13.04.2024 - Der Apartheidvorwurf: Genese und Inhalt
Kai Ambos:
Ist der von zahlreichen UN-Gremien sowie internationalen und israelischen
Menschenrechtsorganisationen gegen Israel erhobene Vorwurf der Apartheid wegen
seiner Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten begründet oder bloßer
Ausdruck von - vielleicht sogar antisemitisch motivierter Israelfeindlichkeit?
Dieser Frage geht der Völkerrechtler Kai Ambos in seinem Buch „Apartheid in
Palästina?“ auf den Grund. Das Ergebnis fällt differenzierend und vorläufig aus.
In jedem Fall ist Israel zu raten, sich ernsthaft mit dem Vorwurf
auseinanderzusetzen. Denn auch in diesem Fall kann es, wie zuletzt wegen eines
möglichen Genozids im Gazakrieg, zu einem Verfahren vor dem Internationalen
Gerichtshof und zu strafrechtlichen Ermittlungen beim Internationalen
Strafgerichtshof kommen. Ein Auszug.
Der Apartheid-Vorwurf gegen Israel ist um einiges älter, als die jüngste
Debatte – ausgelöst durch die Berichte der Menschenrechtsorganisationen Human
Rights Watch247 und Amnesty International248 – vermuten lässt. Erste Ansätze
finden sich schon in den Veröffentlichungen einiger palästinensischer
Intellektueller in den 1960er Jahren.249 In den 1970er Jahren wurden Rassismus
und Zionismus in Resolutionen der UN-Generalversammlung gleichgestellt.250
Explizit wurde der Apartheidvorwurf dann erstmals auf der Weltkonferenz gegen
Rassismus 2001 in Durban erhoben. In einem Entwurf der Abschlusserklärung wurde
Apartheid in Bezug auf »die ethnische Säuberung der arabischen Bevölkerung im
historischen Palästina« erwähnt und die »ausländische Besatzung auf der
Grundlage von Siedlungen« als »eine neue Art von Apartheid« bezeichnet.251 Die
endgültige Fassung der Erklärung enthielt den Hinweis auf Palästina jedoch nicht
mehr.(252) Mit unterschiedlichen Begründungen
wurde der Vorwurf dann von den mehreren UN-Sonderberichterstattern »zur Lage der
Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten«(253)
erhoben. Der südafrikanische Rechtsprofessor John Dugard stellte in seinem
Bericht von 2007 »Elemente der Besatzung« fest, die er als »Formen […] der
Apartheid« identifizierte.(254) Der US-amerikanische Rechtsprofessor Richard
Falk erwähnte den Begriff Apartheid in seinem Bericht von 2010 zwar nur im
Zusammenhang mit der BDS-Bewegung,(255) sein Bericht von 2014 befasste sich aber
ausführlich mit dem Vorwurf (256) und kam zu dem Schluss, dass die »Praktiken
und Politiken« in den besetzten Gebieten »anscheinend Apartheid darstellen
[…]«.(257) Der kanadische Rechtsprofessor Michael Lynk nimmt ebenfalls eine
detaillierte Analyse vor und stellt eine »Apartheid-Realität in einer
Post-Apartheid-Welt« fest: »Dies ist Apartheid. Sie weist zwar nicht
dieselben Merkmale auf wie die Südafrika praktizierte; insbesondere ist vieles
von dem, was als ›petite Apartheid‹ bezeichnet wurde, nicht vorhanden.
Andererseits gibt es gnadenlose Merkmale der ›apartness‹ Herrschaft Israel in
den besetzten palästinensischen Gebieten, die so drastisch in Südafrika nicht
praktiziert wurden, wie z. B. getrennte Autobahnen, hohe Mauern und ausgedehnte
Kontrollpunkte, eine von der Außenwelt abgeschnittene Bevölkerung,
Raketeneinschläge und Panzerbeschuss auf die Zivilbevölkerung und das Überlassen
der sozialen Fürsorge der Palästinenser an die internationale Gemeinschaft. Vor
den weit offenen Augen der internationalen Gemeinschaft hat Israel Palästina
eine Apartheid-Realität in einer Post-Apartheid-Welt aufgezwungen.«(258)
Zuletzt bekräftigte auch die derzeitige italienische Sonderberichterstatterin
Francesca Albanese unter Berufung auf UN- und NGO(259)-Quellen den
Apartheid-Vorwurf,(260) sieht aber in der (angeblichen) Leugnung der Existenz
einer palästinensischen Identität und der israelischen Politik als
(post)koloniales Siedlungsprojekt die »Grundursachen« des Konflikts. Diese
Ursachen würden im »Apartheid-Rahmen« nicht ausreichend berücksichtigt. (261)
Albanese nimmt damit Bezug auf ein radikaleres Narrativ, das den Zionismus im
Wesentlichen als ein siedler-koloniales Projekt sieht, bei dem die
»Rassendiskriminierung« der palästinensischen Araber durch den »zionistischen
Siedlerstaat« als eine Form der Apartheid nach südafrikanischem Vorbild
operiere. »Die zionistischen Praktiker« würden dabei fälschlich ihre »Unschuld
beteuern«.(262) Das koloniale Narrativ wurde in der Tat von mehreren anderen
Autoren übernommen und fortgeführt.(263) So argumentierte die US-Akademikerin
Noura Erakat jüngst, dass »Zionismus und Apartheid« als »politische und
ideologische Bettgenossen sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer
historischen strategischen Allianz« zu verstehen seien und dass »Israel ein
koloniales Siedlerprojekt« ungeachtet des palästinensischen Selbstbestimmungs-
und Existenzrechts verfolge.(264) Allerdings werden die (post)kolonialen
Merkmale des Siedlungsprojekts nach 1967 auch von israelischen
Rechtswissenschaftlern eingeräumt, freilich ohne antizionistischen
Unterton.(265) Dieser Überblick zeigt zwar, dass der Apartheid-Vorwurf im
Rahmen der Vereinten Nationen durchaus häufig erhoben wurde und wird – auch die
UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (ESCWA) hat ihn
bestätigt(266) –, doch darf das nicht den Blick auf auch weniger eindeutige
Ansichten verstellen. Unter den Sonderberichterstattern hat der indonesische
Diplomat Makarim Wibisono den Begriff »Apartheid« nicht einmal erwähnt.(267) In
zwei vom UN-Menschenrechtsrat in Auftrag gegebenen Berichten wurde der Begriff
ebenfalls nicht aufgegriffen (er wurde lediglich in Fußnoten per Verweis auf
Sekundärquellen erwähnt), geschweige denn das Verbrechen der Apartheid
erörtert.(268) Auch in dem schon erwähnten IGH-Rechtsgutachten zur israelischen
Grenzmauer findet sich der Begriff Apartheid nicht;(269) er wird aber Gegenstand
des laufenden Gutachtenverfahrens zu den Rechtsfolgen der israelischen
Besatzungspolitik sein.(270) Auf zivilgesellschaftlicher Ebene wurde der
Apartheid-Vorwurf von mehreren NGOs und Wissenschaftlern aufgegriffen, wobei zu
berücksichtigen ist, dass bestimmte Wissenschaftler häufig auch als NGO-Autoren
tätig sind.(271) Soweit ersichtlich, geht der erste NGO-Bericht, der sich mit
diesem Thema befasst, auf die Sitzung des Russell-Tribunals zu Palästina zurück,
welche im November 2011 in Kapstadt stattfand.(272) Man kam zu dem Schluss, dass
Israel das palästinensische Volk einem institutionalisierten Herrschaftsregime
unterwerfe, das der Apartheid im völkerrechtlichen Sinne gleichkomme, die in den
besetzten Gebieten »verschärft« durchgesetzt werde.(273) Zehn Jahre später
erschienen die Berichte von HRW(274) und AI,(275) begleitet von ergänzenden
Berichten der israelischen NGOs Yesh Din,(276) B’Tselem und Kerem Navot(277).
Vor dem Hintergrund der aktuellen innenpolitischen Entwicklung in Israel ist der
Apartheid-Vorwurf jüngst vor allem auch von jüdisch-israelischen Intellektuellen
und ehemaligen Sicherheitsbeamten erhoben worden.(278) Aus
juristischer Sicht ist vor allem die Analyse des im Jahre 2018 verabschiedeten
Grundgesetzes (»Basic Law«) zu Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes
(»Israel: The Nation State of the Jewish People«, »Nationalstaatsgesetz«)(279)
durch die israelische NGO Adalah erwähnenswert.(280) Obwohl dieses Gesetz – als
vom israelischen Parlament (der Knesset) verabschiedetes und somit
innerstaatliches Gesetz – grundsätzlich nicht in den besetzten Gebieten
gilt,(281) kommt darin durchaus die Tendenz der israelischen Politik gegenüber
diesen Gebieten zum Ausdruck. Das Gesetz gibt der jüdischen Identität und deren
Primat Verfassungsrang und macht sie damit zu einem Teil der
verfassungsrechtlichen Identität des Staates Israel.(282) Noch wichtiger ist in
unserem Zusammenhang, dass das Gesetz »jüdische Besiedlung als einen nationalen
Wert« bezeichnet und zu einer entsprechenden staatlichen Förderung aufruft
(Abschnitt 7).(283) Aus diesen (und anderen) Gründen betrachtet Adalah das
Gesetz als »ein koloniales Gesetz mit Merkmalen der Apartheid, [das] ein
koloniales Regime mit ausgeprägten Apartheidmerkmalen« begründe.(284) Einige
arabische Knessetabgeordnete riefen den Unterstützern des Gesetzes »Apartheid«
zu.(285) Der Oberste Gerichtshof Israels lehnte allerdings eine dagegen
eingereichte Verfassungsbeschwerde (Hassoun v. The Knesset) am 8. Juli 2021 mit
einer eindeutigen Mehrheit von zehn Stimmen zu einer ab(286) und erklärte das
Gesetz für verfassungsgemäß.(287) Dabei betonte der Gerichtshof die allgemeine
Anwendbarkeit des Gleichheitsgrundsatzes (trotz seiner fehlenden Erwähnung im
Gesetz) und erklärte in Bezug auf den oben zitierte Abschnitt 7 zur »jüdischen
Besiedlung«, dass er
»mit Flexibilität und durch Ausgewogenheit mit dem
Recht auf Gleichheit erfüllt werden sollte und nicht in einer Weise, die eine
Diskriminierung nicht-jüdischer Personen und ihrer Rechte auf Land
erlaubt«.(288)
Was akademische Stellungnahmen betrifft, so waren zwei besonders
einflussreich:(289) zum einen die Studie des südafrikanischen Human Sciences
Research Council (HSRC),(290) die zu dem Schluss kommt, dass Israels »Praktiken
in den besetzten Gebieten trotz gewisser Unterschiede durch dieselben drei
›Säulen‹ der Apartheid« definiert werden können, die aus Südafrika bekannt
seien. Israel übe die Kontrolle in den besetzten Gebieten mit dem Ziel aus, »ein
System der Herrschaft von Juden über Palästinenser aufrechtzuerhalten«, welches
einen Verstoß gegen das Verbot der Apartheid darstelle.(291) Zum anderen kam ein
Aufsatz der Völkerrechtler John Dugard und John Reynolds in einer führenden
Zeitschrift zum Völkerrecht(292) zu dem Ergebnis, dass die »drei ›Säulen‹ der
Apartheid, die […] in Bezug auf das frühere südafrikanische Regime identifiziert
wurden, heute in Palästina weitgehend reproduziert werden […]« und »dass sich in
den besetzten palästinensischen Gebieten ein System der Apartheid entwickelt
hat«. Dieses System bestehe »auf der Grundlage des systemischen und
institutionalisierten Charakters der […] rassischen Herrschaft« und sei »in
einigen Fällen« sogar »schlimmer« als in Südafrika.(293) Neuere
wissenschaftliche Veröffentlichungen haben meist auf diesen Arbeiten
aufgebaut.(294)
247 HRW 2021.
248 AI 2021.
249 Waxman 2023: 1 f.
250 Vgl. UNGA 1975, in der an die schon in UNGA 1973b erwähnte »unhei¬lige Allianz zwischen dem südafrikanischen Rassismus und dem Zio¬nismus« (»unholy alliance between South African racism and zionism«) erinnert und festgestellt wurde, dass »der Zionismus eine Form von Rassismus und Rassendiskriminierung ist« (»zionism is a form of ra¬cism and racial discrimination«). Siehe auch Klug 2003: 130 ff. (wonach die Resolution vorrangig antiimperialistisch / antikolonial, aber nicht antisemitisch begründet war) und Dugard und Reynolds 2013: 868 ff. (wonach der Rassismusvorwurf auf die 1980er bis 1990er Jahre zurück¬geht und während der zweiten Intifada im Jahr 2000 einen Höhepunkt erreichte).
251 Durban Draft Declaration 2001: para. 32 (»[…] holocausts/Holocaust and the ethnic cleansing of the Arab population in historic Palestine […].«) and para. 33 (»[…] foreign occupation founded on settlements, its laws based on racial discrimination, with the aim of continuing domination of the occupied territory, as well as its practices which consist of reinfor¬cing a total military blockade, isolating towns, cities and villages under occupation from each other, totally contradict the purposes and princip¬les of the Charter of the United Nations and constitute a serious viola¬tion of international human rights and humanitarian law, a new kind of apartheid, a crime against humanity and a serious threat to international peace and security« [Herv. K. A.]).
252 Durban 2002: 5 ff.; krit. Bultz 2013: 205 f.
253 Special Rapporteurs »on the situation of human rights in the Palestinian territories occupied since 1967«.
254 Dugard 2007: 3 (»elements of the occupation« that »constitute forms […] of apartheid«).
255 Falk 2014: para. 38.
256 Falk 2014: paras. 55 ff.
257 Ebd.: para. 78 (»Through prolonged occupation, with practices and poli¬cies which appear to constitute apartheid and segregation, ongoing ex¬pansion of settlements, and continual construction of the wall arguably amounting to de facto annexation of parts of the occupied Palestinian territory, the denial by Israel of the right to self-determination of the Pa¬lestinian people is evident.«).
258 Lynk 2022: paras. 35 ff., 52 ff. (56: »This is apartheid. It does not have some of the same features as practised in southern Africa; in particular, much of what has been called ›petit apartheid‹ is not present. On the other hand, there are pitiless features of the ›apartness‹ rule by Israel in the Occupied Palestinian Territory that were not practised in southern Africa, such as segregated highways, high walls and extensive check¬points, a barricaded population, missile strikes and tank shelling of a ci¬vilian population, and the abandonment of the Palestinians’ social wel¬fare to the international community. With the eyes of the international community wide open, Israel has imposed upon Palestine an apartheid reality in a post-apartheid world.«).
259 Wir verwenden hier die gebräuchlichere Abkürzung »NGO« für Non-Go¬vernmental Organisation statt »NRO« für Nicht-Regierungsorganisation.
260 Albanese 2022: para. 9.
261 Albanese 2022: para. 10c; siehe auch para. 11 (»Umgehung der entschei¬denden Frage der Anerkennung des Grundrechts des palästinensischen Volkes, seinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Status selbst zu bestimmen und sich als Volk frei von ausländischer Besatzung, Herr¬schaft und Ausbeutung zu entwickeln«) [»bypass the critical issue of the recognition of the Palestinian people’s fundamental right to determine their political, social and economic status and develop as a people free from foreign occupation, rule and exploitation«]).
262 Für eine grundlegende Behandlung siehe Fayez 2012: 206 ff. (217: »Zio¬nist practicioners […] beguilingly […] their innocence« beteuernd).
263 Siehe z. B. Dugard 2007: 3 (»forms of colonialism«); HSRC 2009: 13, 15 f., 119 ff. (»colonial character« of »Israel’s rule in the OPT« pursuant to five factors [15–6]); Dugard and Reynolds 2013 (reality »not merely a re¬gime of belligerent occupation but also one of expansionary settler colo¬nialism.«).
264 Erakat 2021 (»Zionism and Apartheid« have to be understood as »politi¬cal and ideological bedfellows both in their inception as well as their his¬toric strategic alliance« and that »Israel pursues a settler colonial project […] over all Palestinian lives regardless of their juridical status«).
265 Vgl. Gross 2017: 250–2 (»major features« ausmachend, die dem Kolonia¬lismus ähneln, und die anhaltende Besatzung kritisierend »drawing clo¬ser to […] colonialism«); Kretzmer und Ronen 2021: 511, 513 (»characte¬ristics of a settler colonial regime«). Für eine allgemeine Analyse des Siedlerkolonialismus siehe Wolfe 2006: 387 ff. (argumentierend, dass dieser eine – wenn auch nicht notwendigerweise genozidale – Logik der Eliminierung mit sich bringe, nämlich der Eliminierung der Ureinwoh¬ner); vgl. Abu-Lughod 2020: 1, bei 4 (wonach diese Eliminierung mögli¬cherweise nicht vollständig erfolgreich und daher fortlaufend sei).
266 ESCWA 2017: 1, 6 (schlussfolgernd, dass »Israel ein Apartheidregime errichtet hat, das das palästinensische Volk als Ganzes beherrscht« und »sich der Auferlegung eines Apartheidregimes schuldig gemacht hat […].« [ »Israel has established an apartheid regime that dominates the Palestinian people as a whole and is guilty of imposing an apartheid re¬gime […].«]). Um den Bericht hat es einigen diplomatischen Wirbel ge¬geben. Er musste kurz nach Veröffentlichung zurückgezogen werden, angeblich weil er ohne Rücksprache mit dem UN-Sekretariat veröffent¬licht worden sei. Die Affäre veranlasste die Untergeneralsekretärin und Exekutivsekretärin der ESCWA, die jordanische Diplomatin Rima Kha¬laf, zum Rücktritt. In einem Schreiben verwies sie auf den Druck »mäch¬tiger Mitgliedsstaaten«, der mit »bösartigen Angriffen und Drohungen« einhergegangen sei, vgl. Reuters 2017.
267 Wibisono 2015.
268 Einerseits siehe HRC 2009, wo verschiedene Formen der (systemati¬schen) Diskriminierung von Palästinensern anerkannt werden: »discri¬mination and differential treatment« by judicial authorities (para. 113, 1765), »institutionalized discrimination« in the OPT (para. 206), »discri¬mination« durch »Israel’s parastatal agencies« und durch eine »Jewish nationality«, die sich von der israelischen Staatsbürgerschaft unterschei¬det (para. 207), »State policy based on discrimination« in Bezug auf die Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte (para. 1434), Diskriminierung durch (Verwaltungs-)Haft (para. 1492), »systematic discrimination, both in law and in practice, against Palestinians in legislation […] and practice during arrest, detention, trial and sentencing«, die »potentially« eine Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (»VgM«) darstellt (para. 1502), Diskriminierung durch die Siedlungspolitik (para. 1546) und Duldung von Siedlergewalt gegen Palästinenser (para. 1937); in Be¬zug auf die strafrechtliche Verantwortung wird jedoch nur die potenzi¬elle Begehung von Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere in Bezug auf Gaza, festgestellt (para. 75, 1332, 1502, 1936). Andererseits siehe HRC 2022b: para. 85 ff. (»nur« Feststellung von De¬portation, Verfolgung und Kriegsverbrechen).
269 IGH 2004: 136.
270 »Legal Consequences arising from the Policies and Practices of Israel in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem«, zum Ver¬fahrensstand s. <https://www.icj-cij.org/case/186> Zum Apartheidvor¬wurf in diesem Zusammenhang s. etwa Wiese 2024 und Kring 2024.
271 Ich habe die Autoren der kollektiven (NGO-)Berichte in Klammern an¬gegeben, damit sich die Leser selbst von dieser Überschneidung ein Bild machen können. Dabei ist zu beachten, dass diese Überschneidungen nicht nur bei den Befürwortern des Apartheid-Vorwurfs auftreten, son¬dern auch bei deren Gegnern, siehe insbesondere NGO Monitor, unten Endnote 297.
272 Russell Tribunal 2011: para. 5.17 ff.
273 Ebd.: paras. 5.44 f.
274 HRW 2021: 169 (schlussfolgernd, dass die »severity of the repression carried out in the OPT« einer »›systematic oppression‹ by one racial group over another, a key component for the crime of apartheid […].«, gleichkomme).
275 AI 2022: 267 (schlussfolgernd, dass »die von Israel begangenen Muster verbotener Handlungen Teil eines systematischen und weit verbreiteten Angriffs gegen die palästinensische Bevölkerung sind und dass die im Rahmen dieses Angriffs begangenen unmenschlichen Handlungen in der Absicht begangen wurden, dieses System aufrechtzuerhalten, und sowohl nach der Apartheid-Konvention als auch nach dem Römischen Statut den Tatbestand der Apartheid erfüllen« [»the patterns of proscri¬bed acts perpetrated by Israel form part of a systematic as well as wide¬spread attack directed against the Palestinian population, and that the inhuman or inhumane acts committed within the context of this attack have been committed with the intention to maintain this system and amount to the crime against humanity of apartheid under both the Apartheid Convention and the Rome Statute.«]).
276 Yesh Din 2020: 57 (wonach im Westjordanland Apartheid herrsche, da die Besatzung »mit einem gigantischen Kolonisierungsprojekt einher¬geht« [»comes with a gargantuan colonization project«], das die jüdische »Herrschaft über die besetzen [palästinensischen] Einwohner« [»domi¬nation over the occupied residents«] zementiere und »ihren minderwer¬tigen Status« [»their inferior status«] sichere; außerdem sei Israel ange¬sichts der »schleichenden rechtlichen Annexion« [»creeping legal annexation«] ein »apartheid regime«, siehe o. Endnote 254).
277 B’Tselem und Kerem Navot 2021: 4 (»Israel scheint entschlossener denn je, in dem von ihm kontrollierten Gebiet weiterhin ein Apartheidregime aufrechtzuerhalten und zu perpetuieren« [»Israel appears more deter¬mined than ever to continue upholding and perpetuating an apartheid regime throughout the area under its control […].«]); B’Tselem 2022: 5 f. (Vorherrschaft der Juden und Ausschluss der Palästinenser »under a single regime«).
278 Vgl. insbesondere die an die Führer der »North American Jewry« gerichtete Petition »The Elephant in the Room«, die von israelisch-jüdi¬schen Intellektuellen initiert und inzwischen (6.2.2024) von fast 3 000 Personen unterzeichnet wurde und von einem »regime of apartheid« spricht; abrufbar hier <https://sites.google.com/view/israel-elephant-in-the-room/aug-23-elephant-in-the-room-petition>. Vgl. auch Goldberg 2023 (insbesondere den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregie¬rung, Felix Klein, als »Ideologen« kritisierend) sowie AP 2023.
279 Abrufbar unter <https://main.knesset.gov.il/EN/activity/Documents/BasicLawsPDF/BasicLawNationState.pdf>; deutsche Übersetzung (hier zitiert) unter <https://www.swp-berlin.org/publications/products/sonstiges/2018A50_Anhang_IsraelNationalstaatsgesetz.pdf>. Gute Analyse von Lintl/Wolfrum 2018.
280 Adalah 2018b: 3 ff.; zusammenfassend Adalah 2018a.
281 Nach der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshof Israels ist die israelische Gesetzgebung im Einklang mit dem humanitävölker¬rechtlichen Besatzungsrecht in den besetzten Gebieten nicht anwend¬bar, vgl. Silwad Municipality v. The Knesset, Urteil vom 9. Juni 2020 (nur auf Hebräisch verfügbar), wonach »das Recht des Staates Israel in der Region [OPT] nicht gilt« (zitiert nach Adalah 2020: 1).
282 Vgl. Nationalstaatsgesetz (2018), Abschnitt 1 (Israel als »historische Hei¬mat des jüdischen Volkes« [»historical homeland of the Jewish people«], »Nationalstaat des jüdischen Volkes« [»nation-state of the Jewish peo¬ple«] mit dem »einzig für das jüdische Volk« bestehende Recht auf »na¬tionale Selbstbestimmung«) [»right to self-determination […] unique to Jewish people«]). Zur Identitätsdiskussion instruktiv Lintl/Wolfrum 2018: 2 f.
283 Nationalstaatsgesetz (2018), Abschnitt 7 (»Der Staat sieht in der Weiter¬entwicklung der jüdischen Besiedlung einen nationalen Wert. Er setzt sich dafür ein, die Etablierung und die Konsolidierung jüdische Besied¬lung anzuspornen und voranzutreiben« [»The State views the develop¬ment of Jewish settlement as a national value, and shall act to encourage and promote its establishment and consolidation«]).
284 Adalah 2018a (»a colonial law with characteristics of apartheid«, establis¬hing »a colonial regime with distinct apartheid characteristics«); kritisch auch Kremnitzer 2018 (»hebt die offene, unverblümte Diskriminierung auf die verfassungsmäßige Ebene« [»raises the overt, blunt discrimina¬tion to the constitutional level«], »Apartheidregime (basierend auf ethni¬scher Zugehörigkeit) ist nun stolz in Israel eingetreten« [»apartheid re¬gime (based on ethnicity) that exists in the Territories, has now proudly entered into Israel«]); CESCR 2019: para. 16 f.; CERD 2020: paras. 13 f.; HRC 2022a: para. 44; HRCt 2022: para. 10.
285 Lintl/Wolfrum 2018: 2.
286 Abweichende Meinung Richter Kara.
287 Für eine englische Zusammenfassung dieser Entscheidung siehe <https://www.adalah.org/uploads/uploads/Translation_of_Summary_of_JNSL_Judgment.pdf>.
288 »The Law should be fulfilled with flexibility and through balance with the right to equality, and not in a manner which could allow discrimina¬tion against individuals who are not Jewish and their rights to land« (ebd.); für eine ähnliche Verteidigung siehe Israels Antwort im CESCR 2022: para. 17 ff.; auch Kontorovich 2021 (»largely symbolic and declara¬tory measure«); zur Diskussion zum (unerwähnten) Gleichheitsgrund¬satz differenzierend Lintl/Wolfrum 2018: 3 f. (darauf hinweisend, dass die Verfasser des Gesetzes vor allem die Anerkennung kollektiver Gleichheitsrechte vermeiden wollten); jüngst s. auch Medina/Bloch 2023: 316 (wonach das Gesetz keine expliziten Vorschriften zur Priori¬sierung der Interessen der jüdischen Bevölkerung enthalte).
289 Zuvor Quigley 1991: 22 (»Israel’s discriminatory practices »mit denen Südafrikas vergleichend und sie als »apartheid policy« im Sinne der Ap¬Konv bezeichend).
290 HSRC 2009: 13, 17 ff., 172 ff., 271 ff., 277.
291 Ebd.: 20–2 (»practices in the OPT can be defined by the same three ›pil¬lars‹ of apartheid«; »Israel exercises control in the OPT with the purpose of maintaining a system of domination by Jews over Palestinians and that this system constitutes a breach of the prohibition of apartheid.«).
292 Dugard und Reynolds 2013: 867 ff.
293 Ebd.: 911 f. (»The three ›pillars‹ of apartheid identified […] in relation to the former South African regime are broadly reproduced today in Pales¬tine […]« und »that a system of apartheid has developed in the occupied Palestinian territory« on »the basis of the systemic and institutionalized nature of […] racial domination« und »in some cases« sogar »worse« als in Südafrika.).
294 Siehe z. B. IHRC und Addameer 2022: 9 ff. (schlussfolgernd auf S. 22: »[…] Israels Einsatz eines dualen Rechtssystems im besetzten Westjor¬danland und die daraus resultierende systematische Diskriminierung von Palästinensern und die Unterordnung der bürgerlichen und politi¬schen Rechte von Palästinensern unter die Rechte jüdischer israelischer Bürger, die im besetzten Westjordanland ansässig sind, stellen einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Verbot der Apartheid dar.« [»[…] Isra¬el’s deployment of a dual legal system in the occupied West Bank, and the resulting systematic discrimination against Palestinians and subor¬dination of Palestinians’ civil and political rights to the rights of Jewish Israeli citizens settled in the occupied West Bank, amount to a breach of the prohibition of apartheid under international law.«]); zurückhaltender Lingaas 2020: 233 (»gerichtliche Untersuchung der Situation in Paläs¬tina […] in greifbarer Nähe, ein erstes Urteil über das Verbrechen der Apartheid ermöglichend« [»judicial examination of the situation in Pa¬lestine appears to be within reach, bringing closer the possibility of the first ever judgment on the crime of apartheid«]).
Autoren von "Der Apartheidvorwurf: Genese und Inhalt"
13.04.2024 - Der Apartheidvorwurf: Genese und Inhalt
Ist der von zahlreichen UN-Gremien sowie internationalen und israelischen Menschenrechtsorganisationen gegen Israel erhobene Vorwurf der Apartheid wegen seiner Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten begründet oder bloßer Ausdruck von - vielleicht sogar antisemitisch motivierter Israelfeindlichkeit? Dieser Frage geht der Völkerrechtler Kai Ambos in seinem Buch „Apartheid in Palästina?“ auf den Grund. Das Ergebnis fällt differenzierend und vorläufig aus. In jedem Fall ist Israel zu raten, sich ernsthaft mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen. Denn auch in diesem Fall kann es, wie zuletzt wegen eines möglichen Genozids im Gazakrieg, zu einem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof und zu strafrechtlichen Ermittlungen beim Internationalen Strafgerichtshof kommen. Ein Auszug.
Der Apartheid-Vorwurf gegen Israel ist um einiges älter, als die jüngste Debatte – ausgelöst durch die Berichte der Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch247 und Amnesty International248 – vermuten lässt. Erste Ansätze finden sich schon in den Veröffentlichungen einiger palästinensischer Intellektueller in den 1960er Jahren.249 In den 1970er Jahren wurden Rassismus und Zionismus in Resolutionen der UN-Generalversammlung gleichgestellt.250 Explizit wurde der Apartheidvorwurf dann erstmals auf der Weltkonferenz gegen Rassismus 2001 in Durban erhoben. In einem Entwurf der Abschlusserklärung wurde Apartheid in Bezug auf »die ethnische Säuberung der arabischen Bevölkerung im historischen Palästina« erwähnt und die »ausländische Besatzung auf der Grundlage von Siedlungen« als »eine neue Art von Apartheid« bezeichnet.251 Die endgültige Fassung der Erklärung enthielt den Hinweis auf Palästina jedoch nicht mehr.(252)
Mit unterschiedlichen Begründungen wurde der Vorwurf dann von den mehreren UN-Sonderberichterstattern »zur Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten«(253) erhoben. Der südafrikanische Rechtsprofessor John Dugard stellte in seinem Bericht von 2007 »Elemente der Besatzung« fest, die er als »Formen […] der Apartheid« identifizierte.(254) Der US-amerikanische Rechtsprofessor Richard Falk erwähnte den Begriff Apartheid in seinem Bericht von 2010 zwar nur im Zusammenhang mit der BDS-Bewegung,(255) sein Bericht von 2014 befasste sich aber ausführlich mit dem Vorwurf (256) und kam zu dem Schluss, dass die »Praktiken und Politiken« in den besetzten Gebieten »anscheinend Apartheid darstellen […]«.(257) Der kanadische Rechtsprofessor Michael Lynk nimmt ebenfalls eine detaillierte Analyse vor und stellt eine »Apartheid-Realität in einer Post-Apartheid-Welt« fest:
»Dies ist Apartheid. Sie weist zwar nicht dieselben Merkmale auf wie die Südafrika praktizierte; insbesondere ist vieles von dem, was als ›petite Apartheid‹ bezeichnet wurde, nicht vorhanden. Andererseits gibt es gnadenlose Merkmale der ›apartness‹ Herrschaft Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten, die so drastisch in Südafrika nicht praktiziert wurden, wie z. B. getrennte Autobahnen, hohe Mauern und ausgedehnte Kontrollpunkte, eine von der Außenwelt abgeschnittene Bevölkerung, Raketeneinschläge und Panzerbeschuss auf die Zivilbevölkerung und das Überlassen der sozialen Fürsorge der Palästinenser an die internationale Gemeinschaft. Vor den weit offenen Augen der internationalen Gemeinschaft hat Israel Palästina eine Apartheid-Realität in einer Post-Apartheid-Welt aufgezwungen.«(258)
Zuletzt bekräftigte auch die derzeitige italienische Sonderberichterstatterin Francesca Albanese unter Berufung auf UN- und NGO(259)-Quellen den Apartheid-Vorwurf,(260) sieht aber in der (angeblichen) Leugnung der Existenz einer palästinensischen Identität und der israelischen Politik als (post)koloniales Siedlungsprojekt die »Grundursachen« des Konflikts. Diese Ursachen würden im »Apartheid-Rahmen« nicht ausreichend berücksichtigt. (261)
Albanese nimmt damit Bezug auf ein radikaleres Narrativ, das den Zionismus im Wesentlichen als ein siedler-koloniales Projekt sieht, bei dem die »Rassendiskriminierung« der palästinensischen Araber durch den »zionistischen Siedlerstaat« als eine Form der Apartheid nach südafrikanischem Vorbild operiere. »Die zionistischen Praktiker« würden dabei fälschlich ihre »Unschuld beteuern«.(262) Das koloniale Narrativ wurde in der Tat von mehreren anderen Autoren übernommen und fortgeführt.(263) So argumentierte die US-Akademikerin Noura Erakat jüngst, dass »Zionismus und Apartheid« als »politische und ideologische Bettgenossen sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer historischen strategischen Allianz« zu verstehen seien und dass »Israel ein koloniales Siedlerprojekt« ungeachtet des palästinensischen Selbstbestimmungs- und Existenzrechts verfolge.(264) Allerdings werden die (post)kolonialen Merkmale des Siedlungsprojekts nach 1967 auch von israelischen Rechtswissenschaftlern eingeräumt, freilich ohne antizionistischen Unterton.(265)
Dieser Überblick zeigt zwar, dass der Apartheid-Vorwurf im Rahmen der Vereinten Nationen durchaus häufig erhoben wurde und wird – auch die UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (ESCWA) hat ihn bestätigt(266) –, doch darf das nicht den Blick auf auch weniger eindeutige Ansichten verstellen. Unter den Sonderberichterstattern hat der indonesische Diplomat Makarim Wibisono den Begriff »Apartheid« nicht einmal erwähnt.(267) In zwei vom UN-Menschenrechtsrat in Auftrag gegebenen Berichten wurde der Begriff ebenfalls nicht aufgegriffen (er wurde lediglich in Fußnoten per Verweis auf Sekundärquellen erwähnt), geschweige denn das Verbrechen der Apartheid erörtert.(268) Auch in dem schon erwähnten IGH-Rechtsgutachten zur israelischen Grenzmauer findet sich der Begriff Apartheid nicht;(269) er wird aber Gegenstand des laufenden Gutachtenverfahrens zu den Rechtsfolgen der israelischen Besatzungspolitik sein.(270)
Auf zivilgesellschaftlicher Ebene wurde der Apartheid-Vorwurf von mehreren NGOs und Wissenschaftlern aufgegriffen, wobei zu berücksichtigen ist, dass bestimmte Wissenschaftler häufig auch als NGO-Autoren tätig sind.(271) Soweit ersichtlich, geht der erste NGO-Bericht, der sich mit diesem Thema befasst, auf die Sitzung des Russell-Tribunals zu Palästina zurück, welche im November 2011 in Kapstadt stattfand.(272) Man kam zu dem Schluss, dass Israel das palästinensische Volk einem institutionalisierten Herrschaftsregime unterwerfe, das der Apartheid im völkerrechtlichen Sinne gleichkomme, die in den besetzten Gebieten »verschärft« durchgesetzt werde.(273) Zehn Jahre später erschienen die Berichte von HRW(274) und AI,(275) begleitet von ergänzenden Berichten der israelischen NGOs Yesh Din,(276) B’Tselem und Kerem Navot(277). Vor dem Hintergrund der aktuellen innenpolitischen Entwicklung in Israel ist der Apartheid-Vorwurf jüngst vor allem auch von jüdisch-israelischen Intellektuellen und ehemaligen Sicherheitsbeamten erhoben worden.(278)
Aus juristischer Sicht ist vor allem die Analyse des im Jahre 2018 verabschiedeten Grundgesetzes (»Basic Law«) zu Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes (»Israel: The Nation State of the Jewish People«, »Nationalstaatsgesetz«)(279) durch die israelische NGO Adalah erwähnenswert.(280) Obwohl dieses Gesetz – als vom israelischen Parlament (der Knesset) verabschiedetes und somit innerstaatliches Gesetz – grundsätzlich nicht in den besetzten Gebieten gilt,(281) kommt darin durchaus die Tendenz der israelischen Politik gegenüber diesen Gebieten zum Ausdruck. Das Gesetz gibt der jüdischen Identität und deren Primat Verfassungsrang und macht sie damit zu einem Teil der verfassungsrechtlichen Identität des Staates Israel.(282) Noch wichtiger ist in unserem Zusammenhang, dass das Gesetz »jüdische Besiedlung als einen nationalen Wert« bezeichnet und zu einer entsprechenden staatlichen Förderung aufruft (Abschnitt 7).(283) Aus diesen (und anderen) Gründen betrachtet Adalah das Gesetz als »ein koloniales Gesetz mit Merkmalen der Apartheid, [das] ein koloniales Regime mit ausgeprägten Apartheidmerkmalen« begründe.(284) Einige arabische Knessetabgeordnete riefen den Unterstützern des Gesetzes »Apartheid« zu.(285) Der Oberste Gerichtshof Israels lehnte allerdings eine dagegen eingereichte Verfassungsbeschwerde (Hassoun v. The Knesset) am 8. Juli 2021 mit einer eindeutigen Mehrheit von zehn Stimmen zu einer ab(286) und erklärte das Gesetz für verfassungsgemäß.(287) Dabei betonte der Gerichtshof die allgemeine Anwendbarkeit des Gleichheitsgrundsatzes (trotz seiner fehlenden Erwähnung im Gesetz) und erklärte in Bezug auf den oben zitierte Abschnitt 7 zur »jüdischen Besiedlung«, dass er
»mit Flexibilität und durch Ausgewogenheit mit dem Recht auf Gleichheit erfüllt werden sollte und nicht in einer Weise, die eine Diskriminierung nicht-jüdischer Personen und ihrer Rechte auf Land erlaubt«.(288)
Was akademische Stellungnahmen betrifft, so waren zwei besonders einflussreich:(289) zum einen die Studie des südafrikanischen Human Sciences Research Council (HSRC),(290) die zu dem Schluss kommt, dass Israels »Praktiken in den besetzten Gebieten trotz gewisser Unterschiede durch dieselben drei ›Säulen‹ der Apartheid« definiert werden können, die aus Südafrika bekannt seien. Israel übe die Kontrolle in den besetzten Gebieten mit dem Ziel aus, »ein System der Herrschaft von Juden über Palästinenser aufrechtzuerhalten«, welches einen Verstoß gegen das Verbot der Apartheid darstelle.(291) Zum anderen kam ein Aufsatz der Völkerrechtler John Dugard und John Reynolds in einer führenden Zeitschrift zum Völkerrecht(292) zu dem Ergebnis, dass die »drei ›Säulen‹ der Apartheid, die […] in Bezug auf das frühere südafrikanische Regime identifiziert wurden, heute in Palästina weitgehend reproduziert werden […]« und »dass sich in den besetzten palästinensischen Gebieten ein System der Apartheid entwickelt hat«. Dieses System bestehe »auf der Grundlage des systemischen und institutionalisierten Charakters der […] rassischen Herrschaft« und sei »in einigen Fällen« sogar »schlimmer« als in Südafrika.(293) Neuere wissenschaftliche Veröffentlichungen haben meist auf diesen Arbeiten aufgebaut.(294)
Autoren von "Der Apartheidvorwurf: Genese und Inhalt"
Bücher von Kai Ambos