06.12.2025 - »Demütigung ist in der internationalen Politik brandgefährlich«
Dominik von Ribbentrop:
Joachim von Ribbentrop war außenpolitischer Berater Adolf Hitlers und
wurde im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt.
Sein Enkel hat nun ein Buch über ihn geschrieben: »Verstehen, kein Verständnis«.
Roberto De Lapuente hat mit Dominik von Ribbentrop gesprochen.
De Lapuente: Sie schreiben, Sie wollten Ihren Großvater, den einstmaligen
Außenminister Adolf Hitlers »verstehen, ohne Verständnis zu haben«: Wo verläuft
für Sie heute die Grenze zwischen historischem Verstehen und moralischer
Entschuldigung – insbesondere, wenn es um die eigene Familie geht?
von Ribbentrop: Verstehen bedeutet für mich, die Mechanismen und Zwänge einer
vergangenen Zeit ernsthaft zu analysieren. Ich wollte den Versuch wagen,
nachzuvollziehen, wie die Menschen damals dachten und fühlten – nicht darum,
ihre Entscheidungen zu entschuldigen. Gerade im familiären Kontext wäre es heute
bequem, mit dem Wissen des Nachgeborenen moralisch streng zu urteilen. Aber so
einfach ist Geschichte nicht. Die Grenze verläuft dort, wo Empathie in
Rechtfertigung übergeht. Diese Linie bewusst nicht zu überschreiten, ist der
Kern meiner Haltung.
De Lapuente: Ihr Buch ist kein klassisches Geschichtswerk, sondern eine
psychologisch-philosophische Annäherung. Glauben Sie ein Stück weit, dass die
Psychologie – und nicht die Geschichtswissenschaft – der Schlüssel zum Begreifen
des Dritten Reichs ist?
von Ribbentrop: Ja, das denke ich. Ich glaube, dass wir das Dritte Reich mit
dem limitierten Instrumentarium der Geschichtswissenschaft allein nicht
vollständig erfassen können. Die eigentliche Dynamik spielte sich in der
Gefühlswelt der Menschen ab – im Zusammenspiel von Angst, Loyalität, Identität,
Opportunismus und Gruppendenken. Die Psychologie hilft uns, diese Prozesse zu
entschlüsseln und zu verstehen, wie Millionen Menschen Schritt für Schritt in
eine zerstörerische Entwicklung aktiv und passiv hineingesogen wurden.
De Lapuente: Wie war und wie ist es, den Namen von Ribbentrop in Deutschland
zu tragen? Die jungen Leute heute wissen ja eher nicht mehr, wer Joachim von
Ribbentrop war …
von Ribbentrop: Der Name begleitet mich seit meiner Jugend – mal sichtbar,
mal unterschwellig. In Deutschland spüre ich gelegentlich Skepsis, im Ausland
hingegen eher Neugier oder sogar Gelassenheit. Für mich ist der Name weniger
Bürde als Verpflichtung: Er zwingt mich dazu, mich mit Geschichte und ihrer
moralischen Dimension auseinanderzusetzen, anstatt wegzuschauen. Und auch wenn
viele junge Menschen ihn heute nicht mehr kennen – ich empfinde es als wertvoll,
dass Dialog über Geschichte weiterhin möglich ist.
De Lapuente: Hatte Ihr Großvater eine politische Vision? Oder war er
letztlich auch nur ein Getriebener der damaligen Zeitenläufte?
von Ribbentrop: Ich glaube, er war in erster Linie ein Pragmatiker und
Patriot, aber kein Ideologe. Sein Denken war stark von den Krisenjahren der
Weimarer Republik geprägt: Inflation, politische Instabilität, Arbeitslosigkeit.
Er glaubte, Stabilität sei überlebenswichtig – und sah Hitler fälschlicherweise
als denjenigen an, der sie herstellen könne. In diesem Spannungsfeld aus Angst,
Ehrgeiz und Opportunismus geriet er tiefer in das System, als er je beabsichtigt
haben mag.
De Lapuente: Sie beschreiben die Kränkung durch den Versailler Vertrag als
eine der Wurzeln des späteren Radikalismus. Glauben Sie, dass heutige
geopolitische Demütigungen – etwa gegenüber Russland – ähnliche destruktive
Dynamiken auslösen könnten?
von Ribbentrop: Ja, nationale Demütigungen wirken fast immer langfristig.
Staaten reagieren wie Menschen: Wer sich gedemütigt fühlt, neigt zu Abwehr,
Härte oder Radikalisierung. Russland ist ein gutes Beispiel dafür, wie
historische Kränkungen politische Strategien prägen. Das legitimiert
Aggressionen nicht – aber es erklärt, warum Demütigung in der internationalen
Politik brandgefährlich ist. Wer Frieden will, muss diese psychologischen
Faktoren ernst nehmen.
De Lapuente: Ihr Großvater war nicht nur Mitläufer, sondern Akteur auf
höchster Ebene: Haben Sie durch Ihre Recherchen für dieses Buch über ihn etwas
gelernt, das Ihrer bisherigen Vorstellung widersprach?
von Ribbentrop: Ja, sehr. Mich hat überrascht, wie stark sein Pragmatismus
ausgeprägt war und wie weit seine Fähigkeit zur Verdrängung reichte. Er war kein
Ideologe, aber er war bereit, vieles nicht wissen zu wollen bzw. zu ignorieren,
um weiter dabei sein zu können. Diese toxische Mischung aus Loyalität, Ehrgeiz
und Wegsehen hat mich ernüchtert – und sie sagt viel über die Gefahr
menschlicher Schwächen in extremen politischen Situationen aus.
De Lapuente: Sie warnen vor einer Wiederholung ideologischer Verführbarkeit.
Würden Sie nicht annehmen wollen, dass die Menschen heute etwas sensibilisierter
und erfahrener sind im Umgang mit Propaganda?
von Ribbentrop: Ich würde es gerne glauben – aber ich bin nicht sicher.
Moderne Propaganda ist oft subtiler, emotionaler und technisch raffinierter als
früher. Algorithmen verstärken Empörung, polarisieren Gesellschaften und
schaffen Echokammern, die Weltbilder verhärten. Unsere einzige echte
Verteidigung besteht in Selbstreflexion, in der Pflege eigener Wertvorstellungen
und der Bereitschaft, die Perspektive anderer ernsthaft zu prüfen.
De Lapuente: Sie schreiben, »Ideologien mögen das Herz erwärmen, taugen aber
kaum zur Leitung einer Gesellschaft«. Bedeutet das auch, Sie sehen in der
gegenwärtigen Moralisierung des öffentlichen Diskurses eine Gefahr für die
Demokratie?
von Ribbentrop: Grundsätzlich denke ich, dass unsere Demokratie nach 80
Jahren reif und wehrhaft geworden ist. Und dennoch, wenn politische Fragen
moralisch absolut gesetzt werden, verliert die Demokratie ihre wichtigste Kraft:
Kompromissfähigkeit. Wir sehen zunehmend, dass moralische Zuschreibungen
Debatten ersetzen. Das spaltet und erzeugt eine Atmosphäre, in der Vernunft und
nüchterne Abwägung kaum noch Platz haben. Demokratie lebt von Pluralität, nicht
von moralischer Reinheit.
De Lapuente: Sie sprechen von einer deutschen Identität, die gebrochen sei.
Wie könnte Ihrer Ansicht nach ein selbstbewusstes, aber nicht nationalistisch
aufgeladenes Verhältnis zur deutschen Geschichte aussehen?
von Ribbentrop: Wir sollten uns bemühen, unsere Geschichte anzunehmen – ohne
sie zu beschönigen und ohne uns ständig zu verurteilen. Ein konstruktives
Verhältnis zur Vergangenheit bedeutet Verantwortung, nicht Selbsthass.
Deutschland kann selbstbewusst sein, ohne nationalistisch zu werden, wenn es
seine Stärken erkennt: Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Kraft, kulturelle
Vielfalt und das europäische Projekt. Selbstbewusstsein und Identität entstehen
aus Klarheit über die Vergangenheit.
(Dieses Interview ist zuerst im Overton Magazin erschienen.)
06.12.2025 - »Demütigung ist in der internationalen Politik brandgefährlich«
Joachim von Ribbentrop war außenpolitischer Berater Adolf Hitlers und wurde im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt. Sein Enkel hat nun ein Buch über ihn geschrieben: »Verstehen, kein Verständnis«. Roberto De Lapuente hat mit Dominik von Ribbentrop gesprochen.
De Lapuente: Sie schreiben, Sie wollten Ihren Großvater, den einstmaligen Außenminister Adolf Hitlers »verstehen, ohne Verständnis zu haben«: Wo verläuft für Sie heute die Grenze zwischen historischem Verstehen und moralischer Entschuldigung – insbesondere, wenn es um die eigene Familie geht?
von Ribbentrop: Verstehen bedeutet für mich, die Mechanismen und Zwänge einer vergangenen Zeit ernsthaft zu analysieren. Ich wollte den Versuch wagen, nachzuvollziehen, wie die Menschen damals dachten und fühlten – nicht darum, ihre Entscheidungen zu entschuldigen. Gerade im familiären Kontext wäre es heute bequem, mit dem Wissen des Nachgeborenen moralisch streng zu urteilen. Aber so einfach ist Geschichte nicht. Die Grenze verläuft dort, wo Empathie in Rechtfertigung übergeht. Diese Linie bewusst nicht zu überschreiten, ist der Kern meiner Haltung.
De Lapuente: Ihr Buch ist kein klassisches Geschichtswerk, sondern eine psychologisch-philosophische Annäherung. Glauben Sie ein Stück weit, dass die Psychologie – und nicht die Geschichtswissenschaft – der Schlüssel zum Begreifen des Dritten Reichs ist?
von Ribbentrop: Ja, das denke ich. Ich glaube, dass wir das Dritte Reich mit dem limitierten Instrumentarium der Geschichtswissenschaft allein nicht vollständig erfassen können. Die eigentliche Dynamik spielte sich in der Gefühlswelt der Menschen ab – im Zusammenspiel von Angst, Loyalität, Identität, Opportunismus und Gruppendenken. Die Psychologie hilft uns, diese Prozesse zu entschlüsseln und zu verstehen, wie Millionen Menschen Schritt für Schritt in eine zerstörerische Entwicklung aktiv und passiv hineingesogen wurden.
De Lapuente: Wie war und wie ist es, den Namen von Ribbentrop in Deutschland zu tragen? Die jungen Leute heute wissen ja eher nicht mehr, wer Joachim von Ribbentrop war …
von Ribbentrop: Der Name begleitet mich seit meiner Jugend – mal sichtbar, mal unterschwellig. In Deutschland spüre ich gelegentlich Skepsis, im Ausland hingegen eher Neugier oder sogar Gelassenheit. Für mich ist der Name weniger Bürde als Verpflichtung: Er zwingt mich dazu, mich mit Geschichte und ihrer moralischen Dimension auseinanderzusetzen, anstatt wegzuschauen. Und auch wenn viele junge Menschen ihn heute nicht mehr kennen – ich empfinde es als wertvoll, dass Dialog über Geschichte weiterhin möglich ist.
De Lapuente: Hatte Ihr Großvater eine politische Vision? Oder war er letztlich auch nur ein Getriebener der damaligen Zeitenläufte?
von Ribbentrop: Ich glaube, er war in erster Linie ein Pragmatiker und Patriot, aber kein Ideologe. Sein Denken war stark von den Krisenjahren der Weimarer Republik geprägt: Inflation, politische Instabilität, Arbeitslosigkeit. Er glaubte, Stabilität sei überlebenswichtig – und sah Hitler fälschlicherweise als denjenigen an, der sie herstellen könne. In diesem Spannungsfeld aus Angst, Ehrgeiz und Opportunismus geriet er tiefer in das System, als er je beabsichtigt haben mag.
De Lapuente: Sie beschreiben die Kränkung durch den Versailler Vertrag als eine der Wurzeln des späteren Radikalismus. Glauben Sie, dass heutige geopolitische Demütigungen – etwa gegenüber Russland – ähnliche destruktive Dynamiken auslösen könnten?
von Ribbentrop: Ja, nationale Demütigungen wirken fast immer langfristig. Staaten reagieren wie Menschen: Wer sich gedemütigt fühlt, neigt zu Abwehr, Härte oder Radikalisierung. Russland ist ein gutes Beispiel dafür, wie historische Kränkungen politische Strategien prägen. Das legitimiert Aggressionen nicht – aber es erklärt, warum Demütigung in der internationalen Politik brandgefährlich ist. Wer Frieden will, muss diese psychologischen Faktoren ernst nehmen.
De Lapuente: Ihr Großvater war nicht nur Mitläufer, sondern Akteur auf höchster Ebene: Haben Sie durch Ihre Recherchen für dieses Buch über ihn etwas gelernt, das Ihrer bisherigen Vorstellung widersprach?
von Ribbentrop: Ja, sehr. Mich hat überrascht, wie stark sein Pragmatismus ausgeprägt war und wie weit seine Fähigkeit zur Verdrängung reichte. Er war kein Ideologe, aber er war bereit, vieles nicht wissen zu wollen bzw. zu ignorieren, um weiter dabei sein zu können. Diese toxische Mischung aus Loyalität, Ehrgeiz und Wegsehen hat mich ernüchtert – und sie sagt viel über die Gefahr menschlicher Schwächen in extremen politischen Situationen aus.
De Lapuente: Sie warnen vor einer Wiederholung ideologischer Verführbarkeit. Würden Sie nicht annehmen wollen, dass die Menschen heute etwas sensibilisierter und erfahrener sind im Umgang mit Propaganda?
von Ribbentrop: Ich würde es gerne glauben – aber ich bin nicht sicher. Moderne Propaganda ist oft subtiler, emotionaler und technisch raffinierter als früher. Algorithmen verstärken Empörung, polarisieren Gesellschaften und schaffen Echokammern, die Weltbilder verhärten. Unsere einzige echte Verteidigung besteht in Selbstreflexion, in der Pflege eigener Wertvorstellungen und der Bereitschaft, die Perspektive anderer ernsthaft zu prüfen.
De Lapuente: Sie schreiben, »Ideologien mögen das Herz erwärmen, taugen aber kaum zur Leitung einer Gesellschaft«. Bedeutet das auch, Sie sehen in der gegenwärtigen Moralisierung des öffentlichen Diskurses eine Gefahr für die Demokratie?
von Ribbentrop: Grundsätzlich denke ich, dass unsere Demokratie nach 80 Jahren reif und wehrhaft geworden ist. Und dennoch, wenn politische Fragen moralisch absolut gesetzt werden, verliert die Demokratie ihre wichtigste Kraft: Kompromissfähigkeit. Wir sehen zunehmend, dass moralische Zuschreibungen Debatten ersetzen. Das spaltet und erzeugt eine Atmosphäre, in der Vernunft und nüchterne Abwägung kaum noch Platz haben. Demokratie lebt von Pluralität, nicht von moralischer Reinheit.
De Lapuente: Sie sprechen von einer deutschen Identität, die gebrochen sei. Wie könnte Ihrer Ansicht nach ein selbstbewusstes, aber nicht nationalistisch aufgeladenes Verhältnis zur deutschen Geschichte aussehen?
von Ribbentrop: Wir sollten uns bemühen, unsere Geschichte anzunehmen – ohne sie zu beschönigen und ohne uns ständig zu verurteilen. Ein konstruktives Verhältnis zur Vergangenheit bedeutet Verantwortung, nicht Selbsthass. Deutschland kann selbstbewusst sein, ohne nationalistisch zu werden, wenn es seine Stärken erkennt: Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Kraft, kulturelle Vielfalt und das europäische Projekt. Selbstbewusstsein und Identität entstehen aus Klarheit über die Vergangenheit.
(Dieses Interview ist zuerst im Overton Magazin erschienen.)
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