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Kommentar

26.10.2025 - Selbstermächtigung und Minderheitenschutz

Bernhard Hommel:

Im Ringen um „richtige“ Lösungen im Umgang mit Krisen, in der Bewältigung von gesellschaftlichen Strukturproblemen oder bei richtungsweisenden Entscheidungen fordern wir einen offenen und sachorientierten Dialog der Kontrahenten. Der renommierte Psychologe und Bestsellerautor Bernhard Hommel belegt in seinem neuen Buch „Die Macht der Menschenbilder“ allerdings eindrucksvoll, dass dies so gut wie unmöglich ist. Wir alle sind von manifestierten „Menschenbildern“ geprägt, die in der Regel unverrückbar sind und eine Offenheit für die Argumente des anderen verhindern. Viele Debatten sind ohne das Verständnis dieser zugrunde liegenden Menschenbilder daher überflüssig. Bernhard Hommel analysiert die Macht dieser Menschenbilder und die sich daraus ergebenden politischen Annahmen so ausführlich wie verständlich – und zeigt, wie wir uns endlich wieder besser verstehen können.

Überall auf der Welt unterscheiden sich Menschen hinsichtlich ihrer Ausgangsvoraussetzungen. In manchen Ländern sind diese Unterschiede stärker als in anderen, aber selbst in hochentwickelten und ökonomisch hervorragend funktionierenden Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland haben es manche Menschen schwerer, dieselben Ziele zu erreichen als andere. Woran man das genau festmachen soll, ist umstritten, und auch hier sind die Vorlieben abhängig vom Menschenbild. Anhänger des reflektorischen Menschenbildes würden vor allem nach Abweichungen von der Gleichverteilung in Statistiken suchen, wie etwa danach, ob die Verteilung der Geschlechter bei Besuchern von speziellen Schulen, Gymnasien und Universitäten repräsentativ ist. Wenn diese Verteilungen von der Verteilung der Geschlechter in der Gesamtbevölkerung abweichen würden, wäre von Ungerechtigkeit die Rede, die der staatlichen Intervention bedürfe. Befürworter des agentiven Menschenbildes würden in derartigen Fällen eher nach konkreten Stolpersteinen für bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Schichten suchen oder die Möglichkeit erwägen, dass sich der Besuch dieser Institutionen für die Geschlechter unterschiedlich attraktiv darstellt.
Als ich mich auf meine Promotion am Ende der 1980er-Jahre an der Universität Bielefeld vorbereitete, habe ich mir alle in der Bibliothek verfügbaren Promotionsarbeiten meiner Teildisziplin ausgeliehen, um zu sehen, wie man eine solche Arbeit angeht. Aus irgendwelchen Gründen mussten die Berufe der Eltern und der Geburtsort des Promovierenden ausdrücklich in der Schrift genannt werden und dabei fiel mir zweierlei auf. Einerseits, dass alle Kandidaten aus Großstädten stammten, während ich im 2500-Seelen-Ort Niederstotzingen aufwuchs. Und andererseits, dass beide Eltern der Kandidaten entweder auch aus dem akademischen Milieu stammten, mindestens mit Doktorgrad, oft mit Professorentitel, oder wenigstens Arzt oder Bankdirektor waren, während es meine Eltern »nur« zum technischen Angestellten und zur Sekretärin gebracht hatten.
Auch im weiteren Verlauf meiner Karriere habe ich das akademische Milieu keineswegs als repräsentativ für unsere Gesellschaft erfahren. Wenn man auf Partys andere Familienmitglieder von hochrangigen Akademikern traf, handelte es sich bei denen mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls um hochrangige Akademiker mit einflussreichen Positionen an weltbekannten Universitäten oder um anderweitig einflussreiche Personen mit erheblichem Einkommen. Das alles hat meine Familie nicht zu bieten und sowohl meinen persönlichen, nicht akademischen Interessen als auch meiner beruflichen Vergangenheit als Lkw-Fahrer, Lagerarbeiter, Nachtwächter und Zeitungsausträger wurde allenfalls mit einem Anflug exotischer Neugier begegnet. Einiges hat sich inzwischen geändert und einiges auch zum Guten, aber von einer wirklichen Durchlässigkeit unseres Ausbildungssystems kann nachweislich nicht die Rede sein. Relative und absolute Armut sind immer noch erblich. Das Geschlecht, die Hautfarbe und vieles mehr machen weiterhin einen Unterschied.
Dies alles kann man aus den unterschiedlichsten Gründen ungerecht finden. Die Frage ist aber nun, wie man das politisch ändern könnte und wo man dabei ansetzen muss. Auch hinsichtlich dieser Frage ist die Kreativität der handelnden Akteure oft überraschend beschränkt und stark vom bevorzugten Menschenbild abhängig. Die Bevorzugung des reflektorischen Menschenbildes durch politische Agenten führt fast ausnahmslos zu staatlichen Top-down-Maßnahmen, also zu Interventionen des Staates, um betroffene Minderheiten vor Ungerechtigkeiten zu schützen. Das macht sicher Sinn: Denn wenn man das Individuum als ein passives Spiegelbild seiner gesellschaftlichen Verhältnisse sieht, dann kann man die Situation des Individuums nur verbessern, indem man die Verhältnisse verändert. Auch nach dieser Vision sind Individuen nicht völlig unbeteiligt, denn die staatlichen Akteure sind selbst auch Individuen, die entsprechende Gesetzesentwürfe entwickeln und entsprechende Regelmechanismen implementieren. Aber sie handeln eben nicht als Individuen aus freien Stücken, sondern als Repräsentanten staatlicher Macht und im Rahmen eines staatlichen Auftrags.
Umgekehrt setzt das agentive Menschenbild an den betroffenen Personen an. Das Ziel besteht in der Regel darin, die betroffenen Personen selbst zu ermächtigen, ihre eigene Situation zu verbessern. Während die Ermächtigung eben-falls durch staatliche Top-down-Maßnahmen angeregt beziehungsweise ermöglicht werden kann, geht der eigentliche Prozess der Ermächtigung jedoch von der betroffenen Person aus und führt umgekehrt zu einer Bottom-up-Reaktion. Also zu einer selbstgesteuerten Verbesserung der eigenen Situation.

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