07.03.2024 - Inside Moria: Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit
Katrin Glatz Brubakk:
Das Flüchtlingslager Moria ist zum traurigen Symbol für den Umgang der EU
mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ geworden. Die Kinderpsychologin Katrin
Glatz Brubakk hat dort zwischen 2015 und 2023 regelmäßig als Helferin gearbeitet
und das Leben der Menschen im Lager dokumentiert. Untermalt mit ausdrucksstarken
Schwarz-Weiß-Fotografien und einer vierfarbigen Fotostrecke wird erstmals der
Alltag der Menschen, die in Moria lebten, sichtbar gemacht. Kurze Einschübe
erörtern zusätzlich die Folgen der durchlebten Traumata für die Schutzsuchenden
aus psychologischer Sicht. Was macht es mit Menschen, die trauern, wenn um sie
herum die meisten anderen ebenfalls trauern? Wie gehen Kinder mit Verlust um?
Und welche Rolle spielt Hoffnung? Katrin Glatz Brubakk und ihre Co-Autorin, die
norwegische Journalistin Guro Kulset Merakerås, ordnen in ihrem Buch die
erschütternden Beobachtungen in einen politischen und historischen Zusammenhang
ein, der einen schonungslosen Einblick in eines der dunkelsten Kapitel der
europäischen Zeitgeschichte öffnet und dabei vor allem die größten Verlierer in
allen Kriegen und Krisen in den Blick nimmt: die Kinder.
Sie schrien, hämmerten gegen Türen, rissen diese schließlich auf und zerrten
heftig an allen, die nicht schnell genug flohen. Es war halb sieben am Morgen
des 30. November 2020, als die Bewohner von Pikpa davon aufwachten, dass
Bereitschaftspolizisten gegen die Türen der kleinen Hütten des Lagers schlugen.
Hier wohnten 74 Menschen – elternlose Kinder, minderjährige Mütter, ernsthaft
Kranke und andere besonders vulnerable Flüchtlinge, die Glück gehabt hatten,
einer Unterbringung in Moria zu entgehen. Seit einem Monat wussten sie, dass die
nationalen Behörden sowohl das privat betriebene Pikpa als auch das kommunal
verwaltete Lager Kara Tepe schließen wollten, um alle Flüchtlinge in Moria 2
unterzubringen. Die Art und Weise, wie das geschah, kam jedoch wie ein Schock.
Die Organisation Lesvos Solidarity hatte eine ausgezeichnete, humane Alternative
zu den Lagern der Behörden geschaffen. Sie hatte Pikpa als einen sicheren
Aufenthaltsort für Flüchtlinge betrieben und war ein zentraler Akteur in Sachen
Essensversorgung und Nothilfe, als nach dem Brand in Moria im September 13 000
Menschen obdachlos waren. Die treibenden Kräfte hinter Lesvos Solidarity hatten
für den Bestand ihres kleinen Lagers gekämpft. Gleichzeitig hatten sie betont,
dass sie bei Kündigung des Mietvertrags einen friedlichen Auszug wünschten, der
Rücksicht auf den Gesundheitszustand der Bewohner nahm. Eine kontrollierte
Abwicklung ohne Polizei, ohne Machtgebrauch. Die Sonne hatte soeben ihre
ersten Strahlen auf die Holzwände des ehemaligen Schullandheims geworfen, als
ein Trupp von fast 80 Polizisten den Bereich umzingelte. Dann schritten sie zu
Werke. Eine solide Reihe von Bereitschaftspolizisten mit Helmen, Schilden und
Schlagstöcken stand wie eine lebende, bedrohliche Mauer da und unterstützte die
Kollegen, die mit Sturmhauben in die Hütten gingen und die schlaftrunkenen
Bewohner herausholten. Die im Lager arbeitenden Freiwilligen versuchten, zu
einem besonneneren Vorgehen aufzufordern. Riefen, dass die Menschen durch das
brutale Vorgehen retraumatisiert werden könnten. Sie wurden nicht erhört,
sondern im Gegenteil physisch festgehalten, sodass sie keinerlei Möglichkeit
hatten, die Bewohner zu beruhigen und zu unterstützen. Bevor die Sonne es
schaffte, den Erdboden zwischen den Hütten aufzuwärmen, war das Lager von
Menschen geräumt. Zurück blieben die Freiwilligen, die das Lager acht Jahre
betrieben hatten, ohne dass es die Behörden auch nur einen Euro gekostet hatte.
Sie wurden angewiesen, sich sowie alle Spuren innerhalb kurzer Zeit zu
entfernen, ansonsten würden vom Stadtbauamt Geldstrafen in Form von Tagessätzen
winken. Der Kindergarten, die Schule, der Spielbereich, die Gemeinschaftsküche
und der Treffpunkt im Schatten. Alles, was in Zusammenarbeit von Flüchtlingen
und privaten Initiativen aufgebaut worden war, sollte weg. Sowohl in als auch
vor den Bussen liefen Tränen, als die Menschen, die in Pikpa Sicherheit gefunden
hatten, weggefahren wurden, um für eine Weile in Kara Tepe unterzukommen, bevor
sie ins neue Moria verlegt werden sollten. Ich hatte für vier weitere Monate
auf Lesbos gepackt und kam, als der Winter eingesetzt hatte, einen Monat nach
der brutalen Räumung von Pikpa an. Bei den morgendlichen Besprechungen in der
Klinik von Ärzte ohne Grenzen fröstelte mir ein wenig. Wir mussten die
Besprechungen draußen abhalten, da Griechenland sich erneut komplett im
Corona-Lockdown befand. Nach 18 Uhr herrschte Ausgangssperre, von der nur akute
medizinische Bedürfnisse ausgenommen waren. Tagsüber musste man die Polizei
kontaktieren und um Erlaubnis bitten, um in ein Geschäft oder in die Apotheke zu
gehen. Es gab Beschränkungen dahingehend, wie viele Personen sich zeitgleich in
Innenräumen aufhalten durften, und sowohl drinnen als auch draußen mussten alle
Mundschutz tragen. Der Bedarf an ärztlicher Hilfe war jedoch mindestens genauso
groß wie zuvor, weshalb wir die Klinik mit Anpassungen und einer Menge
Flexibilität seitens des Personals und der Patienten weiterbetrieben. Während
die Zeltplanen um uns flatterten, galt es, die Kaffeetassen gut festzuhalten,
wenn der Wind auffrischte. Ich zog den Schal etwas fester um den Hals und
bereute es, keine Strumpfhose angezogen zu haben. Die Kälte und der Umstand,
dass wir für mehrere Monate kaum die Gesichter von Kollegen oder Patienten
sahen, waren dennoch unsere geringsten Probleme, als der Kalender von 2020 auf
2021 wechselte. Diejenigen, die im Winter 2020/21 in Moria wohnten, hatten
die Erlaubnis, das Lager einmal pro Woche für maximal drei Stunden zu verlassen.
Das reichte geradeso aus, um ins Geschäft zu gehen und das Nötigste einzukaufen.
An Kursen, Spielaktivitäten oder Selbsthilfegruppen außerhalb des Lagers
teilzunehmen, war unmöglich. Es war nicht ausreichend Zeit, und keiner wusste,
an welchem Tag seine Nummer auf der Liste derer stehen würde, die rausgehen
durften. Die strengen Einschränkungen wurden mit der Coronalage begründet,
allerdings betrachteten die Behörden es nicht als Nachteil, dass dies
gleichzeitig dazu führte, dass im Stadtbild weniger Flüchtlinge zu sehen waren.
So dämpften sie den lokalen Widerstand gegen das Lager. Termine beim Arzt oder
Psychologen sollten außerhalb der wöchentlichen »Ausgangszeit« stattfinden. Die
Laune der Wachleute schien ebenso entscheidend zu sein wie die Regeln. Es war
leichter für uns, ins Lager zu kommen, als für die Flüchtlinge heraus, weshalb
wir das Lager regelmäßig besuchten, um zu schauen, wie es den von uns betreuten
Familien erging. Besuch von außerhalb war immer willkommen, wenn auch nur, weil
es eine Unterbrechung von der Monotonie und eine Art Kontakt zur Außenwelt
darstellte.
Autoren von "Inside Moria: Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit"
07.03.2024 - Inside Moria: Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit
Das Flüchtlingslager Moria ist zum traurigen Symbol für den Umgang der EU mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ geworden. Die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk hat dort zwischen 2015 und 2023 regelmäßig als Helferin gearbeitet und das Leben der Menschen im Lager dokumentiert. Untermalt mit ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotografien und einer vierfarbigen Fotostrecke wird erstmals der Alltag der Menschen, die in Moria lebten, sichtbar gemacht. Kurze Einschübe erörtern zusätzlich die Folgen der durchlebten Traumata für die Schutzsuchenden aus psychologischer Sicht. Was macht es mit Menschen, die trauern, wenn um sie herum die meisten anderen ebenfalls trauern? Wie gehen Kinder mit Verlust um? Und welche Rolle spielt Hoffnung? Katrin Glatz Brubakk und ihre Co-Autorin, die norwegische Journalistin Guro Kulset Merakerås, ordnen in ihrem Buch die erschütternden Beobachtungen in einen politischen und historischen Zusammenhang ein, der einen schonungslosen Einblick in eines der dunkelsten Kapitel der europäischen Zeitgeschichte öffnet und dabei vor allem die größten Verlierer in allen Kriegen und Krisen in den Blick nimmt: die Kinder.
Sie schrien, hämmerten gegen Türen, rissen diese schließlich auf und zerrten heftig an allen, die nicht schnell genug flohen. Es war halb sieben am Morgen des 30. November 2020, als die Bewohner von Pikpa davon aufwachten, dass Bereitschaftspolizisten gegen die Türen der kleinen Hütten des Lagers schlugen. Hier wohnten 74 Menschen – elternlose Kinder, minderjährige Mütter, ernsthaft Kranke und andere besonders vulnerable Flüchtlinge, die Glück gehabt hatten, einer Unterbringung in Moria zu entgehen. Seit einem Monat wussten sie, dass die nationalen Behörden sowohl das privat betriebene Pikpa als auch das kommunal verwaltete Lager Kara Tepe schließen wollten, um alle Flüchtlinge in Moria 2 unterzubringen. Die Art und Weise, wie das geschah, kam jedoch wie ein Schock.
Die Organisation Lesvos Solidarity hatte eine ausgezeichnete, humane Alternative zu den Lagern der Behörden geschaffen. Sie hatte Pikpa als einen sicheren Aufenthaltsort für Flüchtlinge betrieben und war ein zentraler Akteur in Sachen Essensversorgung und Nothilfe, als nach dem Brand in Moria im September 13 000 Menschen obdachlos waren. Die treibenden Kräfte hinter Lesvos Solidarity hatten für den Bestand ihres kleinen Lagers gekämpft. Gleichzeitig hatten sie betont, dass sie bei Kündigung des Mietvertrags einen friedlichen Auszug wünschten, der Rücksicht auf den Gesundheitszustand der Bewohner nahm. Eine kontrollierte Abwicklung ohne Polizei, ohne Machtgebrauch.
Die Sonne hatte soeben ihre ersten Strahlen auf die Holzwände des ehemaligen Schullandheims geworfen, als ein Trupp von fast 80 Polizisten den Bereich umzingelte. Dann schritten sie zu Werke.
Eine solide Reihe von Bereitschaftspolizisten mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken stand wie eine lebende, bedrohliche Mauer da und unterstützte die Kollegen, die mit Sturmhauben in die Hütten gingen und die schlaftrunkenen Bewohner herausholten. Die im Lager arbeitenden Freiwilligen versuchten, zu einem besonneneren Vorgehen aufzufordern. Riefen, dass die Menschen durch das brutale Vorgehen retraumatisiert werden könnten. Sie wurden nicht erhört, sondern im Gegenteil physisch festgehalten, sodass sie keinerlei Möglichkeit hatten, die Bewohner zu beruhigen und zu unterstützen. Bevor die Sonne es schaffte, den Erdboden zwischen den Hütten aufzuwärmen, war das Lager von Menschen geräumt. Zurück blieben die Freiwilligen, die das Lager acht Jahre betrieben hatten, ohne dass es die Behörden auch nur einen Euro gekostet hatte. Sie wurden angewiesen, sich sowie alle Spuren innerhalb kurzer Zeit zu entfernen, ansonsten würden vom Stadtbauamt Geldstrafen in Form von Tagessätzen winken. Der Kindergarten, die Schule, der Spielbereich, die Gemeinschaftsküche und der Treffpunkt im Schatten. Alles, was in Zusammenarbeit von Flüchtlingen und privaten Initiativen aufgebaut worden war, sollte weg. Sowohl in als auch vor den Bussen liefen Tränen, als die Menschen, die in Pikpa Sicherheit gefunden hatten, weggefahren wurden, um für eine Weile in Kara Tepe unterzukommen, bevor sie ins neue Moria verlegt werden sollten.
Ich hatte für vier weitere Monate auf Lesbos gepackt und kam, als der Winter eingesetzt hatte, einen Monat nach der brutalen Räumung von Pikpa an. Bei den morgendlichen Besprechungen in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen fröstelte mir ein wenig. Wir mussten die Besprechungen draußen abhalten, da Griechenland sich erneut komplett im Corona-Lockdown befand. Nach 18 Uhr herrschte Ausgangssperre, von der nur akute medizinische Bedürfnisse ausgenommen waren. Tagsüber musste man die Polizei kontaktieren und um Erlaubnis bitten, um in ein Geschäft oder in die Apotheke zu gehen. Es gab Beschränkungen dahingehend, wie viele Personen sich zeitgleich in Innenräumen aufhalten durften, und sowohl drinnen als auch draußen mussten alle Mundschutz tragen. Der Bedarf an ärztlicher Hilfe war jedoch mindestens genauso groß wie zuvor, weshalb wir die Klinik mit Anpassungen und einer Menge Flexibilität seitens des Personals und der Patienten weiterbetrieben.
Während die Zeltplanen um uns flatterten, galt es, die Kaffeetassen gut festzuhalten, wenn der Wind auffrischte. Ich zog den Schal etwas fester um den Hals und bereute es, keine Strumpfhose angezogen zu haben. Die Kälte und der Umstand, dass wir für mehrere Monate kaum die Gesichter von Kollegen oder Patienten sahen, waren dennoch unsere geringsten Probleme, als der Kalender von 2020 auf 2021 wechselte.
Diejenigen, die im Winter 2020/21 in Moria wohnten, hatten die Erlaubnis, das Lager einmal pro Woche für maximal drei Stunden zu verlassen. Das reichte geradeso aus, um ins Geschäft zu gehen und das Nötigste einzukaufen. An Kursen, Spielaktivitäten oder Selbsthilfegruppen außerhalb des Lagers teilzunehmen, war unmöglich. Es war nicht ausreichend Zeit, und keiner wusste, an welchem Tag seine Nummer auf der Liste derer stehen würde, die rausgehen durften. Die strengen Einschränkungen wurden mit der Coronalage begründet, allerdings betrachteten die Behörden es nicht als Nachteil, dass dies gleichzeitig dazu führte, dass im Stadtbild weniger Flüchtlinge zu sehen waren. So dämpften sie den lokalen Widerstand gegen das Lager. Termine beim Arzt oder Psychologen sollten außerhalb der wöchentlichen »Ausgangszeit« stattfinden. Die Laune der Wachleute schien ebenso entscheidend zu sein wie die Regeln. Es war leichter für uns, ins Lager zu kommen, als für die Flüchtlinge heraus, weshalb wir das Lager regelmäßig besuchten, um zu schauen, wie es den von uns betreuten Familien erging. Besuch von außerhalb war immer willkommen, wenn auch nur, weil es eine Unterbrechung von der Monotonie und eine Art Kontakt zur Außenwelt darstellte.
Autoren von "Inside Moria: Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit"
Bücher von Katrin Glatz Brubakk