Menschen hinter Gittern: Wie leben sie? Wie sieht ihr Alltag aus? Und was
genau geschieht im Gefängnis „im Namen des Volkes“? Wollen wir überhaupt wissen,
was aus den Menschen wird, nachdem sie als Straftäter verurteilt und weggesperrt
sind? Und was ist mit den Frauen und Männern, die als Personal in den Anstalten
Dienst tun – oft ebenfalls lebenslänglich? Joachim Walter war u.a.
stellvertretender Leiter der Strafvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim und Leiter
des Jugendstrafvollzugs in Pforzheim und Adelsheim. Aus seiner jahrzehntelangen
Berufserfahrung erzählt er in seinem Buch lebendige, aber immer wahre
Geschichten über die Menschen im Gefängnis – Gefangene wie Bedienstete – und
überlässt es den Leserinnen und Lesern, sich selbst ein Urteil über Sinn und
Unsinn des Strafvollzugs zu bilden.
Zelleneinschluss im Heilbronner
Gefängnis. Ein riesiger Radau: Lautsprecher knarzen, pfeifen und plärren los,
schwere Eisentüren schlagen, Schlüssel rasseln, Kommandos erschallen, Stiefel
stampfen, ein gewaltiges Wirrwarr von Stimmen. Man kann unmöglich angeben, woher
die vielen lauten und hallenden Geräusche kommen. Offenbar von überall her. Weil
es so viele Flure und Türen im Gefängnis gibt: Außentüren, Innentüren,
Schleusentüren, Zellentüren, Stockwerksabschlusstüren. Es kommt einem so vor,
als ob sie alle gleichzeitig geräuschvoll geöffnet und wieder zugeknallt werden.
Menschenmassen drängen ins Gebäude, zu den Treppenaufgängen, trampeln über die
Gänge und Galerien. Das sind die typischen Geräusche eines deutschen
Gefängnisses zu Anfang der Siebzigerjahre beim Einschluss. Das Zellengebäude
der JVA Heilbronn, in der ich nun seit einigen Monaten tätig bin, besteht aus
vier langen Flügeln, jeder von ihnen drei Stockwerke hoch, die sich, ähnlich der
Vierung einer gotischen Kathedrale, in einem Zentralbau treffen. Jeder Flügel
ist vom Erdgeschoss bis zum dritten Obergeschoss offen. Man nennt das
panoptische Bauweise. Denn so kann von der verglasten Zentrale im Kreuzungspunkt
aus jeder der davon abgehenden Flügel vollständig überblickt werden, sogar von
einem einzigen Aufsichtsbeamten. Im zentralen Aufsichtsbereich kann man über
Wendeltreppen alle Stockwerke erreichen. Ein solches Gefängnis ist innen
offen, vom Erdgeschoss bis zum Dach, welches mit seinen zahlreichen
Fensterfeldern für Tageslicht sorgt. Es gibt keine Zwischendecken zwischen den
Stockwerken. Oft werden die Flügel deshalb auch als Hallen bezeichnet. Der
Zugang zu den in jedem Flügel auf beiden Seiten angeordneten Hafträumen erfolgt
über schmale eiserne Galerien, die an der Innenwand des jeweiligen Stockwerks
hängend angebracht sind. Sie vereinigen sich im Zentralgebäude und erschließen
so mehrere Hundert Zellen, in denen die Gefangenen untergebracht sind. Aufgrund
des Mangels jeder Trittschalldämpfung führen diese metallenen Laufgänge zum
hohen Lärmpegel beim Einrücken. Diese eisernen Galerien auf den Stockwerken
sind so schmal, dass zwei Personen dort nur mit Mühe aneinander vorbeikommen.
Das ist Absicht. Ist auch nur eine der nach außen schwenkenden Zellentüren
geöffnet, ist der Durchgang vollends versperrt. Bis die Tür mittels eines langen
Hebels, senkrecht stehend und dreimal so lang wie eine normale Türklinke, wieder
geschlossen wird. So wird die Vereinzelung beim Zelleneinschluss vieler
Gefangener garantiert und darüber hinaus im Gebäude ein Davonrennen praktisch
unmöglich gemacht. Bei der täglich dreimal stattfindenden Essenausgabe hat der
Essensausteiler daher große Mühe, mit seinem schmalen Schiebewagen und den
darauf geladenen Kübeln mit Muckefuck, Suppe oder Eintopf überhaupt
durchzukommen. Der ihn begleitende Beamte öffnet deshalb immer nur eine
Zellentüre nach der anderen. Ansonsten droht Blockade. Im offenen Luftraum
zwischen diesen mit hohen Geländern versehenen Laufgängen sind in den oberen
Stockwerken Sprung-netze gespannt, damit keiner, um sich das Leben zu nehmen,
über das Geländer in die Tiefe springen kann. Der Lärm der schwer ins Schloss
fallenden Türen, aber auch sonst alle Geräusche, die beim Zelleneinschluss von
Hunderten in ihre Hafträume zurückströmenden Gefangenen und zahlreichen
Wachbeamten verursacht werden, können sich also im ganzen Gebäude ungehindert
ausbreiten. Neben dem lauten Türenschlagen tragen zum enormen Lärm des
Einschlusses ebenso bei: das Trampeln der Schritte auf den eisernen Treppen und
Galerien, das Rasseln der Schlüsselbünde der Beamten, wenn sie die Türschlösser
betätigen, und ihre Kommandos. Und natürlich die lautstarken Rufe der Männer,
wenn es sein muss auch über Stockwerke hinweg, mit denen sie den allgemeinen
Krach zu übertönen versuchen, um einen Kumpel oder einen Neuzugang zu
kontaktieren. Alles noch verstärkt durch den Nachhall. Denn das Einzige, was den
Lärm dämpfen kann, ist die Kleidung der Gefangenen und der Uniformträger.
Ansonsten gibt es nur Mauerwände, Stahl und Glas. Ein solcher Auf- oder
Einschluss findet mehrmals täglich statt: morgens Abrücken zur Arbeit, mittags
Einrücken zum Mittagessen, das in der Zelle eingenommen wird. Danach erneutes
Abrücken zur Arbeit, sodann wieder Einschluss im Haftraum und
Vollzähligkeitskontrolle. Am späteren Nachmittag Abrücken zum Hofgang und danach
für heute letzter Einschluss in den Haftraum samt erneuter Zählkontrolle,
versteht sich. Es sei denn, der Gefangene darf ausnahmsweise abends zu einer
Freizeitveranstaltung gehen. Und jedes Mal ist das ganze Gefängnis in
Bewegung, jedes Mal geht es zu wie im Ameisenhaufen: Hunderte von Gefangenen,
alle einheitlich in fadenscheinigem graublauen Drillich, strömen aus mehreren
Richtungen über die engen Treppen und Galerien durch das Haus zu ihren
Abteilungen. Das verursacht überall Stauungen und dauert seine Zeit. Schließlich
steht jeder wartend vor seiner Zellentüre, bis sie ihm einer der
Aufsichtsbeamten öffnet und sofort nach dem Betreten wieder verschließt. Fast
genauso wie der enorme Lärm beeindruckt den Neuling der typische Knastgeruch,
der alles durchdringt. Er hat sich in die Kleidung und das Bettzeug der
Gefangenen eingenistet und wabert durch das ganze große Gebäude. Eine Mischung
aus Männerschweiß, kaltem Zigarettenrauch, schlecht gelüfteten Hafträumen und
dem Mief abgestandenen Essens – undefinierbar, aber unverwechselbar. Er kann
einem buchstäblich den Atem rauben. Mehrfach ist es vorgekommen, dass Besucher
von außerhalb im Zellenbau ohnmächtig geworden sind und an die frische Luft
gebracht werden mussten. Nach Beendigung des abendlichen Einschlusses,
letztem Türen-schlagen und Schlüsselrasseln scheint es ruhig zu werden im
Zellenbau. Mittlerweile haben die Gefangenen über die Essenklappe in der
Zellentür auch das Abendessen in Empfang genommen: lauwarmen Kräutertee, zwei
bis drei Scheiben Graubrot, etwas Wurst oder Käse. Allerdings fangen nach dem
Essen schon wieder einige an, sich vom Zellenfenster aus gegenseitig die letzten
Neuigkeiten zuzurufen. Das ist zwar verboten, aber einfach, weil jeder von
seiner Zelle aus eine Vielzahl von potenziellen Gesprächspartnern im
gegenüberliegenden Flügel findet. Es dauert deshalb lange, bis das Stimmengewirr
abebbt. Einzelne Zurufe und Unterhaltungen von Fenster zu Fenster gibt es aber
noch lange. Wann kehrt denn endlich Ruhe ein? Das dauert, je nach
Jahres-zeit und Witterung. In warmen Sommernächten, wo in den schlecht
belüfteten Zellen kaum einer Schlaf findet, sind einzelne Stimmen, manchmal auch
unartikulierte Schreie noch bis spät in die Nacht zu hören. Außerdem stören die
grellen Scheinwerfer, die bei Dunkelheit alle Gebäudeteile in helles Licht
tauchen und zu jedem Fenster hereinleuchten. Herrscht dann lange nach
Mitternacht Frieden, kann ein einzelner Rufer den ganzen Bau wieder wecken. Dann
kann es vorkommen, dass die Gefangenen anfangen, wütend mit ihren Löffeln gegen
die blechernen Essgeschirre zu schlagen oder mit den Fäusten gegen die
Zellentüren zu hämmern und mit den Füßen dagegenzutreten. Der ganze Knast gerät
dann in Aufruhr: ein ohrenbetäubender Lärm und wüstes Spektakel.
Nervenzerfetzend kann das sein – und soll das auch sein! Bambule machen, nennen
die Gefangenen das. Ein ohnmächtiger Protest derer, denen kein anderes Mittel
zur Verfügung steht, ihrer Wut und Empörung Ausdruck zu verleihen. Sollte
nun noch irgendwo einer der zahlreichen, an vielen kritischen Stellen
angebrachten Alarmmelder eingeschlagen werden – Blau für Sicherheit, Rot für
Feuer –, dann schrillen in allen Flügeln und Stockwerken die extrem lauten
elektrischen Alarmglocken. Auf großen rot oder blau blinkenden Tableaus wird den
losrennenden Beamten angezeigt, an welchem Ort der Alarm ausgelöst wurde.
Gleichzeitig fährt die Alarmbeleuchtung hoch: Mit zahlreichen zusätzlichen
Scheinwerfern wird die Anstalt in ein gleißend helles Licht getaucht. Jetzt ist
endgültig die Hölle los! Solcher Art dürften meine ersten prägenden Eindrücke
und Erfahrungen im Heilbronner Gefängnis in der Steinstraße gewesen sein.
Beeindruckend, bisweilen beklemmend, manchmal sogar furchterregend. In jedem
Falle so ungewöhnlich, dass einem die ersten Wochen in einem solchen
geschlossenen Männergefängnis wohl immer unauslöschlich im Gedächtnis bleiben
werden. Kein Wunder also, dass ich meine ersten Monate als stellvertretender
Leiter der Justizvollzugsanstalt Heilbronn als sehr belastend in Erinnerung
habe. Mit den täglich gemachten bedrückenden Erfahrungen konnte ich oft kaum
klarkommen. Nur in dieser Zeit, nie zuvor und auch niemals mehr danach in meinem
Leben, habe ich deshalb Tagebuch geschrieben und diesem meine Erlebnisse,
Belastungen und Verletzungen anvertraut. Es war ein Versuch, die auf mich
einstürzenden Eindrücke zu verarbeiten und dabei einigermaßen das psychische
Gleichgewicht zu halten. Eine Art Selbst-Supervision.
26.06.2025 - Tagebuch aus der JVA Heilbronn
Menschen hinter Gittern: Wie leben sie? Wie sieht ihr Alltag aus? Und was genau geschieht im Gefängnis „im Namen des Volkes“? Wollen wir überhaupt wissen, was aus den Menschen wird, nachdem sie als Straftäter verurteilt und weggesperrt sind? Und was ist mit den Frauen und Männern, die als Personal in den Anstalten Dienst tun – oft ebenfalls lebenslänglich? Joachim Walter war u.a. stellvertretender Leiter der Strafvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim und Leiter des Jugendstrafvollzugs in Pforzheim und Adelsheim. Aus seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung erzählt er in seinem Buch lebendige, aber immer wahre Geschichten über die Menschen im Gefängnis – Gefangene wie Bedienstete – und überlässt es den Leserinnen und Lesern, sich selbst ein Urteil über Sinn und Unsinn des Strafvollzugs zu bilden.
Zelleneinschluss im Heilbronner Gefängnis. Ein riesiger Radau: Lautsprecher knarzen, pfeifen und plärren los, schwere Eisentüren schlagen, Schlüssel rasseln, Kommandos erschallen, Stiefel stampfen, ein gewaltiges Wirrwarr von Stimmen. Man kann unmöglich angeben, woher die vielen lauten und hallenden Geräusche kommen. Offenbar von überall her. Weil es so viele Flure und Türen im Gefängnis gibt: Außentüren, Innentüren, Schleusentüren, Zellentüren, Stockwerksabschlusstüren. Es kommt einem so vor, als ob sie alle gleichzeitig geräuschvoll geöffnet und wieder zugeknallt werden. Menschenmassen drängen ins Gebäude, zu den Treppenaufgängen, trampeln über die Gänge und Galerien. Das sind die typischen Geräusche eines deutschen Gefängnisses zu Anfang der Siebzigerjahre beim Einschluss.
Das Zellengebäude der JVA Heilbronn, in der ich nun seit einigen Monaten tätig bin, besteht aus vier langen Flügeln, jeder von ihnen drei Stockwerke hoch, die sich, ähnlich der Vierung einer gotischen Kathedrale, in einem Zentralbau treffen. Jeder Flügel ist vom Erdgeschoss bis zum dritten Obergeschoss offen. Man nennt das panoptische Bauweise. Denn so kann von der verglasten Zentrale im Kreuzungspunkt aus jeder der davon abgehenden Flügel vollständig überblickt werden, sogar von einem einzigen Aufsichtsbeamten. Im zentralen Aufsichtsbereich kann man über Wendeltreppen alle Stockwerke erreichen.
Ein solches Gefängnis ist innen offen, vom Erdgeschoss bis zum Dach, welches mit seinen zahlreichen Fensterfeldern für Tageslicht sorgt. Es gibt keine Zwischendecken zwischen den Stockwerken. Oft werden die Flügel deshalb auch als Hallen bezeichnet. Der Zugang zu den in jedem Flügel auf beiden Seiten angeordneten Hafträumen erfolgt über schmale eiserne Galerien, die an der Innenwand des jeweiligen Stockwerks hängend angebracht sind. Sie vereinigen sich im Zentralgebäude und erschließen so mehrere Hundert Zellen, in denen die Gefangenen untergebracht sind. Aufgrund des Mangels jeder Trittschalldämpfung führen diese metallenen Laufgänge zum hohen Lärmpegel beim Einrücken.
Diese eisernen Galerien auf den Stockwerken sind so schmal, dass zwei Personen dort nur mit Mühe aneinander vorbeikommen. Das ist Absicht. Ist auch nur eine der nach außen schwenkenden Zellentüren geöffnet, ist der Durchgang vollends versperrt. Bis die Tür mittels eines langen Hebels, senkrecht stehend und dreimal so lang wie eine normale Türklinke, wieder geschlossen wird. So wird die Vereinzelung beim Zelleneinschluss vieler Gefangener garantiert und darüber hinaus im Gebäude ein Davonrennen praktisch unmöglich gemacht. Bei der täglich dreimal stattfindenden Essenausgabe hat der Essensausteiler daher große Mühe, mit seinem schmalen Schiebewagen und den darauf geladenen Kübeln mit Muckefuck, Suppe oder Eintopf überhaupt durchzukommen. Der ihn begleitende Beamte öffnet deshalb immer nur eine Zellentüre nach der anderen. Ansonsten droht Blockade.
Im offenen Luftraum zwischen diesen mit hohen Geländern versehenen Laufgängen sind in den oberen Stockwerken Sprung-netze gespannt, damit keiner, um sich das Leben zu nehmen, über das Geländer in die Tiefe springen kann. Der Lärm der schwer ins Schloss fallenden Türen, aber auch sonst alle Geräusche, die beim Zelleneinschluss von Hunderten in ihre Hafträume zurückströmenden Gefangenen und zahlreichen Wachbeamten verursacht werden, können sich also im ganzen Gebäude ungehindert ausbreiten.
Neben dem lauten Türenschlagen tragen zum enormen Lärm des Einschlusses ebenso bei: das Trampeln der Schritte auf den eisernen Treppen und Galerien, das Rasseln der Schlüsselbünde der Beamten, wenn sie die Türschlösser betätigen, und ihre Kommandos. Und natürlich die lautstarken Rufe der Männer, wenn es sein muss auch über Stockwerke hinweg, mit denen sie den allgemeinen Krach zu übertönen versuchen, um einen Kumpel oder einen Neuzugang zu kontaktieren. Alles noch verstärkt durch den Nachhall. Denn das Einzige, was den Lärm dämpfen kann, ist die Kleidung der Gefangenen und der Uniformträger. Ansonsten gibt es nur Mauerwände, Stahl und Glas.
Ein solcher Auf- oder Einschluss findet mehrmals täglich statt: morgens Abrücken zur Arbeit, mittags Einrücken zum Mittagessen, das in der Zelle eingenommen wird. Danach erneutes Abrücken zur Arbeit, sodann wieder Einschluss im Haftraum und Vollzähligkeitskontrolle. Am späteren Nachmittag Abrücken zum Hofgang und danach für heute letzter Einschluss in den Haftraum samt erneuter Zählkontrolle, versteht sich. Es sei denn, der Gefangene darf ausnahmsweise abends zu einer Freizeitveranstaltung gehen.
Und jedes Mal ist das ganze Gefängnis in Bewegung, jedes Mal geht es zu wie im Ameisenhaufen: Hunderte von Gefangenen, alle einheitlich in fadenscheinigem graublauen Drillich, strömen aus mehreren Richtungen über die engen Treppen und Galerien durch das Haus zu ihren Abteilungen. Das verursacht überall Stauungen und dauert seine Zeit. Schließlich steht jeder wartend vor seiner Zellentüre, bis sie ihm einer der Aufsichtsbeamten öffnet und sofort nach dem Betreten wieder verschließt.
Fast genauso wie der enorme Lärm beeindruckt den Neuling der typische Knastgeruch, der alles durchdringt. Er hat sich in die Kleidung und das Bettzeug der Gefangenen eingenistet und wabert durch das ganze große Gebäude. Eine Mischung aus Männerschweiß, kaltem Zigarettenrauch, schlecht gelüfteten Hafträumen und dem Mief abgestandenen Essens – undefinierbar, aber unverwechselbar. Er kann einem buchstäblich den Atem rauben. Mehrfach ist es vorgekommen, dass Besucher von außerhalb im Zellenbau ohnmächtig geworden sind und an die frische Luft gebracht werden mussten.
Nach Beendigung des abendlichen Einschlusses, letztem Türen-schlagen und Schlüsselrasseln scheint es ruhig zu werden im Zellenbau. Mittlerweile haben die Gefangenen über die Essenklappe in der Zellentür auch das Abendessen in Empfang genommen: lauwarmen Kräutertee, zwei bis drei Scheiben Graubrot, etwas Wurst oder Käse. Allerdings fangen nach dem Essen schon wieder einige an, sich vom Zellenfenster aus gegenseitig die letzten Neuigkeiten zuzurufen. Das ist zwar verboten, aber einfach, weil jeder von seiner Zelle aus eine Vielzahl von potenziellen Gesprächspartnern im gegenüberliegenden Flügel findet. Es dauert deshalb lange, bis das Stimmengewirr abebbt. Einzelne Zurufe und Unterhaltungen von Fenster zu Fenster gibt es aber noch lange.
Wann kehrt denn endlich Ruhe ein? Das dauert, je nach Jahres-zeit und Witterung. In warmen Sommernächten, wo in den schlecht belüfteten Zellen kaum einer Schlaf findet, sind einzelne Stimmen, manchmal auch unartikulierte Schreie noch bis spät in die Nacht zu hören. Außerdem stören die grellen Scheinwerfer, die bei Dunkelheit alle Gebäudeteile in helles Licht tauchen und zu jedem Fenster hereinleuchten.
Herrscht dann lange nach Mitternacht Frieden, kann ein einzelner Rufer den ganzen Bau wieder wecken. Dann kann es vorkommen, dass die Gefangenen anfangen, wütend mit ihren Löffeln gegen die blechernen Essgeschirre zu schlagen oder mit den Fäusten gegen die Zellentüren zu hämmern und mit den Füßen dagegenzutreten. Der ganze Knast gerät dann in Aufruhr: ein ohrenbetäubender Lärm und wüstes Spektakel. Nervenzerfetzend kann das sein – und soll das auch sein! Bambule machen, nennen die Gefangenen das. Ein ohnmächtiger Protest derer, denen kein anderes Mittel zur Verfügung steht, ihrer Wut und Empörung Ausdruck zu verleihen.
Sollte nun noch irgendwo einer der zahlreichen, an vielen kritischen Stellen angebrachten Alarmmelder eingeschlagen werden – Blau für Sicherheit, Rot für Feuer –, dann schrillen in allen Flügeln und Stockwerken die extrem lauten elektrischen Alarmglocken. Auf großen rot oder blau blinkenden Tableaus wird den losrennenden Beamten angezeigt, an welchem Ort der Alarm ausgelöst wurde. Gleichzeitig fährt die Alarmbeleuchtung hoch: Mit zahlreichen zusätzlichen Scheinwerfern wird die Anstalt in ein gleißend helles Licht getaucht. Jetzt ist endgültig die Hölle los!
Solcher Art dürften meine ersten prägenden Eindrücke und Erfahrungen im Heilbronner Gefängnis in der Steinstraße gewesen sein. Beeindruckend, bisweilen beklemmend, manchmal sogar furchterregend. In jedem Falle so ungewöhnlich, dass einem die ersten Wochen in einem solchen geschlossenen Männergefängnis wohl immer unauslöschlich im Gedächtnis bleiben werden.
Kein Wunder also, dass ich meine ersten Monate als stellvertretender Leiter der Justizvollzugsanstalt Heilbronn als sehr belastend in Erinnerung habe. Mit den täglich gemachten bedrückenden Erfahrungen konnte ich oft kaum klarkommen. Nur in dieser Zeit, nie zuvor und auch niemals mehr danach in meinem Leben, habe ich deshalb Tagebuch geschrieben und diesem meine Erlebnisse, Belastungen und Verletzungen anvertraut. Es war ein Versuch, die auf mich einstürzenden Eindrücke zu verarbeiten und dabei einigermaßen das psychische Gleichgewicht zu halten. Eine Art Selbst-Supervision.
Autoren von "Tagebuch aus der JVA Heilbronn"
Bücher von Joachim Walter