02.02.2025 - In Zeiten der Polykrise: Plädoyer für die Stärkung der Grundrechte
Christian Felber:
Spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar: Unsere Grundrechte lassen
sich viel leichter außer Kraft setzen, als wir es lange Zeit für möglich
gehalten hätten. Doch wie genau konnte dies geschehen? Der mit der
Gemeinwohl-Ökonomie bekannt gewordene Publizist Christian Felber analysiert in
seinem neuen Buch „Lob der Grundrechte“ die Geschehnisse während der
Corona-Zeit, um einen Ansatz zu entwickeln, mit dem das zukünftige Beschneiden
der Grundrechte in Krisensituationen vermieden und das Gemeinwohl gewahrt werden
kann. Ein Kommentar.
Während der Covid-19-Pandemie „passierte“ etwas, das in Demokratien in
Friedenszeiten seit dem Zweiten Weltkrieg undenkbar schien: 25 Grund- und
Menschenrechte wurden gleichzeitig über mehrere Jahre verletzt oder vorsätzlich
eingeschränkt: von der Menschenwürde und dem Recht auf Unversehrtheit über das
Recht auf Gesundheit und Leben bis zur Freizügigkeit und persönlichen Freiheit,
von der Versammlungs- bis zur Presse- und Meinungsfreiheit. Einigen ging es
sogar nicht weit genug, sie sannen darüber nach, „mehr Diktatur zu wagen“
(Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung), befürworteten Diskriminierung
(Gastbeitrag in Die Zeit) oder dachten sogar darüber nach, den Notstand
wiedereinzuführen (Ministerpräsident Kretschmann in Baden-Württemberg).
Die Folgen dieses Experiments dauern bis heute an: Die Spaltung der
Gesellschaft, die durch die massiven Grundrechtseinschränkungen verursacht
wurde, ist nahezu unverändert aufrecht, das Vertrauen in Staat und ÖRR ist auf
historische Niedrigstände gefallen, und rechte Parteien, die das von den Linken
freiwillig geräumte Feld des Grundrechtsschutzes spontan okkupierten, gewannen
kräftig zu und übernehmen nun Regierungsverantwortung. Die größte Gefahr von
allen: der Geist des Notstandes ist aus der Flasche.
Angesicht der sich auswachsenden Polykrise und einer beschleunigten
Krisenabfolge ist das keine gute Nachricht. Nach dem Präzedenzfall der
Corona-Pandemie werden zukünftige Regierungen noch weniger Skrupel haben, den
Notstand auszurufen und Grundrechte einzuschränken. „Rechte“ Regierungen könnten
den Migrationsnotstand ausrufen, linke den Klimanotstand, und beide den
Sicherheitsnotstand, sollten sich die gesellschaftlichen Gräben vertiefen
ähnlich wie in der Weimarer Republik. Genau aus deren Geschichte sollten wir
lernen. Die Weimarer Verfassung gab dem Reichspräsidenten das Notstandsrecht in
die Hand, mit dem er autoritär für Ruhe und Ordnung sorgen konnte – auf Kosten
von Freiheit und Würde. Friedrich Ebert erlag der Verlockung ebenso wie Paul von
Hindenburg. Der Rest ist Geschichte.
Doch die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben aus der Geschichte gelernt
und im Grundgesetz bewusst keinen Notstand mehr vorgesehen – und stattdessen die
Demokratie und die Grundrechte selbst und an oberster Stelle die Menschenwürde
als Kompass für Krisensituationen festgelegt. 1968 wurden zwar notstandsähnliche
Regelungen ins Grundgesetz nachjustiert, doch der Begriff selbst kommt bis heute
darin nicht vor. Die Zurückdrängung der Notstandsmentalität ist deshalb die
erste Maßnahme zur Stärkung der Demokratie. Artikel 20 des Grundgesetzes könnte
dahingehend ergänzt werden, dass auch bei Naturkatastrophen,
Gesundheitsereignissen und anderen Krisenszenarien eben nicht „Krieg gespielt“
werden darf, die Menschenwürde geschützt werden muss und in Menschenrechte nur
in geringstem Ausmaß eingegriffen werden darf. Ein zweiter Sicherheitsanker
könnte in einer Demokratisierung des Pandemie-Managements liegen. Konkret könnte
ein breiter Stakeholder-Krisenrat mit einem Vetorecht gegen
Grundrechtseinschränkungen ausgestattet werden, um voreilige, unbedachte oder
schlicht autoritäre Entscheidungen zu verhüten.
Einzelne Grundrechte aufwerten
Was einzelne Verbesserungen betrifft, könnte das Recht auf Unversehrtheit zu
den absoluten, nicht einschränkbaren Grundrecht, aufgewertet werden. Das würde
uns vor Test-, Masken- und Impfpflichten in Zukunft bewahren – und damit vor der
neuerlichen Spaltung der Gesellschaft. Die Regierungen müssten auf Empfehlungen
setzen, wie Schweden dies erfolgreich getan hat, und Evidenz vorlegen, damit die
Empfehlungen auf die Bevölkerung überzeugend wirken. Genau dies – die
wissenschaftliche Evidenz – hat ja bei den harten Pandemie-Maßnahmen großteils
gefehlt. Gut wäre deshalb eine neue Generalklausel für die Grundrechtsprüfung:
Ohne Evidenz keine länger andauernden Grundrechtseinschränkungen mehr,
allenfalls für sehr kurze Zeit, in der Evidenz schnellstmöglich beschafft werden
muss. Kommt sie nicht, müssen die Einschränkungen wieder aufgehoben werden.
Ein weitere Nachjustierung wäre die Ausweitung der staatlichen Vorzensur auf die
Nachzensur in den sozialen Medien durch die Internetplattformen. Dann könnten
über den Digital Services Act der EU illegale Inhalte verfolgt werden, was gut
ist, aber nicht „Desinformation“, weil nicht sinnvoll definierbar. Wenn kein
Rechtsbruch vorliegt, ist die Meinungsfreiheit zu schützen, statt vorbeugend und
willkürlich einzuschränken.
Ein weiterer Verbesserungsvorschlag: Die Liste der verbotenen
Diskriminierungsgründe in Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die
derzeit endet mit „oder eines sonstigen Status“, könnte erweitert werden auf
„des Gesundheits-, eines medizinischen oder sonstigen Status“, womit
klargestellt würde, dass niemand aufgrund des Gesundheitszustandes oder einer
bestimmten (Nicht-)Medikation Nachteile erleiden darf. Auch sinnvoll wäre die
Ausweitung des Nürnberger Kodex auf vorläufig zugelassene Medikamente, also die
rechtliche Gleichstellung von Notfallzulassungen mit medizinischen Versuchen.
Damit bleibt der potenzielle Vorteil einer schnelleren Zulassung intakt,
gleichzeitig kann diese nicht mit einem Therapiegebot wie einer Impfpflicht
kombiniert werden.
Schließlich könnte die Genfer Flüchtlingskonvention auf Klima- und
Umweltflüchtlinge ausgeweitet werden, zumal eine zerstörte Umwelt gegenwärtig
kein anerkannter Fluchtgrund ist. Noch weiter gedacht könnten endlich auch
ökologische Menschenrechte proklamiert werden, die allen Menschen einen gleichen
Anteil an den nachhaltigen Ressourcen der Erde zusichern. So würde der Katalog
der Grund- und Menschenrechte zeitgemäß weiterwachsen und an Prominenz gewinnen.
In Zeiten, wo die Grund- und Menschenrechte in der Defensive sind, ist das
sinnvollste, was linke, progressive, liberale oder christliche Parteien tun
können, sich für die Stärkung der Grund- und Menschenrechte einzusetzen. Auch
als Vorbereitung auf die anwachsende Polykrise.
Autoren von "In Zeiten der Polykrise: Plädoyer für die Stärkung der Grundrechte"
02.02.2025 - In Zeiten der Polykrise: Plädoyer für die Stärkung der Grundrechte
Spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar: Unsere Grundrechte lassen sich viel leichter außer Kraft setzen, als wir es lange Zeit für möglich gehalten hätten. Doch wie genau konnte dies geschehen? Der mit der Gemeinwohl-Ökonomie bekannt gewordene Publizist Christian Felber analysiert in seinem neuen Buch „Lob der Grundrechte“ die Geschehnisse während der Corona-Zeit, um einen Ansatz zu entwickeln, mit dem das zukünftige Beschneiden der Grundrechte in Krisensituationen vermieden und das Gemeinwohl gewahrt werden kann. Ein Kommentar.
Während der Covid-19-Pandemie „passierte“ etwas, das in Demokratien in Friedenszeiten seit dem Zweiten Weltkrieg undenkbar schien: 25 Grund- und Menschenrechte wurden gleichzeitig über mehrere Jahre verletzt oder vorsätzlich eingeschränkt: von der Menschenwürde und dem Recht auf Unversehrtheit über das Recht auf Gesundheit und Leben bis zur Freizügigkeit und persönlichen Freiheit, von der Versammlungs- bis zur Presse- und Meinungsfreiheit. Einigen ging es sogar nicht weit genug, sie sannen darüber nach, „mehr Diktatur zu wagen“ (Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung), befürworteten Diskriminierung (Gastbeitrag in Die Zeit) oder dachten sogar darüber nach, den Notstand wiedereinzuführen (Ministerpräsident Kretschmann in Baden-Württemberg).
Die Folgen dieses Experiments dauern bis heute an: Die Spaltung der Gesellschaft, die durch die massiven Grundrechtseinschränkungen verursacht wurde, ist nahezu unverändert aufrecht, das Vertrauen in Staat und ÖRR ist auf historische Niedrigstände gefallen, und rechte Parteien, die das von den Linken freiwillig geräumte Feld des Grundrechtsschutzes spontan okkupierten, gewannen kräftig zu und übernehmen nun Regierungsverantwortung. Die größte Gefahr von allen: der Geist des Notstandes ist aus der Flasche.
Angesicht der sich auswachsenden Polykrise und einer beschleunigten Krisenabfolge ist das keine gute Nachricht. Nach dem Präzedenzfall der Corona-Pandemie werden zukünftige Regierungen noch weniger Skrupel haben, den Notstand auszurufen und Grundrechte einzuschränken. „Rechte“ Regierungen könnten den Migrationsnotstand ausrufen, linke den Klimanotstand, und beide den Sicherheitsnotstand, sollten sich die gesellschaftlichen Gräben vertiefen ähnlich wie in der Weimarer Republik. Genau aus deren Geschichte sollten wir lernen. Die Weimarer Verfassung gab dem Reichspräsidenten das Notstandsrecht in die Hand, mit dem er autoritär für Ruhe und Ordnung sorgen konnte – auf Kosten von Freiheit und Würde. Friedrich Ebert erlag der Verlockung ebenso wie Paul von Hindenburg. Der Rest ist Geschichte.
Doch die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben aus der Geschichte gelernt und im Grundgesetz bewusst keinen Notstand mehr vorgesehen – und stattdessen die Demokratie und die Grundrechte selbst und an oberster Stelle die Menschenwürde als Kompass für Krisensituationen festgelegt. 1968 wurden zwar notstandsähnliche Regelungen ins Grundgesetz nachjustiert, doch der Begriff selbst kommt bis heute darin nicht vor. Die Zurückdrängung der Notstandsmentalität ist deshalb die erste Maßnahme zur Stärkung der Demokratie. Artikel 20 des Grundgesetzes könnte dahingehend ergänzt werden, dass auch bei Naturkatastrophen, Gesundheitsereignissen und anderen Krisenszenarien eben nicht „Krieg gespielt“ werden darf, die Menschenwürde geschützt werden muss und in Menschenrechte nur in geringstem Ausmaß eingegriffen werden darf. Ein zweiter Sicherheitsanker könnte in einer Demokratisierung des Pandemie-Managements liegen. Konkret könnte ein breiter Stakeholder-Krisenrat mit einem Vetorecht gegen Grundrechtseinschränkungen ausgestattet werden, um voreilige, unbedachte oder schlicht autoritäre Entscheidungen zu verhüten.
Einzelne Grundrechte aufwerten
Was einzelne Verbesserungen betrifft, könnte das Recht auf Unversehrtheit zu den absoluten, nicht einschränkbaren Grundrecht, aufgewertet werden. Das würde uns vor Test-, Masken- und Impfpflichten in Zukunft bewahren – und damit vor der neuerlichen Spaltung der Gesellschaft. Die Regierungen müssten auf Empfehlungen setzen, wie Schweden dies erfolgreich getan hat, und Evidenz vorlegen, damit die Empfehlungen auf die Bevölkerung überzeugend wirken. Genau dies – die wissenschaftliche Evidenz – hat ja bei den harten Pandemie-Maßnahmen großteils gefehlt. Gut wäre deshalb eine neue Generalklausel für die Grundrechtsprüfung: Ohne Evidenz keine länger andauernden Grundrechtseinschränkungen mehr, allenfalls für sehr kurze Zeit, in der Evidenz schnellstmöglich beschafft werden muss. Kommt sie nicht, müssen die Einschränkungen wieder aufgehoben werden.
Ein weitere Nachjustierung wäre die Ausweitung der staatlichen Vorzensur auf die Nachzensur in den sozialen Medien durch die Internetplattformen. Dann könnten über den Digital Services Act der EU illegale Inhalte verfolgt werden, was gut ist, aber nicht „Desinformation“, weil nicht sinnvoll definierbar. Wenn kein Rechtsbruch vorliegt, ist die Meinungsfreiheit zu schützen, statt vorbeugend und willkürlich einzuschränken.
Ein weiterer Verbesserungsvorschlag: Die Liste der verbotenen Diskriminierungsgründe in Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die derzeit endet mit „oder eines sonstigen Status“, könnte erweitert werden auf „des Gesundheits-, eines medizinischen oder sonstigen Status“, womit klargestellt würde, dass niemand aufgrund des Gesundheitszustandes oder einer bestimmten (Nicht-)Medikation Nachteile erleiden darf. Auch sinnvoll wäre die Ausweitung des Nürnberger Kodex auf vorläufig zugelassene Medikamente, also die rechtliche Gleichstellung von Notfallzulassungen mit medizinischen Versuchen. Damit bleibt der potenzielle Vorteil einer schnelleren Zulassung intakt, gleichzeitig kann diese nicht mit einem Therapiegebot wie einer Impfpflicht kombiniert werden.
Schließlich könnte die Genfer Flüchtlingskonvention auf Klima- und Umweltflüchtlinge ausgeweitet werden, zumal eine zerstörte Umwelt gegenwärtig kein anerkannter Fluchtgrund ist. Noch weiter gedacht könnten endlich auch ökologische Menschenrechte proklamiert werden, die allen Menschen einen gleichen Anteil an den nachhaltigen Ressourcen der Erde zusichern. So würde der Katalog der Grund- und Menschenrechte zeitgemäß weiterwachsen und an Prominenz gewinnen. In Zeiten, wo die Grund- und Menschenrechte in der Defensive sind, ist das sinnvollste, was linke, progressive, liberale oder christliche Parteien tun können, sich für die Stärkung der Grund- und Menschenrechte einzusetzen. Auch als Vorbereitung auf die anwachsende Polykrise.
Autoren von "In Zeiten der Polykrise: Plädoyer für die Stärkung der Grundrechte"
Bücher von Christian Felber