wirken oder sogar selbst ungerecht
sind. Da wird dann beispielsweise eine höhere Erbschaftssteuer abgelehnt, weil
man Angst hat, dass der Staat unser Oma ihr klein Häuschen wegnimmt. Geht es um
eine höhere Besteuerung von Einkommen, wird der berühmte Facharbeiter bei VW in
den Ring geworfen, der übrigens nicht, wie vielfach in den Medien behauptet,
schon heute den Spitzensteuersatz zahlt. Der Widerspruch ist mit den Händen
zu greifen. Fragt man die Bürger frei nach den wichtigsten Themen, so werden
meist »Mieten, Preise, Einkommen, Bildung und Rente« genannt – allesamt Themen,
die direkt etwas mit der Vermögensverteilung zu tun haben. Dennoch werden
Lösungen, diese zu entschärfen, die sich öffnende Schere wieder zu schließen,
nicht ernsthaft debattiert – und auf die Straße geht deswegen auch fast niemand.
Dieses Phänomen erinnert an den sprichwörtlichen Frosch, den man in einen
Kochtopf gesetzt hat und dann das Wasser langsam erhitzt. Die Ungleichheit wird
immer größer, doch große Teile der Bevölkerung nehmen dies passiv hin. Sie sehen
zwar das Problem, noch fühlen sie sich im warmen Wasser aber recht wohl.
Forderungen nach einer echten Umverteilung von oben nach unten gibt es nicht –
schon gar nicht aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Und selbst die, die wenig
haben, denken meist, dass es schon irgendwie reicht. Man muss ja schließlich
auch genügsam sein und anderen geht es schließlich noch schlechter. 70 Prozent
der Befragten der Triggerpunkte-Studien sind überzeugt, sie persönlich bekämen
ihren gerechten Anteil. Das ist überraschend. Ein Erklärungsansatz, warum die
meisten Menschen passiv bleiben, ist die Art und Weise, wie die öffentlichen
Debatten um diesen Themenkomplex geführt und medial präsentiert werden. Es ist
nicht so, dass die Probleme als solche totgeschwiegen werden. Zeitungen,
Zeitschriften und Fernsehsendungen verschweigen die Zahlen nicht: Alle paar
Wochen finden sich sogar progressive Beiträge, in denen dann etwa die
Steuerumgehung der Superreichen kritisiert wird, etwa die ZDF-Dokumentation Die
geheime Welt der Superreichen vom Dezember 2023. Das ist löblich, reicht aber
nicht. Woran es mangelt, ist die Kenntnis über die Zusammenhänge. Aber wo
soll diese Kenntnis für Otto Normalmedienkonsument auch herkommen? Die Medien
beklagen die Konzentration des Vermögens an der Spitze, zeigen jedoch keine
Lösungen und ergreifen bei konkreten Umverteilungsdebatten meist die Position
der Besitzstandswahrer am obersten Ende der Vermögensskala. Geht es
beispielsweise um die Reaktivierung der Vermögenssteuer, werden die
Gegenargumente der Lobbyisten der Reichen breit ausgewalzt. Die kommen dann von
Lobbyorganisationen, die sich gern hinter unauffälligen Namen wie »Die
Familienunternehmer« verstecken. In den vorwiegend marktliberalen
Qualitätszeitungen sind die Argumente der Lobbys ohnehin gang und gäbe und
werden dort wohl auch von vielen verantwortlichen Redakteuren geteilt. Wes Brot
ich ess, des Lied ich sing. Leider haben sich auch die öffentlich-rechtlichen
Rundfunksender in weiten Teilen in diesen Chor eingereiht. Man berichtet,
versäumt es aber, das Berichtete in einen größeren Kontext zu stellen,
Zusammenhänge zu erklären – und so bleibt das gesamte Thema Vermögensverteilung
auf einer abstrakten Ebene. Wen wundert es da, dass Otto Normalmedienkonsument
und Dr. Qualitätszeitungsabonnent beim Schlagwort Vermögenssteuer zunächst eine
Gefahr für die Arbeitsplätze und beim Thema Erbschaftssteuer plötzlich Angst
davor haben, dass der nimmersatte Staat sich nun auch noch das Elternhaus unter
den Nagel reißen will? Es ist jedoch nicht nur das traditionelle
Mediensystem mit seinem Einwegkommunikationsmodell, bei dem Informationen und
Meinungen von einem Sender an einen oder mehrere Empfänger übermittelt werden.
Ganz im Gegenteil. Der Siegeszug der interaktiven Kommunikation in sozialen
Netzwerken wie Facebook oder X macht die Sache nicht besser, sondern sogar
schlechter. Am Ende sind wir nicht informierter, sondern befinden uns in einem
Dauererregungszustand. Nahezu täglich wird in den sozialen Netzwerken die
nächste Sau durchs virtuelle Dorf getrieben. Doch im gleichen Maß, wie unsere
Erregung steigt, sinkt auch unsere Aufmerksamkeitsspanne. Die Debatte wird
schneller, oberflächlicher, undifferenzierter und löst sich genauso schnell
wieder im digitalen Nirwana auf, wie sie entstanden ist. Wie das
vonstattengeht, zeigt beispielhaft eine Woche im April 2019. Erst ging der
Berliner Volksentscheid zur Enteignung der Immobilienkonzerne durch die Medien.
Flugs echauffierte sich das Netz über »Enteignungen«, und in den linken Ecken
der Netzwerke wehte gar ein Hauch von Revolution durch die virtuelle Arena. Man
ließ seinen Avatar durch einen Algorithmus mit einem
Enteignet-Deutsche-Wohnen-und-Co.-Sticker verschönen und schwor »den
Kapitalisten«, sie diesmal nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. Zum Glück
für die Kapitalisten hatte der »rote Spuk« jedoch schon wenige Tage später ein
Ende. Nun standen Julian Assange und seine drohende Auslieferung in die USA im
Fadenkreuz der Klicktivisten. Die Enteignungssticker wichen in Windeseile
#FreeAssange-Soli-Stickern, und es wurden einschlägige Online-Petitionen
angeklickt. So hyperaktiv war die Community selten. Dann fing in Paris
Notre-Dame Feuer – jetzt solidarisierte man sich mit den Parisern, besorgte sich
fix Je-suis-Notre-Dame-Sticker und überflutete die Netzwerke mit genau den
Videos und Bildern, die zeitgleich die TV-Kanäle überfluteten. Um sich tags
darauf darüber zu kabbeln, ob eine brennende Kathedrale schlimmer sei als ein
Flüchtlingskind, das im Mittelmeer ertrinkt, und warum man so einen Wind um eine
Kirche mache. Die Frage des Besitzverhältnisses der Berliner Wohnungen war
spätestens dann vergessen. Die Karawane der Empörung ist in steter Bewegung
und verharrt selten so lange an einem Ort, dass es ausreicht, der Empörung
einmal Nachdruck zu verleihen. Gelang es früher, in einem langwierigen Prozess
die Menschen für ein Thema zu interessieren, sie auf die Straße zu bringen und
im besten Fall etwas an den Umständen zu ändern, so scheint es heute schon ein
großer Erfolg zu sein, wenn man es geschafft hat, ein Thema zwei Tage lang in
den Twitter-Trends zu positionieren. Man empört sich, weiß aber, dass sich an
den Umständen ohnehin nichts ändert. Wie sollte es auch? Leider findet dieses
Spektakel nicht im luftleeren Raum statt. Zu den eifrigsten Twitter-Empörten
zählt heutzutage der Kern der Berliner Blase – Politiker und Journalisten. Es
ist ein Geben und Nehmen. Mal schwappt eine belanglose Debatte aus der Berliner
Blase in die Netzwerke und wird so ein Twitter-Trend, mal schwappt eine ebenso
belanglose Debatte aus den Netzwerken in die Berliner Blase über und wird so ein
politisches Thema. Identitätspolitische Themen sind dabei vor allem bei Linken
das Thema schlechthin. Man sucht keine Gemeinsamkeiten, sondern Unterschiede und
definiert sich dann danach. So entstehen Feindbilder. Bedauerlicherweise werden
diese Debatten auch mit Herzblut von den Linken in den politischen Diskurs
übertragen. Sexismus und Rassismus sind wichtige Themen, keine Frage. Man sollte
gerade als politische Linke aber den Klassismus nicht aus den Augen verlieren.
Wie viele Lehrstühle gibt es eigentlich für Klassismus und wie viele für
Genderwissenschaften? Man debattiert über Gott und die Welt. Das Einzige, was
man komplett aus den Augen verloren hat, ist die Klassenfrage und mit ihr die
Vermögensverteilung mit all ihren Auswirkungen. Und so merkt der Frosch nicht
einmal, dass das Wasser immer wärmer. Wir haben die Vermögensfrage aus den Augen
verloren. Die Superreichen würden sicher »Gefällt mir« drücken. Bevor sich
etwas an der Vermögensverteilung ändern kann, müssen daher wir uns ändern. Wir
dürfen nicht weiter wie junge Hunde jedem Stöckchen hinterherrennen, das uns in
den sozialen Netzwerken oder von den Medien hingeworfen wird. So banal es
klingt – wenn wir etwas ändern wollen, ist genau das die conditio sine qua non –
auf die Politik dürfen wir da nicht zählen, denn die neigt zum Opportunismus. Im
Rahmen der ideologischen Leitplanken und in einem komplexen Zusammenspiel mit
den Interessengruppen im politischen Umfeld vertreten die Politiker meist die
Positionen, von denen man sich positive Umfrageergebnisse und bei Wahlen
möglichst viele Kreuze verspricht. Wenn der Themenkomplex Vermögensverteilung
für die Wähler nicht wahlentscheidend ist, brauchen wir uns daher auch nicht zu
wundern, dass der politische Reformwille nicht vorhanden ist. Wer wirklich etwas
ändern will, muss die Politik in die richtige Richtung treiben. Erst wenn sich
über die Frage der Vermögensverteilung die Frage der Verteilung der Futtertröge
im politischen System entscheidet, werden auch die Politiker dieses Thema für
sich entdecken und vielleicht sogar gewillt sein, etwas zu ändern. Ideen gäbe es
einige, und die Debatten dazu warten eigentlich nur darauf, geführt zu werden.
"
Autoren von "Der Frosch im Kochtopf: Schluss mit der Ungleichheit"
26.05.2024 - Der Frosch im Kochtopf: Schluss mit der Ungleichheit
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Der Traum einer Gesellschaft, in der jeder die gleichen Chancen hat und ohne materielle Sorgen sein Glück suchen kann, ist vorbei. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in Deutschland immer weiter auseinander. Die breite Mittelschicht, die einst unser Land gekennzeichnet und unsere Gesellschaft getragen hat, erodiert. Die Krisen der letzten Jahre haben diesen Trend verstärkt und die Politik will oder kann nicht gegensteuern. Jens Berger wirft in seinem Buch „Wem gehört Deutschland?“ einen schonungslosen Blick hinter die Zahlen und Statistiken, erklärt die Zusammenhänge und zeigt Lösungen, die unumgänglich sind, wenn wir den gesellschaftlichen Frieden im 21. Jahrhundert erhalten wollen.
"Dass die Vermögen in Deutschland ungleich verteilt sind, ist allseits geläufig – allenfalls das Maß der Ungleichheit und die Dynamik der Entwicklung sind vielfach überraschend. Es ist auch nicht so, dass die Ungleichheit zwar wahrgenommen, aber niemanden so richtig stören würde. Umfragen sprechen da eine klare Sprache. So einig man sich in der Wahrnehmung des Problems ist, so uneinig ist man sich in der Analyse der Ursachen. Und wenn es um konkrete Maßnahmen zur Lösung des Problems geht, ist man sich vollends uneins. Das Problem ist zwar erkannt. Maßnahmen wollen viele aber gar nicht ergreifen, oder sie glauben, dass diese nicht wirken oder sogar selbst ungerecht sind. Da wird dann beispielsweise eine höhere Erbschaftssteuer abgelehnt, weil man Angst hat, dass der Staat unser Oma ihr klein Häuschen wegnimmt. Geht es um eine höhere Besteuerung von Einkommen, wird der berühmte Facharbeiter bei VW in den Ring geworfen, der übrigens nicht, wie vielfach in den Medien behauptet, schon heute den Spitzensteuersatz zahlt.
Der Widerspruch ist mit den Händen zu greifen. Fragt man die Bürger frei nach den wichtigsten Themen, so werden meist »Mieten, Preise, Einkommen, Bildung und Rente« genannt – allesamt Themen, die direkt etwas mit der Vermögensverteilung zu tun haben. Dennoch werden Lösungen, diese zu entschärfen, die sich öffnende Schere wieder zu schließen, nicht ernsthaft debattiert – und auf die Straße geht deswegen auch fast niemand.
Dieses Phänomen erinnert an den sprichwörtlichen Frosch, den man in einen Kochtopf gesetzt hat und dann das Wasser langsam erhitzt. Die Ungleichheit wird immer größer, doch große Teile der Bevölkerung nehmen dies passiv hin. Sie sehen zwar das Problem, noch fühlen sie sich im warmen Wasser aber recht wohl. Forderungen nach einer echten Umverteilung von oben nach unten gibt es nicht – schon gar nicht aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Und selbst die, die wenig haben, denken meist, dass es schon irgendwie reicht. Man muss ja schließlich auch genügsam sein und anderen geht es schließlich noch schlechter. 70 Prozent der Befragten der Triggerpunkte-Studien sind überzeugt, sie persönlich bekämen ihren gerechten Anteil. Das ist überraschend.
Ein Erklärungsansatz, warum die meisten Menschen passiv bleiben, ist die Art und Weise, wie die öffentlichen Debatten um diesen Themenkomplex geführt und medial präsentiert werden. Es ist nicht so, dass die Probleme als solche totgeschwiegen werden. Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen verschweigen die Zahlen nicht: Alle paar Wochen finden sich sogar progressive Beiträge, in denen dann etwa die Steuerumgehung der Superreichen kritisiert wird, etwa die ZDF-Dokumentation Die geheime Welt der Superreichen vom Dezember 2023. Das ist löblich, reicht aber nicht.
Woran es mangelt, ist die Kenntnis über die Zusammenhänge. Aber wo soll diese Kenntnis für Otto Normalmedienkonsument auch herkommen? Die Medien beklagen die Konzentration des Vermögens an der Spitze, zeigen jedoch keine Lösungen und ergreifen bei konkreten Umverteilungsdebatten meist die Position der Besitzstandswahrer am obersten Ende der Vermögensskala. Geht es beispielsweise um die Reaktivierung der Vermögenssteuer, werden die Gegenargumente der Lobbyisten der Reichen breit ausgewalzt. Die kommen dann von Lobbyorganisationen, die sich gern hinter unauffälligen Namen wie »Die Familienunternehmer« verstecken.
In den vorwiegend marktliberalen Qualitätszeitungen sind die Argumente der Lobbys ohnehin gang und gäbe und werden dort wohl auch von vielen verantwortlichen Redakteuren geteilt. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Leider haben sich auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender in weiten Teilen in diesen Chor eingereiht. Man berichtet, versäumt es aber, das Berichtete in einen größeren Kontext zu stellen, Zusammenhänge zu erklären – und so bleibt das gesamte Thema Vermögensverteilung auf einer abstrakten Ebene. Wen wundert es da, dass Otto Normalmedienkonsument und Dr. Qualitätszeitungsabonnent beim Schlagwort Vermögenssteuer zunächst eine Gefahr für die Arbeitsplätze und beim Thema Erbschaftssteuer plötzlich Angst davor haben, dass der nimmersatte Staat sich nun auch noch das Elternhaus unter den Nagel reißen will?
Es ist jedoch nicht nur das traditionelle Mediensystem mit seinem Einwegkommunikationsmodell, bei dem Informationen und Meinungen von einem Sender an einen oder mehrere Empfänger übermittelt werden. Ganz im Gegenteil. Der Siegeszug der interaktiven Kommunikation in sozialen Netzwerken wie Facebook oder X macht die Sache nicht besser, sondern sogar schlechter. Am Ende sind wir nicht informierter, sondern befinden uns in einem Dauererregungszustand. Nahezu täglich wird in den sozialen Netzwerken die nächste Sau durchs virtuelle Dorf getrieben. Doch im gleichen Maß, wie unsere Erregung steigt, sinkt auch unsere Aufmerksamkeitsspanne. Die Debatte wird schneller, oberflächlicher, undifferenzierter und löst sich genauso schnell wieder im digitalen Nirwana auf, wie sie entstanden ist.
Wie das vonstattengeht, zeigt beispielhaft eine Woche im April 2019. Erst ging der Berliner Volksentscheid zur Enteignung der Immobilienkonzerne durch die Medien. Flugs echauffierte sich das Netz über »Enteignungen«, und in den linken Ecken der Netzwerke wehte gar ein Hauch von Revolution durch die virtuelle Arena. Man ließ seinen Avatar durch einen Algorithmus mit einem Enteignet-Deutsche-Wohnen-und-Co.-Sticker verschönen und schwor »den Kapitalisten«, sie diesmal nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. Zum Glück für die Kapitalisten hatte der »rote Spuk« jedoch schon wenige Tage später ein Ende. Nun standen Julian Assange und seine drohende Auslieferung in die USA im Fadenkreuz der Klicktivisten. Die Enteignungssticker wichen in Windeseile #FreeAssange-Soli-Stickern, und es wurden einschlägige Online-Petitionen angeklickt. So hyperaktiv war die Community selten. Dann fing in Paris Notre-Dame Feuer – jetzt solidarisierte man sich mit den Parisern, besorgte sich fix Je-suis-Notre-Dame-Sticker und überflutete die Netzwerke mit genau den Videos und Bildern, die zeitgleich die TV-Kanäle überfluteten. Um sich tags darauf darüber zu kabbeln, ob eine brennende Kathedrale schlimmer sei als ein Flüchtlingskind, das im Mittelmeer ertrinkt, und warum man so einen Wind um eine Kirche mache. Die Frage des Besitzverhältnisses der Berliner Wohnungen war spätestens dann vergessen.
Die Karawane der Empörung ist in steter Bewegung und verharrt selten so lange an einem Ort, dass es ausreicht, der Empörung einmal Nachdruck zu verleihen. Gelang es früher, in einem langwierigen Prozess die Menschen für ein Thema zu interessieren, sie auf die Straße zu bringen und im besten Fall etwas an den Umständen zu ändern, so scheint es heute schon ein großer Erfolg zu sein, wenn man es geschafft hat, ein Thema zwei Tage lang in den Twitter-Trends zu positionieren. Man empört sich, weiß aber, dass sich an den Umständen ohnehin nichts ändert. Wie sollte es auch?
Leider findet dieses Spektakel nicht im luftleeren Raum statt. Zu den eifrigsten Twitter-Empörten zählt heutzutage der Kern der Berliner Blase – Politiker und Journalisten. Es ist ein Geben und Nehmen. Mal schwappt eine belanglose Debatte aus der Berliner Blase in die Netzwerke und wird so ein Twitter-Trend, mal schwappt eine ebenso belanglose Debatte aus den Netzwerken in die Berliner Blase über und wird so ein politisches Thema. Identitätspolitische Themen sind dabei vor allem bei Linken das Thema schlechthin. Man sucht keine Gemeinsamkeiten, sondern Unterschiede und definiert sich dann danach. So entstehen Feindbilder. Bedauerlicherweise werden diese Debatten auch mit Herzblut von den Linken in den politischen Diskurs übertragen. Sexismus und Rassismus sind wichtige Themen, keine Frage. Man sollte gerade als politische Linke aber den Klassismus nicht aus den Augen verlieren. Wie viele Lehrstühle gibt es eigentlich für Klassismus und wie viele für Genderwissenschaften?
Man debattiert über Gott und die Welt. Das Einzige, was man komplett aus den Augen verloren hat, ist die Klassenfrage und mit ihr die Vermögensverteilung mit all ihren Auswirkungen. Und so merkt der Frosch nicht einmal, dass das Wasser immer wärmer. Wir haben die Vermögensfrage aus den Augen verloren. Die Superreichen würden sicher »Gefällt mir« drücken.
Bevor sich etwas an der Vermögensverteilung ändern kann, müssen daher wir uns ändern. Wir dürfen nicht weiter wie junge Hunde jedem Stöckchen hinterherrennen, das uns in den sozialen Netzwerken oder von den Medien hingeworfen wird. So banal es klingt – wenn wir etwas ändern wollen, ist genau das die conditio sine qua non – auf die Politik dürfen wir da nicht zählen, denn die neigt zum Opportunismus. Im Rahmen der ideologischen Leitplanken und in einem komplexen Zusammenspiel mit den Interessengruppen im politischen Umfeld vertreten die Politiker meist die Positionen, von denen man sich positive Umfrageergebnisse und bei Wahlen möglichst viele Kreuze verspricht. Wenn der Themenkomplex Vermögensverteilung für die Wähler nicht wahlentscheidend ist, brauchen wir uns daher auch nicht zu wundern, dass der politische Reformwille nicht vorhanden ist. Wer wirklich etwas ändern will, muss die Politik in die richtige Richtung treiben. Erst wenn sich über die Frage der Vermögensverteilung die Frage der Verteilung der Futtertröge im politischen System entscheidet, werden auch die Politiker dieses Thema für sich entdecken und vielleicht sogar gewillt sein, etwas zu ändern. Ideen gäbe es einige, und die Debatten dazu warten eigentlich nur darauf, geführt zu werden.
Autoren von "Der Frosch im Kochtopf: Schluss mit der Ungleichheit"
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