23.04.2024 - Wie lange wollen wir den selektiven Humanismus Europas noch ertragen?
Katrin Glatz Brubakk:
Wie ein Zahnrad das einen Draht spannt, Umdrehung um Umdrehung, wird die
Situation für Menschen, die nach Europa fliehen, immer schwieriger. Einzeln sind
die Veränderungen oft so gering, dass sie nicht einmal in den Nachrichten
erwähnt werden, aber der Gesamteffekt ist ein Verrat an jeglicher Moral und
Menschlichkeit, sagt Katrin Glatz
Brubakk, Kinderpsychologin und Feldarbeiterin bei Ärzte ohne Grenzen.
Seit Beginn des Flüchtlingsstroms nach Europa im Jahr 2015
besteht die Strategie darin, Schutzsuchende auszugrenzen. Diejenigen, die
es schaffen, einen Asylantrag zu stellen, werden so schlecht behandelt, dass es
abschreckend auf jeden wirken soll, der in Erwägung zieht, nach ihm zu kommen.
Ein neuer Bericht von Ärzte ohne Grenzen, der auf Daten
aus unserer Arbeit in den Ländern entlang der europäischen Außengrenzen in den
letzten zwei Jahren basiert, zeigt ein düsteres Bild der gesundheitlichen und
menschenrechtlichen Folgen dieser Politik. In dem Versuch, die Ankunft von
Vertriebenen zu verhindern, setzt Europa auf einen tödlichen Cocktail aus
geschlossenen Grenzen und Outsourcing von Schutzmaßnahmen und Asylverfahren,
Inhaftierung und Pushbacks, Gewalt und mangelnder Gesundheitsversorgung.
Die Teams von Ärzte ohne Grenzen sehen sich oft mit Verletzungen konfrontiert,
die eine direkte Folge politischer Entscheidungen sind. Mehr als 28.000 Menschen
wurden wegen des Leids, das ihnen von der Politik zugefügt wurde, medizinisch
von uns behandelt. Sowohl physische als auch psychische Schäden, die mit einer
humaneren Politik hätten vermieden werden können.
Wir Menschen sind extrem anpassungsfähig – im Guten wie im
Schlechten. Wir stählen uns und passen unsere Erwartungen an, wenn sich die Welt
um uns herum verändert. Aber wir fangen auch an, Ungerechtigkeiten zu ertragen,
die uns früher angewidert hätten. Zum Beispiel das Kinder, die routinemäßig in
gefängnisähnlichen Lagern eingesperrt werden, ohne Schulbildung und angemessene
medizinische Versorgung. Dass Zehntausende ertrinken, weil es keine
Rettungsschiffe gibt, die sie retten können. Dass Mitmenschen an den Grenzzäunen
an Europas Außengrenzen aus "einwanderungsrechtlichen Gründen" erfrieren. Denn
jedes Mal, wenn wir uns abwenden, diese Praxis normalisieren und akzeptieren,
wird ein Teil unseres Herzens ein wenig kälter.
Wir öffnen nicht mehr unsere Arme und heißen Menschen auf
der Flucht willkommen. Wir drängen die Leute zurück. Wir akzeptieren den neuen
"Migrations- und Asylpakt" der EU und damit eine Bekräftigung des selektiven
Humanismus, den Europa seit langem praktiziert. Der Pakt sieht vor, dass
Vertriebene – Kinder wie Erwachsene – in Lagern entlang der Grenze festgehalten
werden können. Sie können eingesperrt werden, auch wenn sie nichts Illegales
getan haben. Milliarden von Euro werden ausgegeben, um Asylsuchende durch die
Unterstützung der Grenzschutzbeamten afrikanischer Länder fernzuhalten, obwohl
gut dokumentiert ist, dass beispielsweise die libysche Küstenwache brutale
Methoden anwendet, um Flüchtende aufzuhalten, und dass die Lager, in die sie
zurückgeschickt werden, von massiver Gewalt geprägt sind. Unsere Patienten
und Patientinnen leiden zunehmend an psychischen Störungen wie Depressionen,
Angstzuständen, PTBS und Psychosen als Folge der Behandlung, der sie ausgesetzt
sind. Eine direkte Folge der gewollten Politik.
Die Identität des modernen Europas beruht auf den
grundlegenden Menschenrechten und der Idee, dass alle Menschen gleichwertig
sind. Wir haben uns diese Ideen zu eigen gemacht, als Staatsoberhäupter die Welt
bereisten und Länder wie Russland, China und Saudi-Arabien zur Achtung der
Menschenrechte aufriefen. Angesichts der Art und Weise, wie Europa mit Menschen
umgeht, die auf unserem Kontinent Sicherheit suchen, kann man das nur als
Heuchelei bezeichnen. Europa entfernt sich von den universellen Menschenrechten
und macht den Humanismus selbst selektiv. Du bekommst – du bekommst nicht – das
Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Freiheit und Familienleben. Menschen,
die aus anderen Kontinenten fliehen, lassen wir ertrinken, erfrieren, und wenn
wir sie aufnehmen müssen, sperren wir sie ein und verstecken sie in Unorten, an
denen sie niemand sieht, hört oder ihnen helfen kann.
Wollen wir das wirklich ertragen?
Autoren von "Wie lange wollen wir den selektiven Humanismus Europas noch ertragen?"
23.04.2024 - Wie lange wollen wir den selektiven Humanismus Europas noch ertragen?
Wie ein Zahnrad das einen Draht spannt, Umdrehung um Umdrehung, wird die Situation für Menschen, die nach Europa fliehen, immer schwieriger. Einzeln sind die Veränderungen oft so gering, dass sie nicht einmal in den Nachrichten erwähnt werden, aber der Gesamteffekt ist ein Verrat an jeglicher Moral und Menschlichkeit, sagt Katrin Glatz Brubakk, Kinderpsychologin und Feldarbeiterin bei Ärzte ohne Grenzen.
Seit Beginn des Flüchtlingsstroms nach Europa im Jahr 2015 besteht die Strategie darin, Schutzsuchende auszugrenzen. Diejenigen, die es schaffen, einen Asylantrag zu stellen, werden so schlecht behandelt, dass es abschreckend auf jeden wirken soll, der in Erwägung zieht, nach ihm zu kommen.
Ein neuer Bericht von Ärzte ohne Grenzen, der auf Daten aus unserer Arbeit in den Ländern entlang der europäischen Außengrenzen in den letzten zwei Jahren basiert, zeigt ein düsteres Bild der gesundheitlichen und menschenrechtlichen Folgen dieser Politik. In dem Versuch, die Ankunft von Vertriebenen zu verhindern, setzt Europa auf einen tödlichen Cocktail aus geschlossenen Grenzen und Outsourcing von Schutzmaßnahmen und Asylverfahren, Inhaftierung und Pushbacks, Gewalt und mangelnder Gesundheitsversorgung. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen sehen sich oft mit Verletzungen konfrontiert, die eine direkte Folge politischer Entscheidungen sind. Mehr als 28.000 Menschen wurden wegen des Leids, das ihnen von der Politik zugefügt wurde, medizinisch von uns behandelt. Sowohl physische als auch psychische Schäden, die mit einer humaneren Politik hätten vermieden werden können.
Wir Menschen sind extrem anpassungsfähig – im Guten wie im Schlechten. Wir stählen uns und passen unsere Erwartungen an, wenn sich die Welt um uns herum verändert. Aber wir fangen auch an, Ungerechtigkeiten zu ertragen, die uns früher angewidert hätten. Zum Beispiel das Kinder, die routinemäßig in gefängnisähnlichen Lagern eingesperrt werden, ohne Schulbildung und angemessene medizinische Versorgung. Dass Zehntausende ertrinken, weil es keine Rettungsschiffe gibt, die sie retten können. Dass Mitmenschen an den Grenzzäunen an Europas Außengrenzen aus "einwanderungsrechtlichen Gründen" erfrieren. Denn jedes Mal, wenn wir uns abwenden, diese Praxis normalisieren und akzeptieren, wird ein Teil unseres Herzens ein wenig kälter.
Wir öffnen nicht mehr unsere Arme und heißen Menschen auf der Flucht willkommen. Wir drängen die Leute zurück. Wir akzeptieren den neuen "Migrations- und Asylpakt" der EU und damit eine Bekräftigung des selektiven Humanismus, den Europa seit langem praktiziert. Der Pakt sieht vor, dass Vertriebene – Kinder wie Erwachsene – in Lagern entlang der Grenze festgehalten werden können. Sie können eingesperrt werden, auch wenn sie nichts Illegales getan haben. Milliarden von Euro werden ausgegeben, um Asylsuchende durch die Unterstützung der Grenzschutzbeamten afrikanischer Länder fernzuhalten, obwohl gut dokumentiert ist, dass beispielsweise die libysche Küstenwache brutale Methoden anwendet, um Flüchtende aufzuhalten, und dass die Lager, in die sie zurückgeschickt werden, von massiver Gewalt geprägt sind. Unsere Patienten und Patientinnen leiden zunehmend an psychischen Störungen wie Depressionen, Angstzuständen, PTBS und Psychosen als Folge der Behandlung, der sie ausgesetzt sind. Eine direkte Folge der gewollten Politik.
Die Identität des modernen Europas beruht auf den grundlegenden Menschenrechten und der Idee, dass alle Menschen gleichwertig sind. Wir haben uns diese Ideen zu eigen gemacht, als Staatsoberhäupter die Welt bereisten und Länder wie Russland, China und Saudi-Arabien zur Achtung der Menschenrechte aufriefen. Angesichts der Art und Weise, wie Europa mit Menschen umgeht, die auf unserem Kontinent Sicherheit suchen, kann man das nur als Heuchelei bezeichnen. Europa entfernt sich von den universellen Menschenrechten und macht den Humanismus selbst selektiv. Du bekommst – du bekommst nicht – das Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Freiheit und Familienleben. Menschen, die aus anderen Kontinenten fliehen, lassen wir ertrinken, erfrieren, und wenn wir sie aufnehmen müssen, sperren wir sie ein und verstecken sie in Unorten, an denen sie niemand sieht, hört oder ihnen helfen kann.
Wollen wir das wirklich ertragen?
Autoren von "Wie lange wollen wir den selektiven Humanismus Europas noch ertragen?"
Bücher von Katrin Glatz Brubakk