"Ursprünglich als progressive Identitätspolitik an Universitäten entstanden, hat Wokeness sich mehr und mehr als Bewegung in staatlichen Institutionen und in Denkmustern von Menschen ausgebreitet wie festgesetzt, sagt die Psychologin Esther Bockwyt. In ihrem Buch „Woke – Psychologie eines Kulturkampfes“ betrachtet sie den Ursprung und die Folgen der Woke-Bewegung erstmals aus psychologischer Perspektive.
Die positive Idee des Schutzes von Minderheiten und des Ausgleichs von Ungerechtigkeiten ist in ein starres, einengendes Schubladendenken mit pessimistischem Welt- und Menschenbild gedreht, sodass eine schwer überwindbare Wand zwischen Benachteiligten und Privilegierten entstehen kann. So kritisch wie ausgewogen und fernab von schrillen Tonlagen fragt die Autorin: Was bedeutet Wokeness für unsere psychische Gesundheit und das gesellschaftliche Miteinander? Eine Definition.
„Was ist Wokeness?“, lautet meist die Eingangsfrage, wann immer die Thematik kritisch besprochen werden soll. Sie ist in ihrem Selbstverständnis nichts anderes als eine wache Geisteshaltung und beherztes Engagement gegen jede Diskriminierungsform – und mit Verweis auf die knappe Duden-Definition von „woke“: im hohen Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung. Letztere enthält, im Kern, zumindest aus psychologischer Perspektive, schon einen leisen Hinweis auf das potentiell Ungesunde: ein Übermaß an Wachheit, die wir in der klinischen Psychologie als Erscheinungsformen pathologischer Angst, von Manien oder gar wahnhafter Zuständen kennen. Es sind Zustände der inneren Getriebenheit, die ein Individuum nicht zur Ruhe kommen lassen.
In einer selektiven Wahrnehmungsausrichtung auf das Schlechte in der Welt, entdeckt man so immer neuere vermeintliche Übel, neue Diskriminierungsformen und -ausdrücke, auch in harmlosen Handlungen, Inhalten oder gar in gut gemeinten Worten (Bsp.: „Er meistert die Behinderung.“ gilt Woken als Ableismus, „Wo kommst du eigentlich her?“ als Rassismus).
Wenn manch einer einwendet, es handele sich bei der woken nicht um eine vollkommen homogene Bewegung und darauf abzielt, dass es immer „extreme Spinner“ gäbe, die überziehen und die Ausnahme bildeten, so ist dieser Befund nicht zutreffend. Das ist häufig vielmehr der Versuch, die woke Bewegung als solche und insbesondere ihr destruktives Potential kleinzureden, jede Kritik als unberechtigt oder böswillig zu diskreditieren.
Auch beliebt: Der Pedanterie-, bzw. Bagatelle-Vorwurf, der in etwa lautet: „Wir sind vom Rechtsextremismus bedroht und du hängst dich an einer Kleinigkeit wie der (spinnerten) harmlosen woken Bewegung auf.“ Laut SPIEGEL[1] versucht man bei dieser unfairen Rhetorik den Eindruck entstehen zu lassen, dass nur der Diskussionsgegner das Große und Wichtige im Blick hat.
Realität ist: Woke Gedankenmuster und Dogmen haben sich in NGOs, Institutionen, Medien, Unternehmen und Filmindustrie etabliert, wie jüngst auch die ZEIT diagnostizierte[2]. Durch ihre unkritische Wiederholung mit dem Anschein von Faktizität in etablierten Medien sickern die woken Annahmen mehr und mehr unbemerkt in das Denken von Rezipienten ein, werden mit der Zeit zur gefühlten Wahrheit. Mehr noch: In Form von Identitätspolitik kann das woke Weltbild künftig Einzug in Gesetze halten (Bsp.: Selbstbestimmungsgesetz). Möchte man sich Wokeness annähern, muss man zunächst das dieser Bewegung zugrundeliegende Menschen- und Weltbild verstehen.
Wokeness basiert auf der Grundannahme der Existenz von strukturell rassistischen und diskriminierenden Verfassungen westlicher Gesellschaften, die aus Unterdrückten einerseits und Unterdrückern, die mit Macht ausgestattet seien, andererseits bestünden. Diese angenommenen Machtverhältnisse müssten aufgelöst und ggf. auch umgekehrt werden. Es bestünden struktureller, allumfassender Rassismus (Weiße oder „weiß gelesene Menschen“ würden in ein rassistisches System geboren und tragen Rassismus automatisch und unbewusst in sich), struktureller Sexismus, struktureller Ableismus und weitere Diskriminierungsarten, die – das ist das Zentrale – nicht als quantifizierbare Problematiken, sondern als die einzige über allem schwebende, alles Existierende bestimmende Realität begriffen werden. Die Verfasstheit westlicher Gesellschaften lasse sich einzig und allein durch die rassistische, diskriminierende Unterdrückung erklären.
Die Unterdrückten werden in Gruppenidentitäten nach Hautfarben, sexuellen Orientierungen, körperlicher Attraktivität und Gesundheit bzw. Behinderungen und anderen „Nachteilen“ eingeordnet. Das System der sogenannten „Intersektionalität“, das Mehrfachdiskriminierungen durch Überschneidungen der Opfergruppen beachten möchte, verleiht dem woken Weltbild eine Scheinseriösität und -wissenschaftlichkeit.
Mit Ausnahme der strukturellen Unterdrückung sei alles andere in westlichen Gesellschaften lediglich Ausdruck eben dieser und nicht objektiv. „Narrative“ der Mächtigen weiß gelesenen stünden den wahren Erfahrungen der Unterdrückten entgegen, nur letztere haben Anspruch auf Gültigkeit („Nur das Wort der Betroffenen zählt.“). Rassismus gegen Weiße könne es nicht geben, ein Mantra, das jede Abwertung im Kampf der Woken rechtfertigt. Es macht gleichzeitig immun gegen jede Kritik, die stets zur Bestätigung des woken Weltbilds auslegt werden muss: Kritisiert werde nur, um die weiße Vorherrschaft und die entsprechenden Privilegien zu sichern.
Die Verabschiedung von der Suche nach Objektivität und nach Wahrheit hat weitreichende Folgen in Bezug auf das, was wir Realität nennen, und die für Menschen einen gemeinsamen Boden der Vergewisserung und Verständigung darstellt.
Die angenommene grundlegende falsche Sozialisation bei Ablehnung nahezu jeden (evolutions-)biologischen Einflusses auf menschliches Erleben und Verhalten führt zum woken Kulturkampf, der die Verfasstheit westlicher, aufgeklärter Gesellschaften grundlegend verändern möchte, wobei das finale Ziel der Veränderung noch offenbleibt. Sollen die Weißen »lediglich« Platz machen für Menschen, die Minderheitengruppen angehören, also auf gesellschaftliche Macht verzichten (so wird es gefordert), oder würde auch das nicht reichen? Müssen Weiße selber im großen Maße und strukturell Rassismus durchleben (wie in einzelnen »Rassismus-Trainings« praktiziert)? Konkrete Folgen bzw. Umsetzungen des woken Glaubens manifestieren sich auch jetzt schon in „sicheren Orten“ (safe spaces) für die Minderheitengruppen, in der Bereinigung der Sprache, von Kulturinhalten (Bücher, Filme, Straßennamen etc.) und in personenbezogener Cancel-Culture. Also in ausgeprägten Reglementierungen der Sprache, Kultur und des zwischenmenschlichen Umgangs, weshalb ich Wokeness als Planwirtschaft des Gefühls bezeichne.
Aus psychologischer Sicht ist Wokeness eine Kraft, die eine zutiefst demotivierende Perspektive auf das Leben von Menschen forciert, immerzu mit Fokus auf eine externale, eine von außen kommende Schädigung des als vulnerablen Opfer verstandenen Individuums, das stets vor unangenehmen, kränkenden Empfindungen, die als schädigend und traumatisierend verstanden werden, geschützt werden muss. (Depressiver Aspekt)
Wokeness verstärkt emotionale Zerbrechlichkeit gepaart mit überhöhtem Narzissmus, der identitär um sich selbst kreisend das Feindbild des „alten weißen Mannes“ in der Hierarchie der vermeintlich Privilegierten braucht, um eine aggressiv motivierte Abwertung des anderen zu rechtfertigen, dabei in Schwarz-Weiß-Schablone das Schlechte stets in das Fremde und in die gesamte – als per se diskriminierend und mit multiplen Problemlagen behaftet – wahrgenommene gesellschaftliche westliche Struktur projizierend. (Narzisstischer Aspekt)
Wokeness demotiviert Menschen zur erwachsenen Übernahme von Verantwortung, mindert ihre Widerstandsfähigkeit und implementiert auf Seiten der vermeintlich Unterdrückten und Benachteiligten ein Dauergefühl von hilfloser Wut und verbitterter Unzufriedenheit, die man wiederum mit Klagen und Angriff zu bewältigen versucht. Auf Seiten der vermeintlich Privilegierten entstehen durch projektive Identifizierung mit den Vorwürfen entweder ungesunde Schuldgefühle und Unterwerfung oder im gesünderen Falle trotzige Reaktanz. (Aggressiver Aspekt)
Im Versuch einer planwirtschaftlich anmutenden Regulierung und Kontrolle menschlicher Gefühle, Verhaltensäußerungen und Gedanken sowie der zwischenmenschlichen Beziehungen mit Liebe zum Gebot und Verbot führt Wokeness zu einer zwanghaft-rigiden Einengung des menschlichen Erlebensfreiraums. Dabei in einer niemals endenden Ausweitung, weil nicht erreichbaren Perfektion (es finden sich immer weitere vermeintliche Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen) Veränderungen um des puren Veränderns willen bei Ablehnung des Bewährten und Gewohnten anstrebend, aber im Endeffekt mit der unterkomplexen Aufteilung der Menschheit in Täter und Opfer zu Spaltung zwischen Menschen und mittels „sicherer Orte“, safe spaces zu Gruppenseparierungen beitragend. (Zwanghafter Aspekt)
Mit ihren system-umstürzlerischen Energie und der „Alles-ist-relativ“-Leugnung von zum Gefühl dissonanten Realitäten, raubt Wokeness Menschen ihren halt- und sicherheitsspendenden Boden, eine gemeinsame, verbindende Wirklichkeit und damit ein wesentliches menschliches Grundbedürfnis. (Histrionischer Aspekt)
[1] https://www.spiegel.de/karriere/rhetorik-wie-man-sich-gegen-unfaire-angriffe-wehrt-a-1143052.html, angerufen am 03.02.2024
[2] https://www.zeit.de/2024/04/kulturkampf-woke-ideologie-leitkultur, angerufen am 03.02.2024"
Autoren von "Wokeness: Planwirtschaft des Gefühls"
10.02.2024 - Wokeness: Planwirtschaft des Gefühls
"Ursprünglich als progressive Identitätspolitik an Universitäten entstanden, hat Wokeness sich mehr und mehr als Bewegung in staatlichen Institutionen und in Denkmustern von Menschen ausgebreitet wie festgesetzt, sagt die Psychologin Esther Bockwyt. In ihrem Buch „Woke – Psychologie eines Kulturkampfes“ betrachtet sie den Ursprung und die Folgen der Woke-Bewegung erstmals aus psychologischer Perspektive.
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