Irgendwann in naher Zukunft: Alle Tiere sind ausgestorben und eine neue
Spezies wird eigens für die Fleischproduktion gezüchtet. Der menschenähnliche
Homo Cibus ist kein Individuum, sondern ein Produkt. Doch wo genau verläuft die
Linie zwischen Mensch und Cibus? Wer entscheidet, welche Lebensform mehr wert
ist, als die andere – und vor allem, nach welchen Maßstäben? Hannah arbeitet als
Sekretärin an einer Schule und versucht ihren Platz im Leben zu finden, als ein
junger Lehrer ihre Denkweise komplett auf den Kopf stellt. Sie begleitet ihn auf
eine Exkursion zu einer der Zuchtfarmen und beginnt, sich Fragen zu stellen. Als
plötzlich Schülerinnen spurlos verschwinden, gibt es auch für Hannah kein Zurück
mehr und sie muss eine Entscheidung treffen, die auch für sie selbst Leben oder
Tod bedeuten kann … »Carnivora« ist eine dystopische Zukunftsvision, die
ethische Fragen aus völlig neuer Perspektive beleuchtet. Ein Auszug.
»Ganz ehrlich, Hannah«, wandte sich Emmy an mich, als Agnes gegangen war.
»Ich finde dich ziemlich undankbar.« »Was meinst du?« Ich schob die
Augenbrauen zusammen. »Adam wurde befördert, wir haben dich zu einem leckeren
Abendessen eingeladen, und dann willst du nicht einmal probie¬ren, was wir
gekocht haben. Nicht einmal die Soße!«
»Ich habe doch gratuliert. Nochmals herzlichen Glück¬wunsch, Adam! Freust du
dich mehr darüber, wenn ich ein Stück Fleisch esse, oder was?« »Nee …«,
setzte er an.»Darum geht es nicht. Du sitzt hier an unserem Tisch, vor dem
Essen, das wir gekocht haben, und dann verurteilst du uns dafür, dass wir es
essen. Findest du das nicht ein bisschen drastisch?« »Nein, finde ich
eigentlich nicht.«»Irgendetwas müssen wir doch essen«, hielt Emmy resigniert
dagegen, als würde ich sie unter Druck setzen und nicht umgekehrt.« »Ich esse
Kartoffeln und Salat. Das ist doch etwas.« »Du weißt, was ich meine.«
»Aber das sind Menschen!« Ich schenkte mir mit einem sol¬chen Schwung Wein nach,
dass zwei rote Flecken auf dem weißen Tischtuch landeten. »So war es die
ganze Zeit, das ist nichts Neues.« Emmy redete mit ruhiger Stimme, während ich
das Herz in meiner Brust pochen spürte. Ich biss die Zähne aufeinander, während
Wörter und Bilder in meinem Kopf durcheinanderwirbelten. Ich ver¬suchte, sie
wieder zu vertreiben, aber ich schaffte es nicht. Viel-leicht hätte ich Emmy von
dem Schulausflug erzählen sollen, doch ich konnte nicht darüber sprechen, mir
fehlten die Worte, um zu beschreiben, was ich gesehen hatte. »Es ist in
Ordnung, Emmy.«
Adam kaute unbeeindruckt auf dem leblosen Kadaver herum, es kam mir vor, als
würde niemand den Ernst des Themas ver¬stehen. Es verwunderte mich, dass die
gleiche Geschichte so unterschiedlich für uns klang. »Man züchtet Cibus, sie
sind keine Menschen wie wir, du brauchst also nicht so makaber zu sein.« »Sie
haben es sich nicht ausgesucht, in dieses Leben hineinge¬boren zu werden. Und
noch dazu gibt es da völlig wahnsinnige Forschungsmethoden.« »Ah, okay, jetzt
weißt du auf einmal auch eine Menge über Forschung, oder wie?« »Mehr als du.«
»Was denn?« »Nichts. Ich finde nur, dass Fleisch ein krankhaftes Konzept
ist«, sagte ich. Adam grinste, und ich sah zu ihm. »Bis jetzt warst du immer
eine große Anhängerin dieses Kon¬zepts.« »Bin ich nicht mehr.« »Es macht
einen riesigen Teil der Weltwirtschaft aus, das kann man nicht einfach fallen
lassen«, merkte Adam kopfschüttelnd an. »Scheiß auf die Wirtschaft.«
»Meine Güte, bist du kindisch. Das ist doch vollkommen un¬realistisch, Hannah.
Wenn alle aufhören würden, Fleisch zu es¬sen, müssten die Höfe schließen, die
Bauern und die Schlachter würden ihre Arbeit verlieren. Und was sollte man dann
mit all den Cibus anfangen?« Emmy bedachte mich mit einem vor-wurfsvollen Blick.
»Sie können nicht einfach draußen in der Natur leben, und in eine Gesellschaft
können wir sie auch nicht integrieren. Das ist wirklich ein sehr naiver Gedanke,
Hannah.«
»Es würden doch neue Jobs nötig werden, zum Beispiel könn¬ten die Züchter
Bohnen anbauen, anstatt zu töten.« »Das ist echt weit hergeholt«, meinte
Adam. »Ich könnte je¬denfalls nicht auf Fleisch verzichten. Wie sollte ich ohne
Bacon leben können?« »Deine Vorlieben sind natürlich auch wichtiger als das
Leben von anderen.« »Jetzt reicht’s aber!« Emmys Stimme schrillte durch den
Raum. »Ja, aber genau das sagt er doch.« Ich funkelte Adam an, der
unverdrossen eine Kartoffel durch den roten See auf seinem Tel¬ler schob. »Wenn
man leben kann, ohne jemand anderen umzu¬bringen, warum zur Hölle tut man es
dann nicht?« »Hannah, wir lieben alle Lebewesen. Ich wollte nie jemandem
etwas Böses.« »Und trotzdem bezahlst du andere dafür, Menschen zu tö¬ten.«
»Es sind Homo Cibus«, erwiderte Emmy steif. »Das ist Kannibalismus!« »Wer
tötet jemanden, Mama?« erklang eine dünne Stimme hinter mir. »Niemand, mein
Schatz.« Emmy lächelte Agnes an. Ich stellte das Weinglas auf den Tisch, die
Flüssigkeit darin schwappte in der durchsichtigen Halbkugel hin und her.
»Alles ist gut, du brauchst dich nicht zu fürchten, wir haben nur über
Erwachsenendinge gesprochen, die ein wenig gruselig sind. Jetzt reden wir nicht
mehr darüber.« Ich rieb mir die Schlä¬fen, und Emmy hob Agnes auf ihren Schoß.
Die dicke Luft engte mich ein, und die Stille schubste mich vom Stuhl.
»Ich gehe dann besser mal. Vielen Dank für das leckere Essen und die nette
Gesellschaft.« Ich sorgte dafür, dass mein Ton¬fall genau auf der Grenze
zwischen Dankbarkeit und bitterem Sarkasmus lag. Ethik war eine fließende
Substanz, die mühelos alles durchdrang – sie durchströmte nicht nur mich,
sondern Gespräche, Abendessen, Beziehungen. Ich war nicht bereit dazu, konnte es
aber ebenso wenig ignorieren. Nicht mehr.
29.11.2025 - Carnivora
Irgendwann in naher Zukunft: Alle Tiere sind ausgestorben und eine neue Spezies wird eigens für die Fleischproduktion gezüchtet. Der menschenähnliche Homo Cibus ist kein Individuum, sondern ein Produkt. Doch wo genau verläuft die Linie zwischen Mensch und Cibus? Wer entscheidet, welche Lebensform mehr wert ist, als die andere – und vor allem, nach welchen Maßstäben? Hannah arbeitet als Sekretärin an einer Schule und versucht ihren Platz im Leben zu finden, als ein junger Lehrer ihre Denkweise komplett auf den Kopf stellt. Sie begleitet ihn auf eine Exkursion zu einer der Zuchtfarmen und beginnt, sich Fragen zu stellen. Als plötzlich Schülerinnen spurlos verschwinden, gibt es auch für Hannah kein Zurück mehr und sie muss eine Entscheidung treffen, die auch für sie selbst Leben oder Tod bedeuten kann … »Carnivora« ist eine dystopische Zukunftsvision, die ethische Fragen aus völlig neuer Perspektive beleuchtet. Ein Auszug.
»Ganz ehrlich, Hannah«, wandte sich Emmy an mich, als Agnes gegangen war. »Ich finde dich ziemlich undankbar.«
»Was meinst du?« Ich schob die Augenbrauen zusammen.
»Adam wurde befördert, wir haben dich zu einem leckeren Abendessen eingeladen, und dann willst du nicht einmal probie¬ren, was wir gekocht haben. Nicht einmal die Soße!«
»Ich habe doch gratuliert. Nochmals herzlichen Glück¬wunsch, Adam! Freust du dich mehr darüber, wenn ich ein Stück Fleisch esse, oder was?«
»Nee …«, setzte er an.»Darum geht es nicht. Du sitzt hier an unserem Tisch, vor dem Essen, das wir gekocht haben, und dann verurteilst du uns dafür, dass wir es essen. Findest du das nicht ein bisschen drastisch?«
»Nein, finde ich eigentlich nicht.«»Irgendetwas müssen wir doch essen«, hielt Emmy resigniert dagegen, als würde ich sie unter Druck setzen und nicht umgekehrt.«
»Ich esse Kartoffeln und Salat. Das ist doch etwas.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Aber das sind Menschen!« Ich schenkte mir mit einem sol¬chen Schwung Wein nach, dass zwei rote Flecken auf dem weißen Tischtuch landeten.
»So war es die ganze Zeit, das ist nichts Neues.« Emmy redete mit ruhiger Stimme, während ich das Herz in meiner Brust pochen spürte. Ich biss die Zähne aufeinander, während Wörter und Bilder in meinem Kopf durcheinanderwirbelten. Ich ver¬suchte, sie wieder zu vertreiben, aber ich schaffte es nicht. Viel-leicht hätte ich Emmy von dem Schulausflug erzählen sollen, doch ich konnte nicht darüber sprechen, mir fehlten die Worte, um zu beschreiben, was ich gesehen hatte.
»Es ist in Ordnung, Emmy.«
Adam kaute unbeeindruckt auf dem leblosen Kadaver herum, es kam mir vor, als würde niemand den Ernst des Themas ver¬stehen. Es verwunderte mich, dass die gleiche Geschichte so unterschiedlich für uns klang.
»Man züchtet Cibus, sie sind keine Menschen wie wir, du brauchst also nicht so makaber zu sein.«
»Sie haben es sich nicht ausgesucht, in dieses Leben hineinge¬boren zu werden. Und noch dazu gibt es da völlig wahnsinnige Forschungsmethoden.«
»Ah, okay, jetzt weißt du auf einmal auch eine Menge über Forschung, oder wie?«
»Mehr als du.«
»Was denn?«
»Nichts. Ich finde nur, dass Fleisch ein krankhaftes Konzept ist«, sagte ich. Adam grinste, und ich sah zu ihm.
»Bis jetzt warst du immer eine große Anhängerin dieses Kon¬zepts.«
»Bin ich nicht mehr.«
»Es macht einen riesigen Teil der Weltwirtschaft aus, das kann man nicht einfach fallen lassen«, merkte Adam kopfschüttelnd an.
»Scheiß auf die Wirtschaft.«
»Meine Güte, bist du kindisch. Das ist doch vollkommen un¬realistisch, Hannah. Wenn alle aufhören würden, Fleisch zu es¬sen, müssten die Höfe schließen, die Bauern und die Schlachter würden ihre Arbeit verlieren. Und was sollte man dann mit all den Cibus anfangen?« Emmy bedachte mich mit einem vor-wurfsvollen Blick. »Sie können nicht einfach draußen in der Natur leben, und in eine Gesellschaft können wir sie auch nicht integrieren. Das ist wirklich ein sehr naiver Gedanke, Hannah.«
»Es würden doch neue Jobs nötig werden, zum Beispiel könn¬ten die Züchter Bohnen anbauen, anstatt zu töten.«
»Das ist echt weit hergeholt«, meinte Adam. »Ich könnte je¬denfalls nicht auf Fleisch verzichten. Wie sollte ich ohne Bacon leben können?«
»Deine Vorlieben sind natürlich auch wichtiger als das Leben von anderen.«
»Jetzt reicht’s aber!« Emmys Stimme schrillte durch den Raum.
»Ja, aber genau das sagt er doch.« Ich funkelte Adam an, der unverdrossen eine Kartoffel durch den roten See auf seinem Tel¬ler schob. »Wenn man leben kann, ohne jemand anderen umzu¬bringen, warum zur Hölle tut man es dann nicht?«
»Hannah, wir lieben alle Lebewesen. Ich wollte nie jemandem etwas Böses.«
»Und trotzdem bezahlst du andere dafür, Menschen zu tö¬ten.«
»Es sind Homo Cibus«, erwiderte Emmy steif.
»Das ist Kannibalismus!«
»Wer tötet jemanden, Mama?« erklang eine dünne Stimme hinter mir.
»Niemand, mein Schatz.« Emmy lächelte Agnes an. Ich stellte das Weinglas auf den Tisch, die Flüssigkeit darin schwappte in der durchsichtigen Halbkugel hin und her.
»Alles ist gut, du brauchst dich nicht zu fürchten, wir haben nur über Erwachsenendinge gesprochen, die ein wenig gruselig sind. Jetzt reden wir nicht mehr darüber.« Ich rieb mir die Schlä¬fen, und Emmy hob Agnes auf ihren Schoß.
Mehr Content von Caroline StadsbjergDie dicke Luft engte mich ein, und die Stille schubste mich vom Stuhl.
»Ich gehe dann besser mal. Vielen Dank für das leckere Essen und die nette Gesellschaft.« Ich sorgte dafür, dass mein Ton¬fall genau auf der Grenze zwischen Dankbarkeit und bitterem Sarkasmus lag. Ethik war eine fließende Substanz, die mühelos alles durchdrang – sie durchströmte nicht nur mich, sondern Gespräche, Abendessen, Beziehungen. Ich war nicht bereit dazu, konnte es aber ebenso wenig ignorieren. Nicht mehr.
Autoren von "Carnivora"
Bücher von Caroline Stadsbjerg