Alex Carey zeigt in seinem grundlegenden Buch „Demokratie ohne Risiko“,
wie Unternehmen, PR-Agenturen und politische Eliten die öffentliche Meinung
systematisch manipulieren, um ihre Interessen durchzusetzen. Er offenbart damit
eine wenig bekannte, aber entscheidende Dimension moderner Demokratie: die
stille, aber effektive Kontrolle durch wirtschaftliche Propaganda. Basierend auf
jahrzehntelanger Forschung untersucht Carey die Rolle von PR, Think Tanks und
Massenmedien bei der Verbreitung und Verfestigung neoliberaler Ideologien und
beleuchtet die Ursprünge moderner PR-Techniken, den Einfluss von Konzernen auf
Medien und Bildung sowie die subtilen Mechanismen, mit denen kritisches Denken
verhindert wird. Im folgenden Auszug schildert Carey die zunehmende Anpassung
der mit der amerikanischen Wirtschaft verbandelten Intellektuellen an die
parteipolitischen und pragmatischen Werte der Wirtschaft und die zweckmäßigen
Begründungen, mit denen sie ihren Anspruch auf Integrität wahren konnten, ohne
ihre Karrierechancen zu schmälern.
Bis 1900 verhielten sich die
amerikanischen Unternehmen gegenüber der Öffentlichkeit geringschätzig. Zwischen
1900 und 1910 jedoch prangerten Upton Sinclair und andere die Ausbeutung und
Brutalität in der amerikanischen Industrie mit großem Erfolg an. Wobei – wie die
Zeitschrift Fortune später schrieb – »die Wirtschaft erst dann entdeckte, dass
in einer Demokratie nichts wichtiger ist als [die öffentliche Meinung], als ihr
Ruf schon fast zerstört war«. Diese Entdeckung führte rasch zur Entwicklung
eines Berufsstandes von Spezialisten für »Public Relations«, deren Aufgabe es
war, dafür zu sorgen, dass die öffentliche Meinung über die Wirtschaft so
beschaffen war, dass sowohl die Wirtschaft als auch die Öffentlichkeit zufrieden
waren. (Es sollte vielleicht daran erinnert werden, dass nach James und Dewey
jede öffentliche Überzeugung, die derartige Folgen hat, wahr ist.) Ivy Lee war
der erste große PR-Mann. Er brachte der Wirtschaft bei, wie man die Presse
benutzt. Doch seine »bekannteste Leistung«, wie Fortune bemerkt, »bestand darin,
John D. Rockefeller im öffentlichen Bewusstsein von einem Unhold in einen
Wohltäter zu verwandeln«. Nach Ivy Lee war Edward L. Bernays die nächste
herausragende Figur auf dem Gebiet der neuen Propaganda- und
Öffentlichkeitsarbeit – ein Gebiet, das er in den nächsten dreißig Jahren
weiterentwickelte und prägte. 1937 stellte die Business Week fest, dass Bernays
»ein Neffe von Sigmund Freud, dem großen Wiener Psychoanalytiker«, war, und
bemerkte, dass »Herr Bernays auf seinem eigenen Gebiet der Psychologie eine
ähnliche Bedeutung erlangt hat«, welches die Business Week als Motivation und
Kontrolle des »Massenbewusstseins« beschrieb. Zu einer bedeutsamen Anwendung
des pragmatischen Wahrheitsbegriffs kam es 1917. Mit dem Eintritt der USA in den
Ersten Weltkrieg wurde ein Committee on Public Information (besser bekannt als
das Creel Committee) gegründet. Bernays, der in diesem Ausschuss mitarbeitete,
berichtet, dass »alle bekannten Mittel der Überredungskunst und der Suggestion
[eingesetzt wurden], um unsere Kriegsziele dem amerikanischen Volk zu
verkaufen«, das zunächst wenig begeistert war. Bemays stellte fest, dass die
»Berichte des Creel-Komitees, wonach die Deutschen Bestien und Hunnen seien,
allgemein akzeptiert wurden. Die fantastischsten Gräuelgeschichten wurden
geglaubt.« Generell wurde dem Creel-Komitee zugeschrieben, dass es »einen
revolutionären Wandel in den Gefühlen der Nation« bewirkte. Bernays zufolge
erkannten Unternehmer am Ende des Krieges, dass die Öffentlichkeit in gleicher
Weise für ihre Sache gewonnen werden konnte, wie sie während des Krieges für die
nationale Sache mobilisiert worden war. Daher überrascht es nicht, dass Bernays
und andere, die mit dem Creel-Komitee in Verbindung standen, nach ihrer
»Rückkehr ins zivile Leben (im Namen der Wirtschaft) diejenigen Methoden der
Öffentlichkeitsarbeit, die sie während des Krieges gelernt hatten, wieder
aufnahmen«. Der Einsatz von Propaganda durch Wirtschaftsunternehmen und
diverse Branchen zur Kontrolle der öffentlichen Meinung nahm zu, und Bernays
hatte Erfolg. Späterhin schrieb die Zeitschrift Fortune, dass sich »die 1920er
Jahre … durch den Aufstieg von E. L. Bernays auszeichneten [der] … für das
bekannt wurde, was er ›die Konstruktion von Zustimmung‹ nannte, sowie für die
›Erschaffung von Nachrichten‹«. Ab 1923 hielt Bernays Vorlesungen über Public
Relations und Propaganda an der New York University. 1928 veröffentlichte das
American Journal of Sociology einen Artikel von Bernays (1928) mit dem Titel
»Manipulating Public Opinion« (Manipulation der öffentlichen Meinung), in dem er
den Soziologen für die Informationen dankte, die er von ihnen erhalten hatte.
Von 1930 bis 1960 bekleidete Harold Lasswell eine akademische Führungsposition
auf dem Gebiet der Propaganda und Kommunikation, vergleichbar mit Bemays
führender Rolle als Praktiker in der Unternehmenswelt. In einem Artikel für die
Enzyklopädie der Sozialwissenschaften stellte Lasswell 1933 zynisch fest, dass
die »Massen immer noch in Unwissenheit und Aberglauben gefangen sind« und dass
die Einführung der Demokratie in Amerika und anderswo »die Entwicklung einer
gänzlich neuen Technik der Kontrolle, größtenteils durch Propaganda, erzwungen
hat«. Denn Propaganda, so Lasswell weiter, ist »das einzige Mittel der
Massenmobilisierung, das billiger ist als Gewalt, Bestechung oder andere
mögliche Kontrolltechniken«. Darüber hinaus vertrat er (in Übereinstimmung mit
der Unternehmenssicht) die Ansicht, dass Propaganda in einer Demokratie
unverzichtbar sei, weil »die Menschen ihre eigenen Interessen oft falsch
einschätzen« und daher durch Propaganda zu Entscheidungen bewegt werden müssten,
die sie sonst nicht treffen würden. Bis Mitte der 1930er-Jahre war die
Ablehnung von Techniken zur Konsensbildung recht weit verbreitet. Aber 1947 war
der Krieg um die Kontrolle über das öffentliche Bewusstsein der Amerikaner so
gut wie gewonnen. Die Ablehnung demokratischer Propaganda aus ethischen Gründen
war zu diesem Zeitpunkt fast vollständig verschwunden. Einer der Gründe für
dieses Verstummen war, dass ab 1947 eine große Zahl von Sozialwissenschaftlern
und Hochschulinstituten aktiv an der Förderung der Techniken des
»consent-engineering« [Konsens-Erzeugung] beteiligt waren – insbesondere
deshalb, weil sie im Auftrag von Konzernen arbeiteten. 1947 erschien in der
renommierten Zeitschrift Annals of the American Academy of Political and Social
Sciences ein Artikel von Bernays mit dem Titel »The Engineering of Consent«. In
diesem Artikel liefert Bernays eine Begründung für den Einsatz von Propaganda in
einer Demokratie, die später von der Zeitschrift Fortune und anderen
aufgegriffen wurde. Die Logik dieser Begründung besteht in der Gleichsetzung von
»Propaganda« mit »Überzeugung« und dann mit »Demokratie«. »Die Erzeugung von
Zustimmung«, behauptete Bernays standhaft und verschlagen, »ist das eigentliche
Wesen des demokratischen Prozesses – die Freiheit zu überreden und zu
suggerieren.« Auch heute noch gäbe es viele Geschäftsleute, die diesen
unredlichen Äußerungen zustimmen würden. Zu diesem Zeitpunkt zeigte Bernays
die gleiche elitäre Verachtung für den Durchschnittsbürger und für die
Demokratie, die wir 1933 bei Lasswell beobachten konnten. Bernays bemerkte fest,
dass der durchschnittliche amerikanische Erwachsene »nur sechs Jahre
Schulbildung aufweist … [Daher] müssen demokratische Führer ihren Teil dazu
beitragen, … Zustimmung zu erzeugen … Heute kann man die Bedeutung technisch
hergestellter Zustimmung kaum überschätzen; sie betrifft fast jeden Aspekt
unseres täglichen Lebens.« 1949 wurde Bernays von der American Psychological
Association für seine Beiträge zur Wissenschaft und Gesellschaft geehrt. Im
selben Jahr stellte die Zeitschrift Fortune im Anschluss an Bernays fest, dass
»eine echte Demokratie ohne die Wissenschaft der Überzeugung [d. h. Propaganda]
ebenso wenig vorstellbar ist wie ein totalitärer Staat ohne Zwang«. Ein
derartiger Mangel an Vorstellungskraft ist ungewöhnlich. Weiter heißt es in
Fortune: »Die tägliche Flut an Propaganda und Werbung … ist zu einer
bestimmenden Kraft im gesellschaftlichen Leben Amerikas geworden. Fast die
Hälfte des Inhalts der besten Zeitungen stammt aus Pressemitteilungen; fast der
gesamte Inhalt der weniger bedeutenden Zeitungen … ist direkt oder indirekt das
Werk von PR-Abteilungen«. Eine besonders bissige von Lasswell (1950:180)
verfasste Beschreibung der Rolle der Propaganda in der (amerikanischen)
Demokratie wurde 1950 in einer Reihe von Schriften, die »repräsentativ für die
besten Arbeiten auf diesem Gebiet« sind, neu aufgelegt:
»Es haben sich
Konventionen herausgebildet, die den Meinungsaustausch und die Durchführung von
Abstimmungen begünstigen. Das meiste von dem, was früher mit Gewalt und
Einschüchterung erreicht werden konnte, muss heute durch Argumente und
Überzeugungsarbeit erreicht werden. Die Demokratie hat die Diktatur [der
Debatte] ausgerufen, und die Technik, dem Diktator zu diktieren, heißt
Propaganda.«
Eine Stimme, die sich diesen zynischen Überlegungen
widersetzte, war Professor William Albig von der Universität Illinois. Im Jahr
1956 gab Albig einen Überblick über die Arbeit der letzten zwanzig Jahre zum
Thema öffentliche Meinung und verwandte Themen. Er stellte fest, dass es in
diesem Zeitraum »mehr organisierte Studien über die öffentliche Meinung in den
USA …. und mehr Sonderappelle und Propaganda … gegeben hat als in der gesamten
bisherigen Kulturgeschichte«. Albig stellte fest, dass, während man sich vor
1936 kontinuierlich mit »ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Bildung und
den Auswirkungen der öffentlichen Meinung« befasst hatte, dieses Anliegen in
späteren Schriften und Untersuchungen weitgehend verschwunden war. Im Gegensatz
dazu fand er in den späteren Arbeiten Belege für einen außerordentlichen
Enthusiasmus der Fachleute angesichts der Möglichkeit einer verstärkten
psychologischen Kontrolle ihrer Mitmenschen; aber auch Belege für eine »weitere
Abnahme des Respekts gegenüber ihrem Adressaten, dem Durchschnittsbürger«. Albig
schloss seine Rezension mit der Warnung, dass »viele unter den jüngeren
Sozialwissenschaftlern« die voraussichtlichen politischen Folgen der in ihrer
Arbeit zum Ausdruck gebrachten Werte und Annahmen nicht »angemessen durchdacht«
hätten. Eine solches Durchdenken hätte natürlich in der Regel dazu geführt, dass
sie ihre Verträge mit der Wirtschaft verloren hätten. 1961 veröffentlichte
der amerikanische Historiker Daniel Boorstin ein Buch mit dem Titel The Image;
or what Happened to the American Dream. Boorstin, heute Bibliothekar an der
Library of Congress, zeigte sich sehr besorgt angesichts der Auswirkungen des
enormen Wachstums der Werbung und der damit verbundenen Propaganda. Seiner
Ansicht nach war eine der Hauptauswirkungen die Verlagerung des Interesses der
Bevölkerung von »Idealen« hin zu »Bildern«. Es ist aufschlussreich, Boorstins
Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft im Jahr 1960 mit den Auffassungen
von Wahrheit zu vergleichen, die James und Dewey fünfzig Jahre zuvor vertreten
hatten. Boorstin (1961:84, 205) schrieb, dass »ein ›Unternehmensimage‹ … gewiss
das am auf-wendigsten und teuersten konstruierte Bild unserer Gegenwart ist« und
dass »das entscheidende Zeichen für den Aufstieg des Image-Denkens und seine
Verdrängung von Idealen natürlich der Aufstieg der Werbung ist«. Boorstin
vertrat die Ansicht, dass die Amerikaner die Auswirkungen des Aufstiegs der
Werbung unterschätzt hätten. »Wir meinen, dass sie eine Zunahme an
Unwahrhaftigkeit mit sich brachte. Tatsächlich hat sie eine Umformung unseres
Wahrheitsbegriffs bewirkt.« Infolge dieser Umgestaltung befand Boorstin, dass
»nicht Wahrheit, sondern Glaubwürdigkeit der moderne [amerikanische] Maßstab
ist. Wir teilen diesen Grundsatz mit den Werbefachleuten selbst.« Er vertrat die
Ansicht, dass die amerikanischen »Bürger-Konsumenten im Alltag weniger daran
interessiert sind, ob etwas eine Tatsache ist, als vielmehr daran, ob es
zweckmäßig ist, dass man es glaubt«. Als Nation, so Boorstin, seien die
Amerikaner
»zu der Überzeugung gelangt, … dass unser Hauptproblem im
Aus-land liegt. Wie können wir unsere Vorstellungen in die Welt ›projizieren‹?
Doch das Problem mit dem Ausland ist nur ein Symptom für unser tieferliegendes
Problem zu Hause. Wir sind dazu übergegangen, derart an unsere eigenen Bilder zu
glauben, dass wir uns irgendwann selbst aus dieser Welt herausprojiziert haben
werden, [sodass] wir jetzt, auf dem Höhepunkt unserer Macht … von einer neuen
und spezifisch amerikanischen Bedrohung betroffen sind … Es ist die Bedrohung
durch die Unwirklichkeit … Wir laufen Gefahr, das erste Volk in der Geschichte
zu werden, dem es gelungen ist, seine Illusionen dermaßen anschaulich,
überzeugend und ›realistisch‹ zu gestalten, dass es in ihnen leben kann. Wir
sind auf der ganzen Welt das Volk mit den größten Illusionen. Gleichwohl wagen
wir es nicht, uns zu desillusionieren, denn unsere Illusionen bilden das Haus,
in dem wir leben; sie sind der Stoff, aus dem unsere Nachrichten sind, unsere
Helden … ja, unsere Erfahrung selbst.« Dreißig Jahre nach der
Veröffentlichung von Bernays’ Artikel »Manipulating Public Opinion« im American
Journal of Sociology (1960) war die öffentliche Meinung in den USA, um es mit
Boorstins Worten zu sagen, infolge von Manipulationen »einfach phantastisch«. In
weniger als einem weiteren Jahrzehnt hatte die pragmatische Ersetzung von
»Wahrheit« durch wünschenswerte Überzeugungen und von handfesten Tatsachen durch
»gerechtfertigte Behauptbarkeiten« eindeutig dazu beigetragen, das Ergebnis
herbeizuführen, vor dem Bertrand Russell 1945 gewarnt hatte: »zu einer
bestimmten Form von Wahnsinn – zum Machtrausch … [mit der] drohenden Gefahr
einer ungeheuren sozialen Katastro-phe«. Und damit zu Vietnam und Watergate
und dem schwierigen Weg zurück zur Wahrheit und zur Wahrung der demokratischen
Rechte der Bürger. – Ein Weg, der erst dann vollständig beschritten werden kann,
wenn dem Thema Propaganda und ihrer Kontrolle innerhalb der amerikanischen
Gesellschaft – das von den Politikwissenschaftlern vierzig Jahre lang fast
vollständig vernachlässigt wurde – eine vorrangige Bedeutung beigemessen wird.
Die zentralen politischen Probleme, mit denen die USA konfrontiert sind, haben
sich seit der Definition von Professor Robert Dahl im Jahr 1959 weder verändert
noch verbessert. »In welchem Aus-maß«, so fragte er, »kann die allgemein
positive Haltung der Amerikaner zur Unternehmenswelt [und das daraus
resultierende] Fehlen einer klar definierten Alternative auf bewusste Bemühungen
zur Manipulation der Einstellungen zurückgeführt werden?« Wenn die Idee einer
Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk einen Sinn haben soll und wenn
der amerikanische Traum nicht in einer von der Wirtschaft gesteuerten,
raffinierteren Version von Orwells 1984 enden soll, dann ist es von
entscheidender Bedeutung, dass die von Dahl beschriebenen Probleme ans Licht
gelangen. Bei rechtem Licht betrachtet, würden diese pragmatischen Prozesse zur
Herstellung von Zustimmung infrage gestellt und zur Entwicklung einer
kritischeren Einstellung führen.
11.05.2025 - Die Neuformatierung der Wahrheit
Alex Carey zeigt in seinem grundlegenden Buch „Demokratie ohne Risiko“, wie Unternehmen, PR-Agenturen und politische Eliten die öffentliche Meinung systematisch manipulieren, um ihre Interessen durchzusetzen. Er offenbart damit eine wenig bekannte, aber entscheidende Dimension moderner Demokratie: die stille, aber effektive Kontrolle durch wirtschaftliche Propaganda. Basierend auf jahrzehntelanger Forschung untersucht Carey die Rolle von PR, Think Tanks und Massenmedien bei der Verbreitung und Verfestigung neoliberaler Ideologien und beleuchtet die Ursprünge moderner PR-Techniken, den Einfluss von Konzernen auf Medien und Bildung sowie die subtilen Mechanismen, mit denen kritisches Denken verhindert wird. Im folgenden Auszug schildert Carey die zunehmende Anpassung der mit der amerikanischen Wirtschaft verbandelten Intellektuellen an die parteipolitischen und pragmatischen Werte der Wirtschaft und die zweckmäßigen Begründungen, mit denen sie ihren Anspruch auf Integrität wahren konnten, ohne ihre Karrierechancen zu schmälern.
Bis 1900 verhielten sich die amerikanischen Unternehmen gegenüber der Öffentlichkeit geringschätzig. Zwischen 1900 und 1910 jedoch prangerten Upton Sinclair und andere die Ausbeutung und Brutalität in der amerikanischen Industrie mit großem Erfolg an. Wobei – wie die Zeitschrift Fortune später schrieb – »die Wirtschaft erst dann entdeckte, dass in einer Demokratie nichts wichtiger ist als [die öffentliche Meinung], als ihr Ruf schon fast zerstört war«. Diese Entdeckung führte rasch zur Entwicklung eines Berufsstandes von Spezialisten für »Public Relations«, deren Aufgabe es war, dafür zu sorgen, dass die öffentliche Meinung über die Wirtschaft so beschaffen war, dass sowohl die Wirtschaft als auch die Öffentlichkeit zufrieden waren. (Es sollte vielleicht daran erinnert werden, dass nach James und Dewey jede öffentliche Überzeugung, die derartige Folgen hat, wahr ist.) Ivy Lee war der erste große PR-Mann. Er brachte der Wirtschaft bei, wie man die Presse benutzt. Doch seine »bekannteste Leistung«, wie Fortune bemerkt, »bestand darin, John D. Rockefeller im öffentlichen Bewusstsein von einem Unhold in einen Wohltäter zu verwandeln«.
Nach Ivy Lee war Edward L. Bernays die nächste herausragende Figur auf dem Gebiet der neuen Propaganda- und Öffentlichkeitsarbeit – ein Gebiet, das er in den nächsten dreißig Jahren weiterentwickelte und prägte. 1937 stellte die Business Week fest, dass Bernays »ein Neffe von Sigmund Freud, dem großen Wiener Psychoanalytiker«, war, und bemerkte, dass »Herr Bernays auf seinem eigenen Gebiet der Psychologie eine ähnliche Bedeutung erlangt hat«, welches die Business Week als Motivation und Kontrolle des »Massenbewusstseins« beschrieb.
Zu einer bedeutsamen Anwendung des pragmatischen Wahrheitsbegriffs kam es 1917. Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg wurde ein Committee on Public Information (besser bekannt als das Creel Committee) gegründet. Bernays, der in diesem Ausschuss mitarbeitete, berichtet, dass »alle bekannten Mittel der Überredungskunst und der Suggestion [eingesetzt wurden], um unsere Kriegsziele dem amerikanischen Volk zu verkaufen«, das zunächst wenig begeistert war. Bemays stellte fest, dass die »Berichte des Creel-Komitees, wonach die Deutschen Bestien und Hunnen seien, allgemein akzeptiert wurden. Die fantastischsten Gräuelgeschichten wurden geglaubt.« Generell wurde dem Creel-Komitee zugeschrieben, dass es »einen revolutionären Wandel in den Gefühlen der Nation« bewirkte. Bernays zufolge erkannten Unternehmer am Ende des Krieges, dass die Öffentlichkeit in gleicher Weise für ihre Sache gewonnen werden konnte, wie sie während des Krieges für die nationale Sache mobilisiert worden war. Daher überrascht es nicht, dass Bernays und andere, die mit dem Creel-Komitee in Verbindung standen, nach ihrer »Rückkehr ins zivile Leben (im Namen der Wirtschaft) diejenigen Methoden der Öffentlichkeitsarbeit, die sie während des Krieges gelernt hatten, wieder aufnahmen«.
Der Einsatz von Propaganda durch Wirtschaftsunternehmen und diverse Branchen zur Kontrolle der öffentlichen Meinung nahm zu, und Bernays hatte Erfolg. Späterhin schrieb die Zeitschrift Fortune, dass sich »die 1920er Jahre … durch den Aufstieg von E. L. Bernays auszeichneten [der] … für das bekannt wurde, was er ›die Konstruktion von Zustimmung‹ nannte, sowie für die ›Erschaffung von Nachrichten‹«. Ab 1923 hielt Bernays Vorlesungen über Public Relations und Propaganda an der New York University. 1928 veröffentlichte das American Journal of Sociology einen Artikel von Bernays (1928) mit dem Titel »Manipulating Public Opinion« (Manipulation der öffentlichen Meinung), in dem er den Soziologen für die Informationen dankte, die er von ihnen erhalten hatte.
Von 1930 bis 1960 bekleidete Harold Lasswell eine akademische Führungsposition auf dem Gebiet der Propaganda und Kommunikation, vergleichbar mit Bemays führender Rolle als Praktiker in der Unternehmenswelt. In einem Artikel für die Enzyklopädie der Sozialwissenschaften stellte Lasswell 1933 zynisch fest, dass die »Massen immer noch in Unwissenheit und Aberglauben gefangen sind« und dass die Einführung der Demokratie in Amerika und anderswo »die Entwicklung einer gänzlich neuen Technik der Kontrolle, größtenteils durch Propaganda, erzwungen hat«. Denn Propaganda, so Lasswell weiter, ist »das einzige Mittel der Massenmobilisierung, das billiger ist als Gewalt, Bestechung oder andere mögliche Kontrolltechniken«. Darüber hinaus vertrat er (in Übereinstimmung mit der Unternehmenssicht) die Ansicht, dass Propaganda in einer Demokratie unverzichtbar sei, weil »die Menschen ihre eigenen Interessen oft falsch einschätzen« und daher durch Propaganda zu Entscheidungen bewegt werden müssten, die sie sonst nicht treffen würden.
Bis Mitte der 1930er-Jahre war die Ablehnung von Techniken zur Konsensbildung recht weit verbreitet. Aber 1947 war der Krieg um die Kontrolle über das öffentliche Bewusstsein der Amerikaner so gut wie gewonnen. Die Ablehnung demokratischer Propaganda aus ethischen Gründen war zu diesem Zeitpunkt fast vollständig verschwunden. Einer der Gründe für dieses Verstummen war, dass ab 1947 eine große Zahl von Sozialwissenschaftlern und Hochschulinstituten aktiv an der Förderung der Techniken des »consent-engineering« [Konsens-Erzeugung] beteiligt waren – insbesondere deshalb, weil sie im Auftrag von Konzernen arbeiteten.
1947 erschien in der renommierten Zeitschrift Annals of the American Academy of Political and Social Sciences ein Artikel von Bernays mit dem Titel »The Engineering of Consent«. In diesem Artikel liefert Bernays eine Begründung für den Einsatz von Propaganda in einer Demokratie, die später von der Zeitschrift Fortune und anderen aufgegriffen wurde. Die Logik dieser Begründung besteht in der Gleichsetzung von »Propaganda« mit »Überzeugung« und dann mit »Demokratie«. »Die Erzeugung von Zustimmung«, behauptete Bernays standhaft und verschlagen, »ist das eigentliche Wesen des demokratischen Prozesses – die Freiheit zu überreden und zu suggerieren.« Auch heute noch gäbe es viele Geschäftsleute, die diesen unredlichen Äußerungen zustimmen würden.
Zu diesem Zeitpunkt zeigte Bernays die gleiche elitäre Verachtung für den Durchschnittsbürger und für die Demokratie, die wir 1933 bei Lasswell beobachten konnten. Bernays bemerkte fest, dass der durchschnittliche amerikanische Erwachsene »nur sechs Jahre Schulbildung aufweist … [Daher] müssen demokratische Führer ihren Teil dazu beitragen, … Zustimmung zu erzeugen … Heute kann man die Bedeutung technisch hergestellter Zustimmung kaum überschätzen; sie betrifft fast jeden Aspekt unseres täglichen Lebens.«
1949 wurde Bernays von der American Psychological Association für seine Beiträge zur Wissenschaft und Gesellschaft geehrt. Im selben Jahr stellte die Zeitschrift Fortune im Anschluss an Bernays fest, dass »eine echte Demokratie ohne die Wissenschaft der Überzeugung [d. h. Propaganda] ebenso wenig vorstellbar ist wie ein totalitärer Staat ohne Zwang«. Ein derartiger Mangel an Vorstellungskraft ist ungewöhnlich. Weiter heißt es in Fortune: »Die tägliche Flut an Propaganda und Werbung … ist zu einer bestimmenden Kraft im gesellschaftlichen Leben Amerikas geworden. Fast die Hälfte des Inhalts der besten Zeitungen stammt aus Pressemitteilungen; fast der gesamte Inhalt der weniger bedeutenden Zeitungen … ist direkt oder indirekt das Werk von PR-Abteilungen«.
Eine besonders bissige von Lasswell (1950:180) verfasste Beschreibung der Rolle der Propaganda in der (amerikanischen) Demokratie wurde 1950 in einer Reihe von Schriften, die »repräsentativ für die besten Arbeiten auf diesem Gebiet« sind, neu aufgelegt:
»Es haben sich Konventionen herausgebildet, die den Meinungsaustausch und die Durchführung von Abstimmungen begünstigen. Das meiste von dem, was früher mit Gewalt und Einschüchterung erreicht werden konnte, muss heute durch Argumente und Überzeugungsarbeit erreicht werden. Die Demokratie hat die Diktatur [der Debatte] ausgerufen, und die Technik, dem Diktator zu diktieren, heißt Propaganda.«
Eine Stimme, die sich diesen zynischen Überlegungen widersetzte, war Professor William Albig von der Universität Illinois. Im Jahr 1956 gab Albig einen Überblick über die Arbeit der letzten zwanzig Jahre zum Thema öffentliche Meinung und verwandte Themen. Er stellte fest, dass es in diesem Zeitraum »mehr organisierte Studien über die öffentliche Meinung in den USA …. und mehr Sonderappelle und Propaganda … gegeben hat als in der gesamten bisherigen Kulturgeschichte«. Albig stellte fest, dass, während man sich vor 1936 kontinuierlich mit »ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Bildung und den Auswirkungen der öffentlichen Meinung« befasst hatte, dieses Anliegen in späteren Schriften und Untersuchungen weitgehend verschwunden war. Im Gegensatz dazu fand er in den späteren Arbeiten Belege für einen außerordentlichen Enthusiasmus der Fachleute angesichts der Möglichkeit einer verstärkten psychologischen Kontrolle ihrer Mitmenschen; aber auch Belege für eine »weitere Abnahme des Respekts gegenüber ihrem Adressaten, dem Durchschnittsbürger«. Albig schloss seine Rezension mit der Warnung, dass »viele unter den jüngeren Sozialwissenschaftlern« die voraussichtlichen politischen Folgen der in ihrer Arbeit zum Ausdruck gebrachten Werte und Annahmen nicht »angemessen durchdacht« hätten. Eine solches Durchdenken hätte natürlich in der Regel dazu geführt, dass sie ihre Verträge mit der Wirtschaft verloren hätten.
1961 veröffentlichte der amerikanische Historiker Daniel Boorstin ein Buch mit dem Titel The Image; or what Happened to the American Dream. Boorstin, heute Bibliothekar an der Library of Congress, zeigte sich sehr besorgt angesichts der Auswirkungen des enormen Wachstums der Werbung und der damit verbundenen Propaganda. Seiner Ansicht nach war eine der Hauptauswirkungen die Verlagerung des Interesses der Bevölkerung von »Idealen« hin zu »Bildern«. Es ist aufschlussreich, Boorstins Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft im Jahr 1960 mit den Auffassungen von Wahrheit zu vergleichen, die James und Dewey fünfzig Jahre zuvor vertreten hatten. Boorstin (1961:84, 205) schrieb, dass »ein ›Unternehmensimage‹ … gewiss das am auf-wendigsten und teuersten konstruierte Bild unserer Gegenwart ist« und dass »das entscheidende Zeichen für den Aufstieg des Image-Denkens und seine Verdrängung von Idealen natürlich der Aufstieg der Werbung ist«. Boorstin vertrat die Ansicht, dass die Amerikaner die Auswirkungen des Aufstiegs der Werbung unterschätzt hätten. »Wir meinen, dass sie eine Zunahme an Unwahrhaftigkeit mit sich brachte. Tatsächlich hat sie eine Umformung unseres Wahrheitsbegriffs bewirkt.«
Infolge dieser Umgestaltung befand Boorstin, dass »nicht Wahrheit, sondern Glaubwürdigkeit der moderne [amerikanische] Maßstab ist. Wir teilen diesen Grundsatz mit den Werbefachleuten selbst.« Er vertrat die Ansicht, dass die amerikanischen »Bürger-Konsumenten im Alltag weniger daran interessiert sind, ob etwas eine Tatsache ist, als vielmehr daran, ob es zweckmäßig ist, dass man es glaubt«. Als Nation, so Boorstin, seien die Amerikaner
»zu der Überzeugung gelangt, … dass unser Hauptproblem im Aus-land liegt. Wie können wir unsere Vorstellungen in die Welt ›projizieren‹? Doch das Problem mit dem Ausland ist nur ein Symptom für unser tieferliegendes Problem zu Hause. Wir sind dazu übergegangen, derart an unsere eigenen Bilder zu glauben, dass wir uns irgendwann selbst aus dieser Welt herausprojiziert haben werden, [sodass] wir jetzt, auf dem Höhepunkt unserer Macht … von einer neuen und spezifisch amerikanischen Bedrohung betroffen sind … Es ist die Bedrohung durch die Unwirklichkeit … Wir laufen Gefahr, das erste Volk in der Geschichte zu werden, dem es gelungen ist, seine Illusionen dermaßen anschaulich, überzeugend und ›realistisch‹ zu gestalten, dass es in ihnen leben kann. Wir sind auf der ganzen Welt das Volk mit den größten Illusionen. Gleichwohl wagen wir es nicht, uns zu desillusionieren, denn unsere Illusionen bilden das Haus, in dem wir leben; sie sind der Stoff, aus dem unsere Nachrichten sind, unsere Helden … ja, unsere Erfahrung selbst.«
Dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von Bernays’ Artikel »Manipulating Public Opinion« im American Journal of Sociology (1960) war die öffentliche Meinung in den USA, um es mit Boorstins Worten zu sagen, infolge von Manipulationen »einfach phantastisch«. In weniger als einem weiteren Jahrzehnt hatte die pragmatische Ersetzung von »Wahrheit« durch wünschenswerte Überzeugungen und von handfesten Tatsachen durch »gerechtfertigte Behauptbarkeiten« eindeutig dazu beigetragen, das Ergebnis herbeizuführen, vor dem Bertrand Russell 1945 gewarnt hatte: »zu einer bestimmten Form von Wahnsinn – zum Machtrausch … [mit der] drohenden Gefahr einer ungeheuren sozialen Katastro-phe«.
Und damit zu Vietnam und Watergate und dem schwierigen Weg zurück zur Wahrheit und zur Wahrung der demokratischen Rechte der Bürger. – Ein Weg, der erst dann vollständig beschritten werden kann, wenn dem Thema Propaganda und ihrer Kontrolle innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – das von den Politikwissenschaftlern vierzig Jahre lang fast vollständig vernachlässigt wurde – eine vorrangige Bedeutung beigemessen wird. Die zentralen politischen Probleme, mit denen die USA konfrontiert sind, haben sich seit der Definition von Professor Robert Dahl im Jahr 1959 weder verändert noch verbessert. »In welchem Aus-maß«, so fragte er, »kann die allgemein positive Haltung der Amerikaner zur Unternehmenswelt [und das daraus resultierende] Fehlen einer klar definierten Alternative auf bewusste Bemühungen zur Manipulation der Einstellungen zurückgeführt werden?«
Wenn die Idee einer Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk einen Sinn haben soll und wenn der amerikanische Traum nicht in einer von der Wirtschaft gesteuerten, raffinierteren Version von Orwells 1984 enden soll, dann ist es von entscheidender Bedeutung, dass die von Dahl beschriebenen Probleme ans Licht gelangen. Bei rechtem Licht betrachtet, würden diese pragmatischen Prozesse zur Herstellung von Zustimmung infrage gestellt und zur Entwicklung einer kritischeren Einstellung führen.
Autoren von "Die Neuformatierung der Wahrheit"
Bücher von Alex Carey