23.02.2025 - Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich
Raja Shehadeh:
Aziz Shehadeh war in seinem Leben vieles: engagierter Anwalt,
widerständiger Aktivist, einer der ersten und furchtlosesten Verfechter der
Zwei-Staaten-Lösung und politischer Gefangener. Und er war der Vater des
Bestseller-Autors Raja Shehadeh. In jungen Jahren war Raja noch nicht in der
Lage, den großen Mut seines Vaters zu erkennen und dieser wiederum sah sich
nicht im Stande die Ambitionen des eigenen Sohnes zu würdigen. Als Aziz 1985
direkt vor seinem Haus ermordet wird, verändert dieses Ereignis das Leben seines
Sohnes für immer. In seinem eindringlichen Memoir verarbeitet Raja Shehadeh die
komplexe Beziehung zu seinem Vater, die bis dato ungeklärten Umstände von dessen
Ermordung und liefert zugleich eine unvoreingenommene Historie der Besatzung
Palästinas. Ein Buch, das sowohl von persönlicher als auch
gesellschaftspolitischer Relevanz ist und zu Recht auf der Shortlist für den
National Book Award stand.
Was ist der Grund für meine Erinnerungslücken? Wie kommt es, dass seine
ungerechte Inhaftierung unter so harten Bedingungen meinen Vater für mich nicht
zu einem Helden gemacht hat? Warum habe ich nie zu ihm aufgeschaut oder
gewürdigt, was er ertragen musste? Heute akzeptiere ich die beunruhigende
Erkenntnis, dass meine Haltung meinem Vater gegenüber nie von Bewunderung
geprägt war. Ich machte keinerlei Anstalten, ihn über seine Erfahrungen im
Gefängnis zu befragen oder die politischen Kämpfe nachzuvollziehen, die er
geführt hat. Ich schlug mich auf die Seite meiner Mutter und dachte, wie sie,
dass er zu hastig und töricht war, sich in solchen Aktivitäten zu verstricken,
die ihn letztlich in Schwierigkeiten brachten. Mit anderen Worten, ich gab hier
dem Opfer die Schuld, sei es für seine Verbannung aus dem Land, für seinen
Aufenthalt in Al-Dschafr oder für das Scheitern seiner politischen Bemühungen,
mit denen er immer dickköpfig gegen den Strom zu schwimmen schien und die
schlussendlich dazu führten, dass er stetig unbeliebter und isolierter wurde. Da
ich kein Verständnis für die Gründe seines Handelns hatte, gab mir auch keine
der Konsequenzen Anlass dazu, meinen Vater für seinen Heldenmut zu bewundern,
mit dem er sich dem Regime widersetzte und die rigorosen Haftbedingungen in der
unbarmherzigen Wüste ertrug. Ich verstand ja kaum, warum er sich überhaupt in
Gefahr begab.
Auch später, als ich in meinen Memoiren über ihn schrieb, geschah dies
häufig aus der Sicht meiner Mutter. Sie war der Maßstab, an dem ich seinen Wert
gemessen habe. Ich wusste sehr wenig über das Stück Geschichte, das er schrieb,
nichts über seinen Kampf für die Rückführung der palästinensischen Flüchtlinge
oder gegen das perfide Regime in Jordanien. Viel häufiger hörte ich von den
Bemühungen meiner Mutter, die sich für ihn einsetzte und zwischen verschiedenen
jordanischen Beamten hin und her pendelte, um seine Freilassung zu erwirken. Sie
war es, die mein Mitgefühl für die Entbehrungen weckte, von denen ich glaubte,
dass mein Vater sie verursacht hatte. Ich hatte eine vage Vorstellung davon,
dass Jordanien sich mit Israel verschworen hatte, um sich Palästina anzueignen,
aber ich wusste nichts von den Einzelheiten oder von den tapferen Versuchen
meines Vaters, all dies zu bekämpfen, wofür er einen so hohen Preis zahlte. Ich
war in das Familiendrama verwickelt, was meinen Blick auf die Situation
verfälschte. Ich hatte keine eigenen oder unvoreingenommenen Gedanken zu all
dem, sondern wurde von meiner Mutter und ihrem Misstrauen gegenüber der Politik
sowie ihrer kritischen und missbilligenden Haltung gegenüber dem Aktivismus
meines Vaters beeinflusst. Dadurch entstand eine große Kluft zwischen uns. Ich
hatte meine eigenen unreifen, auf sentimentalen Hollywood-Dramen basierenden
Vorstellungen davon, wie es zwischen Vater und Sohn zugehen sollte, und machte
keine Anstalten, meinen Vater zu verstehen. Jetzt, wo ich weiß, wie viel wir
gemeinsam haben, ist mein größtes Bedauern, dass wir eigentlich hätten Freunde
sein können.
Wie die meisten Frauen mit wagemutigen Ehemännern, die sich der Gefahr
aussetzen, wollte meine Mutter natürlich nicht, dass ihr Sohn es ihrem Mann
gleichtut. Also versuchte sie, mich so zu erziehen, dass ich mich von Gefahren
fernhielt und mich auf geistige Abenteuer konzentrierte. Sie bereicherte meine
Fantasie mit ihren fesselnden Erzählungen und wies mir unbewusst den Weg hin zu
dem Schriftsteller, der ich heute geworden bin.
Autoren von "Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich"
23.02.2025 - Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich
Aziz Shehadeh war in seinem Leben vieles: engagierter Anwalt, widerständiger Aktivist, einer der ersten und furchtlosesten Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung und politischer Gefangener. Und er war der Vater des Bestseller-Autors Raja Shehadeh. In jungen Jahren war Raja noch nicht in der Lage, den großen Mut seines Vaters zu erkennen und dieser wiederum sah sich nicht im Stande die Ambitionen des eigenen Sohnes zu würdigen. Als Aziz 1985 direkt vor seinem Haus ermordet wird, verändert dieses Ereignis das Leben seines Sohnes für immer. In seinem eindringlichen Memoir verarbeitet Raja Shehadeh die komplexe Beziehung zu seinem Vater, die bis dato ungeklärten Umstände von dessen Ermordung und liefert zugleich eine unvoreingenommene Historie der Besatzung Palästinas. Ein Buch, das sowohl von persönlicher als auch gesellschaftspolitischer Relevanz ist und zu Recht auf der Shortlist für den National Book Award stand.
Was ist der Grund für meine Erinnerungslücken? Wie kommt es, dass seine ungerechte Inhaftierung unter so harten Bedingungen meinen Vater für mich nicht zu einem Helden gemacht hat? Warum habe ich nie zu ihm aufgeschaut oder gewürdigt, was er ertragen musste?
Heute akzeptiere ich die beunruhigende Erkenntnis, dass meine Haltung meinem Vater gegenüber nie von Bewunderung geprägt war. Ich machte keinerlei Anstalten, ihn über seine Erfahrungen im Gefängnis zu befragen oder die politischen Kämpfe nachzuvollziehen, die er geführt hat. Ich schlug mich auf die Seite meiner Mutter und dachte, wie sie, dass er zu hastig und töricht war, sich in solchen Aktivitäten zu verstricken, die ihn letztlich in Schwierigkeiten brachten. Mit anderen Worten, ich gab hier dem Opfer die Schuld, sei es für seine Verbannung aus dem Land, für seinen Aufenthalt in Al-Dschafr oder für das Scheitern seiner politischen Bemühungen, mit denen er immer dickköpfig gegen den Strom zu schwimmen schien und die schlussendlich dazu führten, dass er stetig unbeliebter und isolierter wurde. Da ich kein Verständnis für die Gründe seines Handelns hatte, gab mir auch keine der Konsequenzen Anlass dazu, meinen Vater für seinen Heldenmut zu bewundern, mit dem er sich dem Regime widersetzte und die rigorosen Haftbedingungen in der unbarmherzigen Wüste ertrug. Ich verstand ja kaum, warum er sich überhaupt in Gefahr begab.
Auch später, als ich in meinen Memoiren über ihn schrieb, geschah dies häufig aus der Sicht meiner Mutter. Sie war der Maßstab, an dem ich seinen Wert gemessen habe. Ich wusste sehr wenig über das Stück Geschichte, das er schrieb, nichts über seinen Kampf für die Rückführung der palästinensischen Flüchtlinge oder gegen das perfide Regime in Jordanien. Viel häufiger hörte ich von den Bemühungen meiner Mutter, die sich für ihn einsetzte und zwischen verschiedenen jordanischen Beamten hin und her pendelte, um seine Freilassung zu erwirken. Sie war es, die mein Mitgefühl für die Entbehrungen weckte, von denen ich glaubte, dass mein Vater sie verursacht hatte. Ich hatte eine vage Vorstellung davon, dass Jordanien sich mit Israel verschworen hatte, um sich Palästina anzueignen, aber ich wusste nichts von den Einzelheiten oder von den tapferen Versuchen meines Vaters, all dies zu bekämpfen, wofür er einen so hohen Preis zahlte. Ich war in das Familiendrama verwickelt, was meinen Blick auf die Situation verfälschte. Ich hatte keine eigenen oder unvoreingenommenen Gedanken zu all dem, sondern wurde von meiner Mutter und ihrem Misstrauen gegenüber der Politik sowie ihrer kritischen und missbilligenden Haltung gegenüber dem Aktivismus meines Vaters beeinflusst. Dadurch entstand eine große Kluft zwischen uns. Ich hatte meine eigenen unreifen, auf sentimentalen Hollywood-Dramen basierenden Vorstellungen davon, wie es zwischen Vater und Sohn zugehen sollte, und machte keine Anstalten, meinen Vater zu verstehen. Jetzt, wo ich weiß, wie viel wir gemeinsam haben, ist mein größtes Bedauern, dass wir eigentlich hätten Freunde sein können.
Wie die meisten Frauen mit wagemutigen Ehemännern, die sich der Gefahr aussetzen, wollte meine Mutter natürlich nicht, dass ihr Sohn es ihrem Mann gleichtut. Also versuchte sie, mich so zu erziehen, dass ich mich von Gefahren fernhielt und mich auf geistige Abenteuer konzentrierte. Sie bereicherte meine Fantasie mit ihren fesselnden Erzählungen und wies mir unbewusst den Weg hin zu dem Schriftsteller, der ich heute geworden bin.
Autoren von "Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich"
Bücher von Raja Shehadeh