10.12.2025 - Und am Ende bezahlen die Menschen. Syriens Flüchtlingsdrama aus der Sicht der Kinder
Martin Gehlen:
Hinter die Kulissen zu schauen und neben den Dramen auch die
Verschiedenheit und Schönheit des Orients zu entdecken – das war das Interesse
des 2021 verstorbenen Nahost-Korrespondenten Martin Gehlen. Seine Reportagen und
Geschichten spiegeln dabei eine große Offenheit gegenüber der Vielfalt der
Kulturen und Liebe zu den Menschen wider. Das Buch „Es war einmal ein Garten
Eden“ versammelt ausgewählte Reportagen von Martin Gehlen und Bilddokumente
seiner Frau, der Fotografin Katharina Eglau. Angesichts der andauernden
Machtkämpfe und Kriege zwischen den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens
tragen die Artikel und Essays auch heute noch zum Verständnis der aktuellen
Situation bei. Ein Auszug.
Am liebsten würde er seinem Freund Anwar mal richtig das Herz ausschütten.
Dass er so Heimweh nach Homs hat, wieder mit ihm Fußball spielen möchte, sein
Zimmer mit den Spielsachen vermisst, besonders das schöne Flugzeugmodell von
Syrian Air, das ihm sein Vater mal aus Damaskus mitgebracht hat. Ali ist neun
Jahre alt und verzweifelt. »So ein hässliches Land wie Ägypten habe ich in
meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, platzt es trotzig aus ihm heraus, dann
starrt er wieder vor sich auf seine Fußspitzen. Nichts wie weg will er aus
Kairo, zurück zu seinem besten Kumpel Anwar, der irgendwo in den Ruinen von Homs
mit seinen Eltern in dem rasenden Bürgerkrieg steckt. »Die erste Zeit hat Ali
kein Wort geredet und nur geweint«, berichtet Hoda Beiran, seit drei Monaten nun
seine Lehrerin und gleichzeitig die Rektorin der Sadek Gouha Grundschule im
Kairoer Stadtteil Madinet Nasr. Sie hat ein rundes, freundliches Gesicht. Sieben
Kinder aus Syrien wurden von ihr aufgenommen, alle ähnlich verstört,
traumatisiert und entwurzelt wie der kleine Ali und seine um ein Jahr ältere
Schwester Asma.
Die Klassenzimmer sind so verwohnt und abgenutzt wie überall in Ägyptens
öffentlichen Schulen. Die Tafel wurde mindestens seit einer Generation nicht
erneuert. An der Wand hängen Regeln für die Mengenlehre, unten im Hof toben die
Kinder gerade in der Pause herum. Asma kam von Anfang an besser zurecht als ihr
jüngerer Bruder. »Ich bin so froh, wieder in die Schule gehen zu können«, sagt
sie. Mehr als anderthalb Jahre lang gab es in Homs keinen Unterricht mehr, weil
der Schulweg zu gefährlich war. Ihren beiden neuen ägyptischen Freundinnen
erzählt sie nichts von dem, was sie zuhause durchgemacht hat. »Ich will sie
nicht beunruhigen«, sagt sie, »ich will nicht, dass sie genauso Angst bekommen
wie ich.« Bei ihrem sensiblen Bruder Ali wussten sich die Lehrkräfte irgendwann
nicht mehr zu helfen und baten seine Mutter Hieba in die Schule. »Die Kinder
brauchen sehr viel Wärme und Liebe«, sagt die 25-Jährige, die vier ihrer Brüder
bei der »Freien Syrischen Armee« hat. In Kairo findet sie nachts endlich wieder
Schlaf. Ali aber habe Angst vor Menschen, gehe nicht mehr allein auf die Straße.
»Die Kinder haben sehr viel mitgemacht«, seufzt sie, während Nesthäkchen Tasnem
sich an sie schmiegt.
Nächtelang zwängte sich die Familie in der Bombenhölle von Homs in das kleine
Badezimmer in der Mitte ihrer Wohnung – Todesangst, panisches Lauschen,
verzweifelte Schreie von irgendwoher draußen und immer wieder das
ohrenbetäubende Krachen. Zweimal kam die Geheimpolizei, durchwühlte drohend
sämtliche Zimmer. Danach tauchten die Eltern ab, hausten mit ihren drei Kindern
ein halbes Jahr lang in verschiedenen Rohbauten in anderen Ecken der Stadt, bis
der Granatenhagel auch hier begann.
Zuvor hatten die Kinder mit ansehen müssen, wie ihr Onkel Ayman verhaftet und
abgeführt wurde, als er mit ihnen zur Moschee gehen wollte. »Zum Abschied gab er
uns einen Kuss auf die Stirn, wir haben ihn sehr geliebt«, sagen Ali und Asma.
Er kam gerne rüber zum Abendessen, tobte mit ihnen durch die Wohnung, spielte
Verstecken oder las vor dem Schlafengehen Märchen vor. »Ich bin so stolz auf
euch«, habe er ihnen immer wieder gesagt. Fünf Tage später tauchte seine Leiche
auf – das Gesicht blau vor Schlägen, auf dem Rücken der rot-schwarze Brandfleck
eines Bügeleisens, die Fingernägel herausgerissen. Onkel Ayman war in Homs einer
der ersten, der von Assads Gemeindienst zu Tode gefoltert wurden. Heute sind es
Abertausende – und in allen an-deren Städten Syriens liegen die Wohnviertel
jetzt ebenfalls in Ruinen.
Vor drei Monaten gelang der Familie schließlich die Flucht nach Kairo. Das
letzte Geld ging für die Flugtickets drauf und das übliche exorbitante
Schmiergeld an die Geheimpolizei auf dem Flughafen von Damaskus. Die Wohnung an
einer stark befahrenen Kreuzung der sechsspurigen Rabaa-Straße ist kalt und
dunkel, aber endlich haben alle wieder ein Dach über dem Kopf. Mittags und
abends gibt es für jeden ein paar Stückchen gekochte rote Beete, Kartoffeln oder
Möhren. Sie alle gehören mit zu dem Familienclan der Hadads aus Homs, die alle
aus Angst um die Verwandtschaft daheim ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung
sehen wollen. Die ersten flohen bereits im Juni an den Nil. Seitdem kommen
ständig weitere Angehörige und Nachbarn nach – inzwischen mehr als 120 Personen.
Zuletzt rettete sich im November eine achtköpfige Familie vor den permanenten
Luftangriffen. Als 16-jähriger Teenager verhaftet, war der Vater 16 Jahre in dem
berüchtigten Gefängnis von Palmyra als politischer Häftling eingesperrt. »Meine
Kinder haben Albträume«, sagt er. Nachts, wenn startende Passagiermaschinen vom
nahen Airport Kairo über das Haus donnern, wachen die beiden Kleinen auf, weinen
und sind kaum zu beruhigen. »Die Kinder wissen alles vom Krieg – sie können
sogar das Schießen von einem Maschinengewehr, einem Panzer oder einem Flugzeug
unterscheiden«. In der ägyptischen Schule seien sie gut aufgenommen worden, »und
wir hoffen, dass es ihnen langsam besser geht«. Diese Woche Montag um sechs Uhr
früh strandete eine weitere Familie mit 18 Personen am Busbahnhof, die Hälfte
Kinder. Elf Tage hingen sie bei Regen und eisigem Wind an der
syrisch-jordanischen Grenze fest, bis die jordanischen Posten sie endlich
durchließen. In einer fünftägigen Odyssee schlugen sie sich nach Kairo durch –
ohne Geld, nur mit ihren Kleidern am Leib. Eltern und Großeltern sind völlig am
Ende ihrer Kräfte, die Kleinen so verängstigt, dass sie sich ständig aneinander
an die Hände klammern und immer wieder in Tränen ausbrechen.
Die Mieten für die inzwischen sieben Wohnungen am Stadtrand der ägyptischen
Hauptstadt hat bisher die Katholische Kirchengemeinde St. Laurentius in Berlin
aufgebracht, gesammelt durch Spenden in Deutschland. Schon heute ist der Exodus
aus Syrien die größte Flüchtlingskatastrophe in der modernen Geschichte des
Nahen Ostens – und das Schlimmste könnte dem Land noch bevorstehen. Mehr als
eine Million Menschen haben in den Nachbarländern Libanon, Türkei, Irak und
Jordanien Zuflucht gesucht, täglich kommen 3000 bis 5000 neue hinzu. In Syrien
selbst irren nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks inzwischen zwei
Millionen Menschen herum, versuchen in Kellern, Höhlen oder Viehställen das
Inferno und den Winter zu überleben. Kurz vor Weihnachten wandten sich die
Vereinten Nationen darum erneut mit einem dramatischen Appell »an alle
Regierungen, Firmen und Privatleute« der Welt und bezifferten die erforderlichen
Hilfsgelder auf 1,5 Milliarden Dollar, von denen bisher weniger als ein Drittel
eingezahlt worden sind. Allein 200.000 Flüchtlinge sind mittlerweile in Kairo
angekommen, drei Viertel von ihnen Frauen und Kinder. Ganze Stadtteile am Rande
der Mega-Metropole sind von Syrern bewohnt, die meisten stranden hier mit einem
Koffer und ein paar Habseligkeiten – und das in einem Land, in dem selber Armut
und Arbeitslosigkeit grassieren.
Jeden Job, den sie in Kairo ergattern können, nehmen die Flüchtlinge an. Zwei
sind bei einem Kioskbesitzer angestellt, verkaufen Nüsse und Bonbons. Einer
arbeitet als Schneider, ein anderer als Friseur. Wieder andere haben in einer
alten Backstube, die sie preiswert mieten konnten, eine kleine Kooperative
gegründet. Rund um die Uhr in zwei Schichten wird hier gearbeitet – nachts der
Kuchen, tagsüber die Plätzchen. Inzwischen fällt für alle sogar ein kleiner Lohn
ab. Auch Saleh, der Vater von Ali und Asma, ist mit dabei. »Ich war mit den
Nerven total am Ende, die Arbeit lenkt mich ab«, sagt der 34-Jährige. Zehn
Stunden lang macht er jetzt Tag für Tag Halout Jabn, ein süßes Käsegebäck, auf
das er sich besonders gut versteht. Seine Kinder haben ihn kürzlich zum ersten
Mal besucht und zugeschaut, wie gekonnt der gelernte Bäcker den weißen Teig
knetet, rollt und zupft. »Mein Vater ist Klasse«, freut sich der kleine Ali. »Er
verdient jetzt unser Essen und wir müssen nicht mehr vom Betteln leben.«
10.12.2025 - Und am Ende bezahlen die Menschen. Syriens Flüchtlingsdrama aus der Sicht der Kinder
Hinter die Kulissen zu schauen und neben den Dramen auch die Verschiedenheit und Schönheit des Orients zu entdecken – das war das Interesse des 2021 verstorbenen Nahost-Korrespondenten Martin Gehlen. Seine Reportagen und Geschichten spiegeln dabei eine große Offenheit gegenüber der Vielfalt der Kulturen und Liebe zu den Menschen wider. Das Buch „Es war einmal ein Garten Eden“ versammelt ausgewählte Reportagen von Martin Gehlen und Bilddokumente seiner Frau, der Fotografin Katharina Eglau. Angesichts der andauernden Machtkämpfe und Kriege zwischen den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens tragen die Artikel und Essays auch heute noch zum Verständnis der aktuellen Situation bei. Ein Auszug.
Am liebsten würde er seinem Freund Anwar mal richtig das Herz ausschütten. Dass er so Heimweh nach Homs hat, wieder mit ihm Fußball spielen möchte, sein Zimmer mit den Spielsachen vermisst, besonders das schöne Flugzeugmodell von Syrian Air, das ihm sein Vater mal aus Damaskus mitgebracht hat. Ali ist neun Jahre alt und verzweifelt. »So ein hässliches Land wie Ägypten habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, platzt es trotzig aus ihm heraus, dann starrt er wieder vor sich auf seine Fußspitzen. Nichts wie weg will er aus Kairo, zurück zu seinem besten Kumpel Anwar, der irgendwo in den Ruinen von Homs mit seinen Eltern in dem rasenden Bürgerkrieg steckt. »Die erste Zeit hat Ali kein Wort geredet und nur geweint«, berichtet Hoda Beiran, seit drei Monaten nun seine Lehrerin und gleichzeitig die Rektorin der Sadek Gouha Grundschule im Kairoer Stadtteil Madinet Nasr. Sie hat ein rundes, freundliches Gesicht. Sieben Kinder aus Syrien wurden von ihr aufgenommen, alle ähnlich verstört, traumatisiert und entwurzelt wie der kleine Ali und seine um ein Jahr ältere Schwester Asma.
Die Klassenzimmer sind so verwohnt und abgenutzt wie überall in Ägyptens öffentlichen Schulen. Die Tafel wurde mindestens seit einer Generation nicht erneuert. An der Wand hängen Regeln für die Mengenlehre, unten im Hof toben die Kinder gerade in der Pause herum. Asma kam von Anfang an besser zurecht als ihr jüngerer Bruder. »Ich bin so froh, wieder in die Schule gehen zu können«, sagt sie. Mehr als anderthalb Jahre lang gab es in Homs keinen Unterricht mehr, weil der Schulweg zu gefährlich war. Ihren beiden neuen ägyptischen Freundinnen erzählt sie nichts von dem, was sie zuhause durchgemacht hat. »Ich will sie nicht beunruhigen«, sagt sie, »ich will nicht, dass sie genauso Angst bekommen wie ich.« Bei ihrem sensiblen Bruder Ali wussten sich die Lehrkräfte irgendwann nicht mehr zu helfen und baten seine Mutter Hieba in die Schule. »Die Kinder brauchen sehr viel Wärme und Liebe«, sagt die 25-Jährige, die vier ihrer Brüder bei der »Freien Syrischen Armee« hat. In Kairo findet sie nachts endlich wieder Schlaf. Ali aber habe Angst vor Menschen, gehe nicht mehr allein auf die Straße. »Die Kinder haben sehr viel mitgemacht«, seufzt sie, während Nesthäkchen Tasnem sich an sie schmiegt.
Nächtelang zwängte sich die Familie in der Bombenhölle von Homs in das kleine Badezimmer in der Mitte ihrer Wohnung – Todesangst, panisches Lauschen, verzweifelte Schreie von irgendwoher draußen und immer wieder das ohrenbetäubende Krachen. Zweimal kam die Geheimpolizei, durchwühlte drohend sämtliche Zimmer. Danach tauchten die Eltern ab, hausten mit ihren drei Kindern ein halbes Jahr lang in verschiedenen Rohbauten in anderen Ecken der Stadt, bis der Granatenhagel auch hier begann.
Zuvor hatten die Kinder mit ansehen müssen, wie ihr Onkel Ayman verhaftet und abgeführt wurde, als er mit ihnen zur Moschee gehen wollte. »Zum Abschied gab er uns einen Kuss auf die Stirn, wir haben ihn sehr geliebt«, sagen Ali und Asma. Er kam gerne rüber zum Abendessen, tobte mit ihnen durch die Wohnung, spielte Verstecken oder las vor dem Schlafengehen Märchen vor. »Ich bin so stolz auf euch«, habe er ihnen immer wieder gesagt. Fünf Tage später tauchte seine Leiche auf – das Gesicht blau vor Schlägen, auf dem Rücken der rot-schwarze Brandfleck eines Bügeleisens, die Fingernägel herausgerissen. Onkel Ayman war in Homs einer der ersten, der von Assads Gemeindienst zu Tode gefoltert wurden. Heute sind es Abertausende – und in allen an-deren Städten Syriens liegen die Wohnviertel jetzt ebenfalls in Ruinen.
Vor drei Monaten gelang der Familie schließlich die Flucht nach Kairo. Das letzte Geld ging für die Flugtickets drauf und das übliche exorbitante Schmiergeld an die Geheimpolizei auf dem Flughafen von Damaskus. Die Wohnung an einer stark befahrenen Kreuzung der sechsspurigen Rabaa-Straße ist kalt und dunkel, aber endlich haben alle wieder ein Dach über dem Kopf. Mittags und abends gibt es für jeden ein paar Stückchen gekochte rote Beete, Kartoffeln oder Möhren. Sie alle gehören mit zu dem Familienclan der Hadads aus Homs, die alle aus Angst um die Verwandtschaft daheim ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung sehen wollen. Die ersten flohen bereits im Juni an den Nil. Seitdem kommen ständig weitere Angehörige und Nachbarn nach – inzwischen mehr als 120 Personen. Zuletzt rettete sich im November eine achtköpfige Familie vor den permanenten Luftangriffen. Als 16-jähriger Teenager verhaftet, war der Vater 16 Jahre in dem berüchtigten Gefängnis von Palmyra als politischer Häftling eingesperrt. »Meine Kinder haben Albträume«, sagt er. Nachts, wenn startende Passagiermaschinen vom nahen Airport Kairo über das Haus donnern, wachen die beiden Kleinen auf, weinen und sind kaum zu beruhigen. »Die Kinder wissen alles vom Krieg – sie können sogar das Schießen von einem Maschinengewehr, einem Panzer oder einem Flugzeug unterscheiden«. In der ägyptischen Schule seien sie gut aufgenommen worden, »und wir hoffen, dass es ihnen langsam besser geht«. Diese Woche Montag um sechs Uhr früh strandete eine weitere Familie mit 18 Personen am Busbahnhof, die Hälfte Kinder. Elf Tage hingen sie bei Regen und eisigem Wind an der syrisch-jordanischen Grenze fest, bis die jordanischen Posten sie endlich durchließen. In einer fünftägigen Odyssee schlugen sie sich nach Kairo durch – ohne Geld, nur mit ihren Kleidern am Leib. Eltern und Großeltern sind völlig am Ende ihrer Kräfte, die Kleinen so verängstigt, dass sie sich ständig aneinander an die Hände klammern und immer wieder in Tränen ausbrechen.
Die Mieten für die inzwischen sieben Wohnungen am Stadtrand der ägyptischen Hauptstadt hat bisher die Katholische Kirchengemeinde St. Laurentius in Berlin aufgebracht, gesammelt durch Spenden in Deutschland. Schon heute ist der Exodus aus Syrien die größte Flüchtlingskatastrophe in der modernen Geschichte des Nahen Ostens – und das Schlimmste könnte dem Land noch bevorstehen. Mehr als eine Million Menschen haben in den Nachbarländern Libanon, Türkei, Irak und Jordanien Zuflucht gesucht, täglich kommen 3000 bis 5000 neue hinzu. In Syrien selbst irren nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks inzwischen zwei Millionen Menschen herum, versuchen in Kellern, Höhlen oder Viehställen das Inferno und den Winter zu überleben. Kurz vor Weihnachten wandten sich die Vereinten Nationen darum erneut mit einem dramatischen Appell »an alle Regierungen, Firmen und Privatleute« der Welt und bezifferten die erforderlichen Hilfsgelder auf 1,5 Milliarden Dollar, von denen bisher weniger als ein Drittel eingezahlt worden sind. Allein 200.000 Flüchtlinge sind mittlerweile in Kairo angekommen, drei Viertel von ihnen Frauen und Kinder. Ganze Stadtteile am Rande der Mega-Metropole sind von Syrern bewohnt, die meisten stranden hier mit einem Koffer und ein paar Habseligkeiten – und das in einem Land, in dem selber Armut und Arbeitslosigkeit grassieren.
Jeden Job, den sie in Kairo ergattern können, nehmen die Flüchtlinge an. Zwei sind bei einem Kioskbesitzer angestellt, verkaufen Nüsse und Bonbons. Einer arbeitet als Schneider, ein anderer als Friseur. Wieder andere haben in einer alten Backstube, die sie preiswert mieten konnten, eine kleine Kooperative gegründet. Rund um die Uhr in zwei Schichten wird hier gearbeitet – nachts der Kuchen, tagsüber die Plätzchen. Inzwischen fällt für alle sogar ein kleiner Lohn ab. Auch Saleh, der Vater von Ali und Asma, ist mit dabei. »Ich war mit den Nerven total am Ende, die Arbeit lenkt mich ab«, sagt der 34-Jährige. Zehn Stunden lang macht er jetzt Tag für Tag Halout Jabn, ein süßes Käsegebäck, auf das er sich besonders gut versteht. Seine Kinder haben ihn kürzlich zum ersten Mal besucht und zugeschaut, wie gekonnt der gelernte Bäcker den weißen Teig knetet, rollt und zupft. »Mein Vater ist Klasse«, freut sich der kleine Ali. »Er verdient jetzt unser Essen und wir müssen nicht mehr vom Betteln leben.«
Mai 2015
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