Europa steht an einer historischen Schwelle. In ihrem Buch »ZeitenWenden«
seziert Ulrike Guérot den geistigen, politischen und gesellschaftlichen Zerfall
unserer Zeit. Mutig und unerschrocken legt sie offen, wie Demokratien
zerbröckeln, Freiheit preisgegeben und Europa in Kriegsrhetorik erstickt wird.
Guérot schreibt gegen das Vergessen, das Wegsehen und die Lüge - und für die
Rückbesinnung auf Vernunft, Mut und bürgerliche Verantwortung. Sie ruft auf zur
Verteidigung der Freiheit gegen Angstpolitik, gegen autoritäre Tendenzen und
technologische Entmündigung. Ein leidenschaftliches Manifest gegen die
politische Lähmung und ein Weckruf an alle, die Europa als Projekt der Freiheit
und des Friedens nicht aufgeben wollen.
Wie Kafkas Käfer hat sich
die Bundesrepublik Deutschland gleichsam über Nacht zu etwas gewandelt, das man
nicht mehr wiedererkennt. Wollte man in loser Folge aufzählen, was in der
Bundesrepublik in den letzten Jahren verlustig gegangen ist, ohne dass es
irgendeinen größeren Aufschrei in der sogenannten bürgerlichen Mitte verursacht
hätte, dann wären das: Demokratie, Rechtsstaat, Europa, Vertrauen und
Sicherheit, Frieden, sichere Grenzen und sozialer Zusammenhalt, also eigentlich
alles, was einmal die Grundfesten der Republik ausgemacht hat. Dazu, auch das
ist Zeitenwende, werden »der Westen« und die Weltordnung von 1949 derzeit
beerdigt und die Welt wird gleichsam neu verschraubt. Schlimmer wiegt, dass
sich Wahrheit und Faktizität verschoben haben, dass die Vernunft aus den Angeln
gehoben wurde, dass das Denken an sich, die utopische Idee und mit ihr jeder
Hauch von Zukunft verlustig gegangen sind und damit die europäische Zivilität
(»civilité« – der Begriff stammt von dem marxistischen französischen Historiker
Etienne Balibar). Also unsere originären Denkstrukturen, die Art und Weise, wie
wir in Europa einmal auf die Welt geblickt haben! Die eigentliche Zeitenwende
ist, dass die in Europa erzählte Welt nicht mehr real ist und die reale Welt in
Europa nicht mehr erzählt wird. So heißt es beispielsweise im Koalitionsvertrag
freihändig, bar jeder differenzierten analytischen Einschätzung und komplett
evasiv:
»Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit
Jahrzehnten nicht mehr. Die größte und direkteste Bedrohung geht dabei von
Russland aus, das im vierten Jahr einen brutalen und völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und weiter massiv aufrüstet. Das
Machtstreben von Wladimir Putins richtet sich gegen die regelbasierte
Weltordnung als Ganze.«
Wobei die NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine
bekräftigt wird, die die USA gerade abgeräumt haben. Wir sind also gut, alle
anderen sind böse. Alice im Wunderland hätte an diesen surrealen Zeilen ihre
helle Freude und würde, wie in ihrem Dialog mit der Königin und der falschen
Suppenschildkröte, sicher ausrufen: Das ist doch alles nur ihre Phantasie.
Anders formuliert: Man kann sich auch in etwas hineinreden. Die Gefahr ist,
dass eine Amöben-Demokratie, die rückgratlos ihre Würde und ihre Freiheit für
ein Virus auf den Tisch gelegt hat, auch alles andere im Wahn oder für eine
andere Hysterie auf den Tisch legen wird. Die jahrelang verbissen verteidigte
Schuldenbremse wurde im März 2025 mir nichts, dir nichts gekippt und 800
Milliarden Sondervermögen und »theoretisch unbegrenzt Geld für
Verteidigungsausgaben« bewilligt und durch den Bundestag gepeitscht –
vermeintlich, um unsere Sicherheit, unsere »Werte« und unsere »freiheitliche
Demokratie« vor Vladimir Putin und dem »imperialen Russland« zu schützen. Das
alles passierte im selben Moment, in dem Volodymyr Zelensky in einem Brief
signalisierte, dass er zu einem Friedensschluss bereit war und in dem man
schwarz auf weiß nachlesen konnte, dass es der Westen, die EU war, die den
Frieden in der Ukraine unterminierte. Welche Verdrängungsleistung findet hier
statt? Welche Realitätswahrnehmung hat die deutsche Regierung? Welche kognitive
Dissonanz ist hier zu beklagen? Wie will man einem Land und seinen Institutionen
vertrauen, das offenbar in ideologischen Wolken verhangen und verfangen ist –
völlig losgelöst von der Erde, wie Major Tom? Wie gefährlich ist es in einem
Land, in dem de facto jetzt Willkür herrscht, in dem Sinne, als das alles, was
gestern noch galt, nicht mehr gilt – oder alles, was gestern unmöglich war, auf
einmal möglich ist? Wie, außer mit Autorität, Gewalt oder Ideologie, will man
vernünftige Bürger dafür gewinnen, den Kurs der Regierung mitzutragen, die auf
»Kriegstüchtigkeit« hinarbeitet, während der Frieden schon verhandelt wird? Wenn
Irrationalität zur staatlichen verordneten Pflicht wird? Was, wenn die eigene
Regierung eigentlich pathologisiert werden müsste, man sie aber nicht in ein
Irrenhaus sperren kann? Deutschland, ja, die ganze EU kann sichtlich mit
Faktizität und Wahrheit nicht mehr umgehen und leidet dazu noch an kolossaler
Selbstüberschätzung. Denn wir sind nicht (mehr) die Guten, weder die
friedfertige EU noch die liberale Demokratie, die wir vorgeben zu sein! Doch
weil die meisten das hierzulande nicht glauben wollen (vorzugsweise die im
Westen des Landes!) und darum die eigene autoritäre Drehung schönreden oder
verschleiern müssen, ist das Land zugleich in verschämter Verdrängung und in
kolossalem Aufruhr. Die Zeitenwende, die wir durchlaufen, ist die von der
»Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) hin zu einer »Banalität des Guten«,
ähnlich jener legendären Szene in Charlie Chaplins The Great Dictator, wo das zu
Beginn sanfte, vereinnahmende Gesäusel des Great Dictator – nicht wahr, wir
wollen doch alle das Gute und den Frieden? – schließlich umschlägt in den
ausgestreckten rechten Arm und für das »Gute«: »Der neue Faschismus wird nicht
sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus.«
(Ignazio Silone) Kaum ein Zitat, das in den letzten Jahren so im Internet
kursiert ist wie dieses. Deswegen wacht passenderweise die Antifa heute darüber,
wer diese Drehung zur »Banalität des Guten« nicht mitmachen will: Friedenstauben
müssen abgeschossen werden, das Gute duldet keinen Widerspruch! »Nun erst war
mir der richtige Antrieb gegeben: Man musste kämpfen gegen den Krieg«, schrieb
Stefan Zweig in der Welt von gestern (S. 290). Drei Kriege erleben wir seit
nunmehr fünf Jahren in Europa, die wie Presslufthammer auf die Gesellschaft
einwirken: ein Krieg gegen ein Virus, ein Krieg gegen Russland und einer in
Gaza. Hinter diesen Kulissen wird die gewohnte Welt in Europa in ihren
bisherigen Strukturen gesprengt.
18.05.2025 - Zeitenwende - was soll das sein?
Europa steht an einer historischen Schwelle. In ihrem Buch »ZeitenWenden« seziert Ulrike Guérot den geistigen, politischen und gesellschaftlichen Zerfall unserer Zeit. Mutig und unerschrocken legt sie offen, wie Demokratien zerbröckeln, Freiheit preisgegeben und Europa in Kriegsrhetorik erstickt wird. Guérot schreibt gegen das Vergessen, das Wegsehen und die Lüge - und für die Rückbesinnung auf Vernunft, Mut und bürgerliche Verantwortung. Sie ruft auf zur Verteidigung der Freiheit gegen Angstpolitik, gegen autoritäre Tendenzen und technologische Entmündigung. Ein leidenschaftliches Manifest gegen die politische Lähmung und ein Weckruf an alle, die Europa als Projekt der Freiheit und des Friedens nicht aufgeben wollen.
Wie Kafkas Käfer hat sich die Bundesrepublik Deutschland gleichsam über Nacht zu etwas gewandelt, das man nicht mehr wiedererkennt. Wollte man in loser Folge aufzählen, was in der Bundesrepublik in den letzten Jahren verlustig gegangen ist, ohne dass es irgendeinen größeren Aufschrei in der sogenannten bürgerlichen Mitte verursacht hätte, dann wären das: Demokratie, Rechtsstaat, Europa, Vertrauen und Sicherheit, Frieden, sichere Grenzen und sozialer Zusammenhalt, also eigentlich alles, was einmal die Grundfesten der Republik ausgemacht hat. Dazu, auch das ist Zeitenwende, werden »der Westen« und die Weltordnung von 1949 derzeit beerdigt und die Welt wird gleichsam neu verschraubt.
Schlimmer wiegt, dass sich Wahrheit und Faktizität verschoben haben, dass die Vernunft aus den Angeln gehoben wurde, dass das Denken an sich, die utopische Idee und mit ihr jeder Hauch von Zukunft verlustig gegangen sind und damit die europäische Zivilität (»civilité« – der Begriff stammt von dem marxistischen französischen Historiker Etienne Balibar). Also unsere originären Denkstrukturen, die Art und Weise, wie wir in Europa einmal auf die Welt geblickt haben! Die eigentliche Zeitenwende ist, dass die in Europa erzählte Welt nicht mehr real ist und die reale Welt in Europa nicht mehr erzählt wird. So heißt es beispielsweise im Koalitionsvertrag freihändig, bar jeder differenzierten analytischen Einschätzung und komplett evasiv:
»Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die größte und direkteste Bedrohung geht dabei von Russland aus, das im vierten Jahr einen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und weiter massiv aufrüstet. Das Machtstreben von Wladimir Putins richtet sich gegen die regelbasierte Weltordnung als Ganze.«
Wobei die NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine bekräftigt wird, die die USA gerade abgeräumt haben. Wir sind also gut, alle anderen sind böse. Alice im Wunderland hätte an diesen surrealen Zeilen ihre helle Freude und würde, wie in ihrem Dialog mit der Königin und der falschen Suppenschildkröte, sicher ausrufen: Das ist doch alles nur ihre Phantasie. Anders formuliert: Man kann sich auch in etwas hineinreden.
Die Gefahr ist, dass eine Amöben-Demokratie, die rückgratlos ihre Würde und ihre Freiheit für ein Virus auf den Tisch gelegt hat, auch alles andere im Wahn oder für eine andere Hysterie auf den Tisch legen wird. Die jahrelang verbissen verteidigte Schuldenbremse wurde im März 2025 mir nichts, dir nichts gekippt und 800 Milliarden Sondervermögen und »theoretisch unbegrenzt Geld für Verteidigungsausgaben« bewilligt und durch den Bundestag gepeitscht – vermeintlich, um unsere Sicherheit, unsere »Werte« und unsere »freiheitliche Demokratie« vor Vladimir Putin und dem »imperialen Russland« zu schützen. Das alles passierte im selben Moment, in dem Volodymyr Zelensky in einem Brief signalisierte, dass er zu einem Friedensschluss bereit war und in dem man schwarz auf weiß nachlesen konnte, dass es der Westen, die EU war, die den Frieden in der Ukraine unterminierte. Welche Verdrängungsleistung findet hier statt? Welche Realitätswahrnehmung hat die deutsche Regierung? Welche kognitive Dissonanz ist hier zu beklagen? Wie will man einem Land und seinen Institutionen vertrauen, das offenbar in ideologischen Wolken verhangen und verfangen ist – völlig losgelöst von der Erde, wie Major Tom? Wie gefährlich ist es in einem Land, in dem de facto jetzt Willkür herrscht, in dem Sinne, als das alles, was gestern noch galt, nicht mehr gilt – oder alles, was gestern unmöglich war, auf einmal möglich ist? Wie, außer mit Autorität, Gewalt oder Ideologie, will man vernünftige Bürger dafür gewinnen, den Kurs der Regierung mitzutragen, die auf »Kriegstüchtigkeit« hinarbeitet, während der Frieden schon verhandelt wird? Wenn Irrationalität zur staatlichen verordneten Pflicht wird? Was, wenn die eigene Regierung eigentlich pathologisiert werden müsste, man sie aber nicht in ein Irrenhaus sperren kann?
Deutschland, ja, die ganze EU kann sichtlich mit Faktizität und Wahrheit nicht mehr umgehen und leidet dazu noch an kolossaler Selbstüberschätzung. Denn wir sind nicht (mehr) die Guten, weder die friedfertige EU noch die liberale Demokratie, die wir vorgeben zu sein! Doch weil die meisten das hierzulande nicht glauben wollen (vorzugsweise die im Westen des Landes!) und darum die eigene autoritäre Drehung schönreden oder verschleiern müssen, ist das Land zugleich in verschämter Verdrängung und in kolossalem Aufruhr. Die Zeitenwende, die wir durchlaufen, ist die von der »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) hin zu einer »Banalität des Guten«, ähnlich jener legendären Szene in Charlie Chaplins The Great Dictator, wo das zu Beginn sanfte, vereinnahmende Gesäusel des Great Dictator – nicht wahr, wir wollen doch alle das Gute und den Frieden? – schließlich umschlägt in den ausgestreckten rechten Arm und für das »Gute«: »Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus.« (Ignazio Silone) Kaum ein Zitat, das in den letzten Jahren so im Internet kursiert ist wie dieses. Deswegen wacht passenderweise die Antifa heute darüber, wer diese Drehung zur »Banalität des Guten« nicht mitmachen will: Friedenstauben müssen abgeschossen werden, das Gute duldet keinen Widerspruch!
»Nun erst war mir der richtige Antrieb gegeben: Man musste kämpfen gegen den Krieg«, schrieb Stefan Zweig in der Welt von gestern (S. 290). Drei Kriege erleben wir seit nunmehr fünf Jahren in Europa, die wie Presslufthammer auf die Gesellschaft einwirken: ein Krieg gegen ein Virus, ein Krieg gegen Russland und einer in Gaza. Hinter diesen Kulissen wird die gewohnte Welt in Europa in ihren bisherigen Strukturen gesprengt.
Autoren von "Zeitenwende - was soll das sein?"
Bücher von Ulrike Guérot