03.03.2024 - Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden
Michael Andrick:
Geistige Offenheit und Toleranz kommen unserer Gesellschaft zunehmend
abhanden. Die Diskussionskultur ist vergiftet, moralische Verurteilungen treten
an die Stelle der Verständigung über das Gemeinwohl. Wie kam es dazu? Und wie
können wir diese unheilvolle Entwicklung wieder umkehren? Der Philosoph Michael
Andrick sagt: Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus
der Moralisierung. Und er klärt in seinem Buch auf, wie wir uns derart
voneinander entfremden konnten, wohin dies die Gesellschaft führt – und wie neue
Verständigung gelingen kann.
Fast jeder, dem ich von meinem Plan zu diesem Buch berichtete, unterbrach
mich nach wenigen Sätzen. Und alle – ob Mann oder Frau, alt oder jung, reich
oder arm, Doppeldoktor oder ungelernter Arbeiter, auf dem Land oder in der
Stadt – alle sagten dann im Grunde dasselbe: »Ich muss dir mal was erzählen
dazu … wir sind mit diesem Ehepaar schon seit vielen Jahren befreundet, und
dann…« Ja, was dann? Dann kamen Misstrauen, Entfremdung, Feindseligkeiten,
manchmal auch die endgültige, mit dramatischen Szenen besiegelte Entzweiung –
»wegen Corona«, »wegen des Ukrainekriegs« oder »weil die das rassistisch fanden,
was ich gesagt habe«. Jeder scheint so etwas entweder selbst erfahren zu haben
oder reichlich Beispiele aus seinem Umfeld und natürlich aus den Medien zu
kennen. An mir nagt nach Jahren heikler und hitziger Auseinandersetzungen um
Flüchtlinge, Kriege, Klima und ein Virus ein wachsendes schlechtes Gewissen: zu
viele Gespräche, die ich nicht oder nur halb geführt, zu viele Freundschaften,
die ich nicht oder nur halb wiederbelebt habe. Ich weiß, dass es vielen ähnlich
geht, die sich frisch von Bekannten und sogar Familienmitgliedern entfremdet
haben oder die einfach von endlosen Streitereien frustriert sind. Auf keinen
Fall will ich in ein Leben unaufrichtiger Beziehungen voll peinlichen Schweigens
und leeren Füllgeplappers hineinstolpern – aus Feigheit davor, die wirklich
wichtigen Fragen zu stellen. Oder weil ich mich nicht traue, sie anders als
lauwarm und übervorsichtig, voll Versteckspielerei zu besprechen – so, wie
Menschen aus Angst in Diktaturen reden. Was sollen wir also tun? Kann es
überhaupt eine Verständigung mit »den anderen« geben? Mit denen, die (je nach
eigenem Standpunkt) entweder die regierungsamtliche Linie akzeptiert oder gegen
sie protestiert haben – sei es bei der Finanz- oder Einwanderungskrise, bei
Pandemie, Ukrainekrieg oder Klimapolitik? Besteht die Gesellschaft nicht längst
nur noch aus chaotisch sich hier und da überlappenden Meinungsfraktionen, die
sich bei jedem Streitthema anders zusammensetzen? Sind wir nicht bereits eine
gespaltene Gesellschaft? Und egal, ob wir nur eine schwer gestresste oder in
der Tat schon gespaltene Gesellschaft sind: Mit wem und wie geht das Leben jetzt
weiter? Müssen wir unser soziales Umfeld neu sortieren? Müssen wir damit
rechnen, von anderen wegen unserer Meinung zu diesem oder jenem Thema
»aussortiert« und geschnitten zu werden? Und müssen wir das vielleicht selbst
einigen einstigen Weggefährten antun, weil kein gedeihlicher Austausch mehr
möglich ist? Das kommt für mich nicht in Frage. Und warum eigentlich sollte
die Vielfalt von Standpunkten überhaupt ein Problem sein? Es ist doch eine
Binsenweisheit, dass wir nur durch abweichende Sichtweisen etwas Neues erfahren
und dazulernen können. Ich will mit Offenheit für alle, die mir begegnen, durchs
Leben gehen, will unbeschwert meine Ansichten kundtun, will anhören und frei
diskutieren, was die anderen zu sagen haben. So sollen auch meine Kinder
aufwachsen. Dieser Wunsch ist bei mir Vater eines Gedankens, der mir
Hoffnung macht und mir auch den letzten Anstoß zu meinem Buch gab: Wie wäre es,
wenn es so etwas wie eine geteilte Krisenerfahrung gäbe, von der alle, die heute
zerstritten sind oder sich heikel anschweigen, gemeinsam ausgehen könnten, um
einen Neuanfang zu machen? Dieser Gedanke kam mir erstmals, als in
Deutschland gerade die Corona-Politik auslief und die Ukraine-Frage in den
Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rückte. Die schnelle Festlegung auf
gewisse Sprachregelungen in den Leitmedien (»tückisches Virus«,
»völkerrechtswidriger russischer Angriffskrieg«), das Abkanzeln Andersmeinender
mit moralischen Schmähbegriffen (»Corona-Verharmloser«, »Lumpenpazifist«) und
das Aufblühen von Kontaktschuld-Vorstellungen (»Wer mit Rechten auf die Straße
geht…«, »Putin-Freund Schröder…«) kamen nicht nur mir im Frühjahr 2022
eigenartig bekannt vor. Die moralisch aufgeladene, im Ganzen friedlose
Diskussion des Krieges glich in vielem sehr schnell der Corona-Debatte. Wir
wiederholen als Gesellschaft hier ein ungesundes Muster und sollten seine
Ursachen erkunden, um künftig wieder ziviler, gedeihlicher miteinander streiten
zu lernen. Mit Blick auf die Corona-Krise, in die wir nicht so akut
verstrickt sein sollten wie in die noch »heiße« Kriegsdebatte: Gibt es irgendwo
einen Standpunkt, von dem aus betrachtet jeder in den letzten Jahren dasselbe
erlebt hat? Egal, ob als Doppelt-Geboosterter, als Querdenken-Demonstrant oder
als weniger Entschiedener irgendwo in der Mitte? Und könnte eine solche
gemeinsame Erfahrung uns nicht als Ansatzpunkt neuer Verständigung und
Annäherung dienen? Die Antwort ist: »Ja«. Es gibt ein gemeinsam Erlebtes und
Erlittenes, auf das wir uns beziehen können, wenn wir wieder aufeinander zugehen
möchten. Diese gemeinsame Erfahrungsbasis versuche ich in meinem Buch
schrittweise zu beschreiben – angefangen bei der ungewöhnlich hohen
Stressbelastung der letzten Jahre und dabei, wie wir sie bewältigt haben. An
diesen Überlegungen wird vielleicht schon deutlich werden, dass schmerzhafte
Konflikte auch ohne bösen Willen der Beteiligten unumgänglich waren. Und wir
werden sehen, dass die Kenntnis der am Beispiel »Corona« identifizierten Muster
und Mechanismen auch für das Verständnis anderer Kontroversen von Nutzen ist.
Es geht mir auch darum, einige naheliegende Missverständnisse im
Zusammenhang mit dem schillernden Begriff »Spaltung« aufzuklären. Zum Beispiel
kann man leicht dem Gedanken aufsitzen, die großen Meinungsverschiedenheiten der
Menschen seien das Grundproblem oder die sogenannten »Filterblasen« der Sozialen
Medien, in denen man nur noch zu hören bekommt, was man ohnehin schon denkt –
und sich so mehr und mehr von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt. Diese
Diagnosen erscheinen naheliegend und bequem: Sie haben mit uns persönlich nichts
zu tun, sondern verweisen auf die anderen oder auf die Tücken neuer
Technologien. Bei näherem Nachdenken aber erweisen sie sich als falsch. Spaltung
entsteht nicht durch die Schuld gewisser Leute mit weit auseinanderliegenden
Meinungen oder durch neuartige Kommunikationsplattformen. Spaltung ist ein
Gemeinschaftsprodukt vieler Menschen, die bestimmte Umgangsformen pflegen und
die so miteinander eine bestimmte Kultur betreiben: Spaltung lebt vom Mitmachen.
Und machen genügend Menschen bei spalterischen Praktiken mit, so verformt sich
die private und die öffentliche Diskussion in der Gesellschaft derart, dass ein
zwangloser Austausch unterschiedlicher Ansichten zur selben Sache fast unmöglich
wird und eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen dominiert. Wir sitzen dann in
einer selbsterbauten Zwingburg, die ich das Moralgefängnis nenne – auch deshalb,
weil wohl jeder am liebsten aus dieser unangenehmen Lage ausbrechen würde.
Welche Verhaltensweisen und welche psychologischen Mechanismen spielen eine
Rolle? Was für eine soziale Dynamik erzeugen diese Faktoren? Was wird unter
diesen Umständen mit Absicht getan, was geschieht in der Regel unbewusst oder
wird halbbewusst (mit)gemacht? Gibt es typische gedankliche und sprachliche
Operationen, die das ungedeihliche Diskussionsklima in Deutschland erklären (und
die wir vielleicht auch selbst praktizieren)? Meine Analyse unserer aktuellen
Kultur und der Rolle des Einzelnen in ihr lässt sich in folgender These
zusammenfassen: Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus
der Moralisierung. Ich komme zu dem Schluss, dass wir mitten in einer schweren
Epidemie des Kulturvirus Moralin stecken – und dass die an einer unbehandelten
Moralitis leidenden Bürger, zu denen wir durchaus selbst gehören können, sich
eine ganz eigene Kultur errichtet haben, die mit einem demokratischen
Zusammenleben unvereinbar ist. Diese Kultur, in der spalterisches Handeln
vorherrscht, nenne ich das Regime des Moralismus. Seine Kennzeichen sind u. a.
Verhaltensweisen wie das gegenseitige Abkanzeln, Stigmatisieren und
Umstrittenmachen, aber auch gedanken- und sprachpolizeiliche Initiativen und das
Operieren mit Kontaktschuldfantasien. Sogar eigene Institutionen hat das Regime
des Moralismus sich erfunden, darunter »Faktenchecker« und staatliche
Gesinnungsmeldestellen. Nicht mehr freiheitliche Politik – d. h. der
Interessenausgleich von Andersdenkenden unter Bedingungen bürgerlicher
Gleichheit – steht im Zentrum dieser Kultur, sondern die dringend empfundene
Pflicht, die Wahrheit gegen den Irrtum durchzusetzen. So entsteht ein von
Ausschlussangst und Paranoia geprägtes Diskussionsklima, das den Werten einer
freiheitlich-demokratischen Ordnung Hohn spricht und sie jeden Tag aufs Neue
auch emotional unglaubwürdig macht. Das Regime des Moralismus erlaubt es nicht,
in demokratischem Geist zusammenzuleben. Mit ihm erbauen wir das Moralgefängnis,
in dem wir jetzt einsitzen. Die gute Nachricht dieser kurzen Philosophie zur
Verständigung ist, dass es einen klaren Ausweg gibt: Haben wir das Wesen und die
Funktionsweise spalterischen Handelns einmal verstanden, so verliert das durch
lange Gewöhnung internalisierte Regime des Moralismus seine Macht über uns. Wir
werden es dann leicht erkennen, bei den anderen und bei uns selbst, und uns
dagegen wehren. Wer sich ein Gefängnis baut, der kann es auch wieder einreißen.
Schließlich möchte niemand in Angst und Paranoia leben oder seine Kinder in
einer solchen Atmosphäre großziehen.
Autoren von "Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden"
03.03.2024 - Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden
Geistige Offenheit und Toleranz kommen unserer Gesellschaft zunehmend abhanden. Die Diskussionskultur ist vergiftet, moralische Verurteilungen treten an die Stelle der Verständigung über das Gemeinwohl. Wie kam es dazu? Und wie können wir diese unheilvolle Entwicklung wieder umkehren? Der Philosoph Michael Andrick sagt: Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung. Und er klärt in seinem Buch auf, wie wir uns derart voneinander entfremden konnten, wohin dies die Gesellschaft führt – und wie neue Verständigung gelingen kann.
Fast jeder, dem ich von meinem Plan zu diesem Buch berichtete, unterbrach mich nach wenigen Sätzen. Und alle – ob Mann oder Frau, alt oder jung, reich oder arm, Doppeldoktor oder ungelernter Arbeiter, auf dem Land oder in der Stadt – alle sagten dann im Grunde dasselbe: »Ich muss dir mal was erzählen dazu … wir sind mit diesem Ehepaar schon seit vielen Jahren befreundet, und dann…«
Ja, was dann? Dann kamen Misstrauen, Entfremdung, Feindseligkeiten, manchmal auch die endgültige, mit dramatischen Szenen besiegelte Entzweiung – »wegen Corona«, »wegen des Ukrainekriegs« oder »weil die das rassistisch fanden, was ich gesagt habe«. Jeder scheint so etwas entweder selbst erfahren zu haben oder reichlich Beispiele aus seinem Umfeld und natürlich aus den Medien zu kennen.
An mir nagt nach Jahren heikler und hitziger Auseinandersetzungen um Flüchtlinge, Kriege, Klima und ein Virus ein wachsendes schlechtes Gewissen: zu viele Gespräche, die ich nicht oder nur halb geführt, zu viele Freundschaften, die ich nicht oder nur halb wiederbelebt habe. Ich weiß, dass es vielen ähnlich geht, die sich frisch von Bekannten und sogar Familienmitgliedern entfremdet haben oder die einfach von endlosen Streitereien frustriert sind.
Auf keinen Fall will ich in ein Leben unaufrichtiger Beziehungen voll peinlichen Schweigens und leeren Füllgeplappers hineinstolpern – aus Feigheit davor, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Oder weil ich mich nicht traue, sie anders als lauwarm und übervorsichtig, voll Versteckspielerei zu besprechen – so, wie Menschen aus Angst in Diktaturen reden.
Was sollen wir also tun? Kann es überhaupt eine Verständigung mit »den anderen« geben? Mit denen, die (je nach eigenem Standpunkt) entweder die regierungsamtliche Linie akzeptiert oder gegen sie protestiert haben – sei es bei der Finanz- oder Einwanderungskrise, bei Pandemie, Ukrainekrieg oder Klimapolitik? Besteht die Gesellschaft nicht längst nur noch aus chaotisch sich hier und da überlappenden Meinungsfraktionen, die sich bei jedem Streitthema anders zusammensetzen? Sind wir nicht bereits eine gespaltene Gesellschaft?
Und egal, ob wir nur eine schwer gestresste oder in der Tat schon gespaltene Gesellschaft sind: Mit wem und wie geht das Leben jetzt weiter? Müssen wir unser soziales Umfeld neu sortieren? Müssen wir damit rechnen, von anderen wegen unserer Meinung zu diesem oder jenem Thema »aussortiert« und geschnitten zu werden? Und müssen wir das vielleicht selbst einigen einstigen Weggefährten antun, weil kein gedeihlicher Austausch mehr möglich ist?
Das kommt für mich nicht in Frage. Und warum eigentlich sollte die Vielfalt von Standpunkten überhaupt ein Problem sein? Es ist doch eine Binsenweisheit, dass wir nur durch abweichende Sichtweisen etwas Neues erfahren und dazulernen können. Ich will mit Offenheit für alle, die mir begegnen, durchs Leben gehen, will unbeschwert meine Ansichten kundtun, will anhören und frei diskutieren, was die anderen zu sagen haben. So sollen auch meine Kinder aufwachsen.
Dieser Wunsch ist bei mir Vater eines Gedankens, der mir Hoffnung macht und mir auch den letzten Anstoß zu meinem Buch gab: Wie wäre es, wenn es so etwas wie eine geteilte Krisenerfahrung gäbe, von der alle, die heute zerstritten sind oder sich heikel anschweigen, gemeinsam ausgehen könnten, um einen Neuanfang zu machen?
Dieser Gedanke kam mir erstmals, als in Deutschland gerade die Corona-Politik auslief und die Ukraine-Frage in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rückte. Die schnelle Festlegung auf gewisse Sprachregelungen in den Leitmedien (»tückisches Virus«, »völkerrechtswidriger russischer Angriffskrieg«), das Abkanzeln Andersmeinender mit moralischen Schmähbegriffen (»Corona-Verharmloser«, »Lumpenpazifist«) und das Aufblühen von Kontaktschuld-Vorstellungen (»Wer mit Rechten auf die Straße geht…«, »Putin-Freund Schröder…«) kamen nicht nur mir im Frühjahr 2022 eigenartig bekannt vor.
Die moralisch aufgeladene, im Ganzen friedlose Diskussion des Krieges glich in vielem sehr schnell der Corona-Debatte. Wir wiederholen als Gesellschaft hier ein ungesundes Muster und sollten seine Ursachen erkunden, um künftig wieder ziviler, gedeihlicher miteinander streiten zu lernen.
Mit Blick auf die Corona-Krise, in die wir nicht so akut verstrickt sein sollten wie in die noch »heiße« Kriegsdebatte: Gibt es irgendwo einen Standpunkt, von dem aus betrachtet jeder in den letzten Jahren dasselbe erlebt hat? Egal, ob als Doppelt-Geboosterter, als Querdenken-Demonstrant oder als weniger Entschiedener irgendwo in der Mitte? Und könnte eine solche gemeinsame Erfahrung uns nicht als Ansatzpunkt neuer Verständigung und Annäherung dienen?
Die Antwort ist: »Ja«. Es gibt ein gemeinsam Erlebtes und Erlittenes, auf das wir uns beziehen können, wenn wir wieder aufeinander zugehen möchten. Diese gemeinsame Erfahrungsbasis versuche ich in meinem Buch schrittweise zu beschreiben – angefangen bei der ungewöhnlich hohen Stressbelastung der letzten Jahre und dabei, wie wir sie bewältigt haben.
An diesen Überlegungen wird vielleicht schon deutlich werden, dass schmerzhafte Konflikte auch ohne bösen Willen der Beteiligten unumgänglich waren. Und wir werden sehen, dass die Kenntnis der am Beispiel »Corona« identifizierten Muster und Mechanismen auch für das Verständnis anderer Kontroversen von Nutzen ist.
Es geht mir auch darum, einige naheliegende Missverständnisse im Zusammenhang mit dem schillernden Begriff »Spaltung« aufzuklären. Zum Beispiel kann man leicht dem Gedanken aufsitzen, die großen Meinungsverschiedenheiten der Menschen seien das Grundproblem oder die sogenannten »Filterblasen« der Sozialen Medien, in denen man nur noch zu hören bekommt, was man ohnehin schon denkt – und sich so mehr und mehr von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt.
Diese Diagnosen erscheinen naheliegend und bequem: Sie haben mit uns persönlich nichts zu tun, sondern verweisen auf die anderen oder auf die Tücken neuer Technologien. Bei näherem Nachdenken aber erweisen sie sich als falsch. Spaltung entsteht nicht durch die Schuld gewisser Leute mit weit auseinanderliegenden Meinungen oder durch neuartige Kommunikationsplattformen.
Spaltung ist ein Gemeinschaftsprodukt vieler Menschen, die bestimmte Umgangsformen pflegen und die so miteinander eine bestimmte Kultur betreiben: Spaltung lebt vom Mitmachen. Und machen genügend Menschen bei spalterischen Praktiken mit, so verformt sich die private und die öffentliche Diskussion in der Gesellschaft derart, dass ein zwangloser Austausch unterschiedlicher Ansichten zur selben Sache fast unmöglich wird und eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen dominiert. Wir sitzen dann in einer selbsterbauten Zwingburg, die ich das Moralgefängnis nenne – auch deshalb, weil wohl jeder am liebsten aus dieser unangenehmen Lage ausbrechen würde.
Welche Verhaltensweisen und welche psychologischen Mechanismen spielen eine Rolle? Was für eine soziale Dynamik erzeugen diese Faktoren? Was wird unter diesen Umständen mit Absicht getan, was geschieht in der Regel unbewusst oder wird halbbewusst (mit)gemacht? Gibt es typische gedankliche und sprachliche Operationen, die das ungedeihliche Diskussionsklima in Deutschland erklären (und die wir vielleicht auch selbst praktizieren)?
Meine Analyse unserer aktuellen Kultur und der Rolle des Einzelnen in ihr lässt sich in folgender These zusammenfassen: Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung. Ich komme zu dem Schluss, dass wir mitten in einer schweren Epidemie des Kulturvirus Moralin stecken – und dass die an einer unbehandelten Moralitis leidenden Bürger, zu denen wir durchaus selbst gehören können, sich eine ganz eigene Kultur errichtet haben, die mit einem demokratischen Zusammenleben unvereinbar ist.
Diese Kultur, in der spalterisches Handeln vorherrscht, nenne ich das Regime des Moralismus. Seine Kennzeichen sind u. a. Verhaltensweisen wie das gegenseitige Abkanzeln, Stigmatisieren und Umstrittenmachen, aber auch gedanken- und sprachpolizeiliche Initiativen und das Operieren mit Kontaktschuldfantasien. Sogar eigene Institutionen hat das Regime des Moralismus sich erfunden, darunter »Faktenchecker« und staatliche Gesinnungsmeldestellen.
Nicht mehr freiheitliche Politik – d. h. der Interessenausgleich von Andersdenkenden unter Bedingungen bürgerlicher Gleichheit – steht im Zentrum dieser Kultur, sondern die dringend empfundene Pflicht, die Wahrheit gegen den Irrtum durchzusetzen. So entsteht ein von Ausschlussangst und Paranoia geprägtes Diskussionsklima, das den Werten einer freiheitlich-demokratischen Ordnung Hohn spricht und sie jeden Tag aufs Neue auch emotional unglaubwürdig macht. Das Regime des Moralismus erlaubt es nicht, in demokratischem Geist zusammenzuleben. Mit ihm erbauen wir das Moralgefängnis, in dem wir jetzt einsitzen.
Die gute Nachricht dieser kurzen Philosophie zur Verständigung ist, dass es einen klaren Ausweg gibt: Haben wir das Wesen und die Funktionsweise spalterischen Handelns einmal verstanden, so verliert das durch lange Gewöhnung internalisierte Regime des Moralismus seine Macht über uns. Wir werden es dann leicht erkennen, bei den anderen und bei uns selbst, und uns dagegen wehren. Wer sich ein Gefängnis baut, der kann es auch wieder einreißen. Schließlich möchte niemand in Angst und Paranoia leben oder seine Kinder in einer solchen Atmosphäre großziehen.
Autoren von "Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden"
Bücher von Michael Andrick