Während die »Rückkehr« zu einer patriarchalen Gesellschaft die Hierarchie in der
faschistischen Politik verfestigt, so reicht der Ursprung dieser Rangordnung
noch tiefer in der Geschichte zurück – im Falle Ungarns sogar bis zum Heiligen
Stephan. In glorreicher Vergangenheit nahmen die Mitglieder der jeweiligen
nationalen oder ethnischen Gemeinschaft ihren rechtmäßigen Platz an der Spitze
ein, indem sie die kulturelle und wirtschaftliche Ausrichtung bestimmten, der
alle anderen zu folgen hatten. Dies ist strategisch grundlegend. Man kann sich
die faschistische Politik als eine Politik der Hierarchie vorstellen (in den
Vereinigten Staaten beispielsweise verlangt und impliziert die Ideologie der
»White Supremacy« eine dauerhafte gesellschaftliche Rangordnung mit den Weißen
an der Spitze); und um diese Hierarchie zu verstehen, ist es hilfreich, sie als
eine Verdrängung der Realität durch Macht zu betrachten. Glaubt eine Bevölkerung
erst einmal, dass sie eine rechtmäßige Sonderstellung einnimmt, dass sie von der
Natur oder vom religiösen Schicksal dazu auserkoren wurde, andere Völker zu
beherrschen, so hat man sie bereits von einer ungeheuren Lüge überzeugt.
Der Nationalsozialismus ging aus der völkischen Bewegung hervor, deren Anhänger
eine Rückkehr zu den Traditionen einer mythischen deutschen mittelalterlichen
Vergangenheit anstrebten. Obwohl Adolf Hitler als Vorbild für sein Reich eher
von einer gewissen Vision des antiken Griechenlands besessen war, handelte es
sich bei führenden Nazis wie Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler um glühende
Verehrer und Förderer völkischen Gedankenguts. In The
Science of the Swastika (»Die Wissenschaft des Hakenkreuzes«), seiner
2008 erschienenen Geschichte der Beziehungen zwischen der deutschen
Altertumswissenschaft und dem Nationalsozialismus, schreibt Bernard Mees:
Völkische Autoren fanden schon bald heraus, dass das Bild der frühen Deutschen
praktischen Zwecken dienlich gemacht werden konnte; die glorreiche germanische
Vergangenheit ließ sich als Rechtfertigung für die imperialistischen Ziele der
Gegenwart verwenden. Hitlers Bestreben, Kontinentaleuropa zu beherrschen, wurde
in den späten 1930er-Jahren in nationalsozialistischen Zeitschriften zur bloßen
Erfüllung der germanischen Bestimmung erklärt, als Wiederholung der
prähistorischen arischen und später germanischen Völkerwanderung durch den
Kontinent in der Spätantike.
Die von Rosenberg, Himmler und anderen Nazi-Anführern entwickelten Taktiken
haben seither die faschistische Politik in weiteren Ländern inspiriert. Den
Anhängern der indischen Hindutva-Bewegung zufolge bestand die Urbevölkerung
Indiens aus Hindus, die bis zur Ankunft der Muslime und später der Christen –
die dekadente westliche Werte einführten – nach patriarchalen Bräuchen und
streng puritanischen Sexualpraktiken lebten. Damit haben sie eine mythische
Vergangenheit fabriziert, in der das Land noch eine reine Hindu-Nation war, um
das, was von Wissenschaftlern als die tatsächliche Geschichte Indiens angesehen
wird, auf dramatisierte Weise aufzupolieren. Die heute dominierende
nationalistische Partei, die BJP, bekennt sich offen zur Hindutva-Ideologie. Mit
einer emotionalen Rhetorik, die eine Rückkehr zu dieser fiktiven, patriarchalen,
streng konservativen, ethnisch und religiös reinen Vergangenheit fordert, hat
sie die Macht im Land gewonnen. Die BJP ist aus dem politischen Arm der
Rashtriya Swayamsevak Sangh (»Nationale Freiwilligenorganisation«, RSS)
hervorgegangen, einer rechtsextremen, hindu-nationalistischen Partei, die sich
für die Unterdrückung von Minderheiten anderen Glaubens einsetzte. Nathuram
Godse, der Mann, der den Mordanschlag auf Gandhi verübt hatte, war Mitglied der
RSS – wie auch der derzeitige indische Premierminister Narendra Modi. Die Partei
stand eindeutig unter dem Einfluss faschistischer Bewegungen aus Europa; in den
späten 1930er- und 1940er-Jahren lobten seine führenden Politiker regelmäßig
Hitler und Mussolini.
Das strategische Ziel von hierarchischen Geschichtskonstruktionen besteht darin,
die Wahrheit zu verdrängen, und die Erfindung einer glorreichen Geschichte
umfasst stets das Ausblenden unbequemer Tatsachen. Zwar erhebt faschistische
Politik die Vergangenheit zu einem Fetisch – zugleich aber ist es niemals die
wirkliche Vergangenheit, die fetischisiert wird. Erfundene
Geschichtsdarstellungen spielen die früheren Sünden der Nation herunter oder
tilgen sie ganz. Charakteristisch für Faschisten ist, dass sie die tatsächliche
Vergangenheit eines Landes in verschwörerischer Manier zu einer von liberalen
Eliten und Kosmopoliten erfundenen Erzählung umdeuten, die dazu diene, die
Menschen der wahren »Nation« zu schikanieren. In den Vereinigten Staaten etwa
wurden noch lange nach dem Ende des Sezessionskriegs Denkmäler für die
Konföderierten errichtet – als Teil einer mythologisierten Geschichte der
heldenhaften Südstaaten, die den Schrecken der Sklaverei kaum Beachtung schenkt.
Trump brandmarkte die Notwendigkeit, diese Darstellung der Vergangenheit mit der
Sklaverei in Verbindung zu bringen, als einen Versuch, weiße Amerikaner dafür
herabzuwürdigen, dass sie ihr »Erbe« feiern. […]
Faschistische Politik verleugnet die dunklen Momente in der Vergangenheit einer
Nation. Anfang 2018 verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz, das es
untersagt, Polen für jegliche während der nationalsozialistischen Besatzung auf
heimischem Boden begangenen Gräueltaten eine Verantwortung zuzuschreiben. Dies
gilt selbst für die gut dokumentierten Pogrome zu jener Zeit. Laut Radio Polen
heißt es in Artikel 55a, Absatz 1 des Gesetzentwurfs:
Wer öffentlich und tatsachenwidrig die polnische Nation oder den polnischen
Staat beschuldigt, für vom Dritten Reich begangene nationalsozialistische
Verbrechen verantwortlich zu sein oder daran mitgewirkt zu haben […] oder für
andere Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit oder für
Kriegsverbrechen verantwortlich oder mitschuldig zu sein, oder die tatsächlichen
Täter auf andere Weise davon freispricht, wird mit einer Geldstrafe oder einer
Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft.
Ähnlich verbietet Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs die »Beleidigung
des Türkentums« – dazu gehört die Erwähnung des Völkermords an den Armeniern im
Ersten Weltkrieg. Derartige Versuche, die Tilgung der Vergangenheit einer Nation
gesetzlich zu regeln, sind charakteristisch für faschistische Regime.
Frankreichs Rassemblement National hat als erste rechtsextreme Partei in
Westeuropa nennenswerte Wahlerfolge erzielen können. Ihr ursprünglicher
Anführer, Jean-Marie Le Pen, wurde wegen Holocaust-Leugnung verurteilt; seine
Tochter und Nachfolgerin als Vorsitzende der Partei, Marine Le Pen, belegte bei
den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 den zweiten Platz. Die Rolle der
französischen Polizei beim Aufspüren von Juden, die unter der Vichy-Regierung in
die Vernichtungslager der Nazis geschickt wurden, ist gut dokumentiert. Doch
während des Wahlkampfs 2017 leugnete Marine Le Pen die französische Mitschuld an
einer besonders großen Verhaftungsaktion, bei der man 13000 Juden auf der
Radrennbahn Vélodrome d’Hiver zusammentrieb und anschließend in den Tod
schickte. Im April 2017 sagte sie in einem Fernsehinterview: »Ich meine nicht,
dass Frankreich für Vel’ d’Hiv verantwortlich ist […]. Wenn es überhaupt
Verantwortliche gibt, dann sind es diejenigen, die damals an der Macht waren.
Aber nicht Frankreich.« Sie fügte hinzu, die vorherrschende liberale Kultur habe
»unseren Kindern beigebracht, dass es gute Gründe gebe, [das Land] zu
kritisieren und immer nur die dunkelsten Seiten unserer Geschichte zu sehen. Ich
hingegen möchte, dass sie wieder stolz auf Frankreich sind.«
In Deutschland, wo das Gesetz eine vergleichbare öffentliche Leugnung des
Holocausts verbietet, schockierte die rechtsextreme AfD bei den Wahlen 2017 die
Öffentlichkeit, indem sie die drittgrößte Partei im Deutschen Bundestag wurde.
Während des Wahlkampfs hielt der Parteivorsitzende Alexander Gauland, eine Rede,
in der er sagte: »Kein Volk hat so gründlich mit einer falschen Vergangenheit
aufgeräumt wie das deutsche«, und forderte, »dem deutschen Volk die
Vergangenheit zurückzugeben«, womit freilich eine Version derselben gemeint war,
in der die Deutschen »auf die Leistungen unserer Soldaten in beiden Weltkriegen
stolz« sein dürfen. Ähnlich wie einige Republikaner in den USA versuchen, weiße
Ressentiments zu bedienen, indem sie sorgfältige historische Forschung zur
Brutalität der Sklaverei als ein Mittel zur »Diskriminierung« der amerikanischen
Weißen, insbesondere aus dem Süden, anprangern, versucht die AfD, Wählerstimmen
zu gewinnen, indem sie die tatsächliche Geschichte der Nazi-Vergangenheit als
eine Form der Diskriminierung des deutschen Volkes darstellt. In einer Rede
Anfang 2017 in Dresden forderte Björn Höcke, einer der führenden Köpfe der
Partei, leidenschaftlich »eine Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und
zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt«.
Höckes Äußerungen hallen dem Schöpfer des Mythos von Nazideutschland in
verstörender Weise nach. Heinrich Himmler selbst sprach 1936 ähnlich von der
Hochschätzung des Erreichten:
Ein Volk lebt so lange glücklich in Gegenwart und Zukunft, als es sich seiner
Vergangenheit und der Größe seiner Ahnen bewusst ist.
Wir wollen unseren Mitmenschen und dem deutschen Volk deutlich machen, dass wir
nicht nur auf eine etwa tausendjährige Vergangenheit zurückblicken können und
dass wir kein barbarisches Volk waren, das über keine eigene Kultur verfügte,
die es von anderen hätte übernehmen müssen. – Wir wollen unser Volk wieder stolz
auf die eigene Geschichte machen.
Dort, wo die faschistische Politik nicht einfach eine Vergangenheit erfindet, um
die Nostalgie als Waffe einzusetzen, greift sie stattdessen selektiv auf die
Geschichte zurück und leugnet alles, was die unreflektierte Bewunderung für den
Ruhm der Nation schmälern würde.
Autoren von "Faschismus und die mythische Vergangenheit"
01.06.2024 - Faschismus und die mythische Vergangenheit
Faschismus und die mythische Vergangenheit
Weltweit hat faschistische Politik wieder starken Zulauf: ob in den USA, in Myanmar, in Indien oder in Europa, wo mit Spannung auf die Wahlen vom 6. bis 9. Juni geblickt wird. Jason Stanley, der an Yale University Philosophie lehrt, identifiziert in seinem Buch „Wie Faschismus funktioniert“ zehn Säulen faschistischer Politik und zeichnet ihren erschreckenden Wiederaufstieg und ihre Geschichte nach. Ob das die Mythologisierung der Vergangenheit einer Nation ist, ein gegen die Wissenschaft und Experten gerichteter Anti-Intellektualismus oder auch die Kriminalisierung von Minderheitengruppen – diese Säulen formen die Sprache und die Überzeugungen, die Menschen in ein „Wir“ und ein „Sie“ unterteilen. Die faschistischen Taktiken greifen ineinander und entwickeln zusammen eine ungeheure Kraft, die letztlich eine für die Appelle einer autoritären Führung anfällige Gesellschaft formt.
Während die »Rückkehr« zu einer patriarchalen Gesellschaft die Hierarchie in der faschistischen Politik verfestigt, so reicht der Ursprung dieser Rangordnung noch tiefer in der Geschichte zurück – im Falle Ungarns sogar bis zum Heiligen Stephan. In glorreicher Vergangenheit nahmen die Mitglieder der jeweiligen nationalen oder ethnischen Gemeinschaft ihren rechtmäßigen Platz an der Spitze ein, indem sie die kulturelle und wirtschaftliche Ausrichtung bestimmten, der alle anderen zu folgen hatten. Dies ist strategisch grundlegend. Man kann sich die faschistische Politik als eine Politik der Hierarchie vorstellen (in den Vereinigten Staaten beispielsweise verlangt und impliziert die Ideologie der »White Supremacy« eine dauerhafte gesellschaftliche Rangordnung mit den Weißen an der Spitze); und um diese Hierarchie zu verstehen, ist es hilfreich, sie als eine Verdrängung der Realität durch Macht zu betrachten. Glaubt eine Bevölkerung erst einmal, dass sie eine rechtmäßige Sonderstellung einnimmt, dass sie von der Natur oder vom religiösen Schicksal dazu auserkoren wurde, andere Völker zu beherrschen, so hat man sie bereits von einer ungeheuren Lüge überzeugt.
Der Nationalsozialismus ging aus der völkischen Bewegung hervor, deren Anhänger eine Rückkehr zu den Traditionen einer mythischen deutschen mittelalterlichen Vergangenheit anstrebten. Obwohl Adolf Hitler als Vorbild für sein Reich eher von einer gewissen Vision des antiken Griechenlands besessen war, handelte es sich bei führenden Nazis wie Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler um glühende Verehrer und Förderer völkischen Gedankenguts. In The Science of the Swastika (»Die Wissenschaft des Hakenkreuzes«), seiner 2008 erschienenen Geschichte der Beziehungen zwischen der deutschen Altertumswissenschaft und dem Nationalsozialismus, schreibt Bernard Mees:
Völkische Autoren fanden schon bald heraus, dass das Bild der frühen Deutschen praktischen Zwecken dienlich gemacht werden konnte; die glorreiche germanische Vergangenheit ließ sich als Rechtfertigung für die imperialistischen Ziele der Gegenwart verwenden. Hitlers Bestreben, Kontinentaleuropa zu beherrschen, wurde in den späten 1930er-Jahren in nationalsozialistischen Zeitschriften zur bloßen Erfüllung der germanischen Bestimmung erklärt, als Wiederholung der prähistorischen arischen und später germanischen Völkerwanderung durch den Kontinent in der Spätantike.
Die von Rosenberg, Himmler und anderen Nazi-Anführern entwickelten Taktiken haben seither die faschistische Politik in weiteren Ländern inspiriert. Den Anhängern der indischen Hindutva-Bewegung zufolge bestand die Urbevölkerung Indiens aus Hindus, die bis zur Ankunft der Muslime und später der Christen – die dekadente westliche Werte einführten – nach patriarchalen Bräuchen und streng puritanischen Sexualpraktiken lebten. Damit haben sie eine mythische Vergangenheit fabriziert, in der das Land noch eine reine Hindu-Nation war, um das, was von Wissenschaftlern als die tatsächliche Geschichte Indiens angesehen wird, auf dramatisierte Weise aufzupolieren. Die heute dominierende nationalistische Partei, die BJP, bekennt sich offen zur Hindutva-Ideologie. Mit einer emotionalen Rhetorik, die eine Rückkehr zu dieser fiktiven, patriarchalen, streng konservativen, ethnisch und religiös reinen Vergangenheit fordert, hat sie die Macht im Land gewonnen. Die BJP ist aus dem politischen Arm der Rashtriya Swayamsevak Sangh (»Nationale Freiwilligenorganisation«, RSS) hervorgegangen, einer rechtsextremen, hindu-nationalistischen Partei, die sich für die Unterdrückung von Minderheiten anderen Glaubens einsetzte. Nathuram Godse, der Mann, der den Mordanschlag auf Gandhi verübt hatte, war Mitglied der RSS – wie auch der derzeitige indische Premierminister Narendra Modi. Die Partei stand eindeutig unter dem Einfluss faschistischer Bewegungen aus Europa; in den späten 1930er- und 1940er-Jahren lobten seine führenden Politiker regelmäßig Hitler und Mussolini.
Das strategische Ziel von hierarchischen Geschichtskonstruktionen besteht darin, die Wahrheit zu verdrängen, und die Erfindung einer glorreichen Geschichte umfasst stets das Ausblenden unbequemer Tatsachen. Zwar erhebt faschistische Politik die Vergangenheit zu einem Fetisch – zugleich aber ist es niemals die wirkliche Vergangenheit, die fetischisiert wird. Erfundene Geschichtsdarstellungen spielen die früheren Sünden der Nation herunter oder tilgen sie ganz. Charakteristisch für Faschisten ist, dass sie die tatsächliche Vergangenheit eines Landes in verschwörerischer Manier zu einer von liberalen Eliten und Kosmopoliten erfundenen Erzählung umdeuten, die dazu diene, die Menschen der wahren »Nation« zu schikanieren. In den Vereinigten Staaten etwa wurden noch lange nach dem Ende des Sezessionskriegs Denkmäler für die Konföderierten errichtet – als Teil einer mythologisierten Geschichte der heldenhaften Südstaaten, die den Schrecken der Sklaverei kaum Beachtung schenkt. Trump brandmarkte die Notwendigkeit, diese Darstellung der Vergangenheit mit der Sklaverei in Verbindung zu bringen, als einen Versuch, weiße Amerikaner dafür herabzuwürdigen, dass sie ihr »Erbe« feiern. […]
Faschistische Politik verleugnet die dunklen Momente in der Vergangenheit einer Nation. Anfang 2018 verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz, das es untersagt, Polen für jegliche während der nationalsozialistischen Besatzung auf heimischem Boden begangenen Gräueltaten eine Verantwortung zuzuschreiben. Dies gilt selbst für die gut dokumentierten Pogrome zu jener Zeit. Laut Radio Polen heißt es in Artikel 55a, Absatz 1 des Gesetzentwurfs:
Wer öffentlich und tatsachenwidrig die polnische Nation oder den polnischen Staat beschuldigt, für vom Dritten Reich begangene nationalsozialistische Verbrechen verantwortlich zu sein oder daran mitgewirkt zu haben […] oder für andere Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit oder für Kriegsverbrechen verantwortlich oder mitschuldig zu sein, oder die tatsächlichen Täter auf andere Weise davon freispricht, wird mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft.
Ähnlich verbietet Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs die »Beleidigung des Türkentums« – dazu gehört die Erwähnung des Völkermords an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Derartige Versuche, die Tilgung der Vergangenheit einer Nation gesetzlich zu regeln, sind charakteristisch für faschistische Regime.
Frankreichs Rassemblement National hat als erste rechtsextreme Partei in Westeuropa nennenswerte Wahlerfolge erzielen können. Ihr ursprünglicher Anführer, Jean-Marie Le Pen, wurde wegen Holocaust-Leugnung verurteilt; seine Tochter und Nachfolgerin als Vorsitzende der Partei, Marine Le Pen, belegte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 den zweiten Platz. Die Rolle der französischen Polizei beim Aufspüren von Juden, die unter der Vichy-Regierung in die Vernichtungslager der Nazis geschickt wurden, ist gut dokumentiert. Doch während des Wahlkampfs 2017 leugnete Marine Le Pen die französische Mitschuld an einer besonders großen Verhaftungsaktion, bei der man 13000 Juden auf der Radrennbahn Vélodrome d’Hiver zusammentrieb und anschließend in den Tod schickte. Im April 2017 sagte sie in einem Fernsehinterview: »Ich meine nicht, dass Frankreich für Vel’ d’Hiv verantwortlich ist […]. Wenn es überhaupt Verantwortliche gibt, dann sind es diejenigen, die damals an der Macht waren. Aber nicht Frankreich.« Sie fügte hinzu, die vorherrschende liberale Kultur habe »unseren Kindern beigebracht, dass es gute Gründe gebe, [das Land] zu kritisieren und immer nur die dunkelsten Seiten unserer Geschichte zu sehen. Ich hingegen möchte, dass sie wieder stolz auf Frankreich sind.«
In Deutschland, wo das Gesetz eine vergleichbare öffentliche Leugnung des Holocausts verbietet, schockierte die rechtsextreme AfD bei den Wahlen 2017 die Öffentlichkeit, indem sie die drittgrößte Partei im Deutschen Bundestag wurde. Während des Wahlkampfs hielt der Parteivorsitzende Alexander Gauland, eine Rede, in der er sagte: »Kein Volk hat so gründlich mit einer falschen Vergangenheit aufgeräumt wie das deutsche«, und forderte, »dem deutschen Volk die Vergangenheit zurückzugeben«, womit freilich eine Version derselben gemeint war, in der die Deutschen »auf die Leistungen unserer Soldaten in beiden Weltkriegen stolz« sein dürfen. Ähnlich wie einige Republikaner in den USA versuchen, weiße Ressentiments zu bedienen, indem sie sorgfältige historische Forschung zur Brutalität der Sklaverei als ein Mittel zur »Diskriminierung« der amerikanischen Weißen, insbesondere aus dem Süden, anprangern, versucht die AfD, Wählerstimmen zu gewinnen, indem sie die tatsächliche Geschichte der Nazi-Vergangenheit als eine Form der Diskriminierung des deutschen Volkes darstellt. In einer Rede Anfang 2017 in Dresden forderte Björn Höcke, einer der führenden Köpfe der Partei, leidenschaftlich »eine Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt«.
Höckes Äußerungen hallen dem Schöpfer des Mythos von Nazideutschland in verstörender Weise nach. Heinrich Himmler selbst sprach 1936 ähnlich von der Hochschätzung des Erreichten:
Ein Volk lebt so lange glücklich in Gegenwart und Zukunft, als es sich seiner Vergangenheit und der Größe seiner Ahnen bewusst ist.
Wir wollen unseren Mitmenschen und dem deutschen Volk deutlich machen, dass wir nicht nur auf eine etwa tausendjährige Vergangenheit zurückblicken können und dass wir kein barbarisches Volk waren, das über keine eigene Kultur verfügte, die es von anderen hätte übernehmen müssen. – Wir wollen unser Volk wieder stolz auf die eigene Geschichte machen.
Dort, wo die faschistische Politik nicht einfach eine Vergangenheit erfindet, um die Nostalgie als Waffe einzusetzen, greift sie stattdessen selektiv auf die Geschichte zurück und leugnet alles, was die unreflektierte Bewunderung für den Ruhm der Nation schmälern würde.
Autoren von "Faschismus und die mythische Vergangenheit"
Bücher von Jason Stanley