Mit ihrem Buch „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ hat
sich Sabine Kuegler mit ihrer bewegenden Geschichte als Mittlerin zwischen den
Kulturen gezeigt. Nach ihrem weltweiten Millionenbestseller „Dschungelkind“
erzählt sie in ihrem neuen Buch die dramatische Geschichte ihrer Zerrissenheit
zwischen den Kulturen, ihrer schweren Erkrankung und der Suche nach Heilung,
Glück und ihrem Platz im Leben - oder auch Anekdoten wie diese titelgebende
Geschichte mit den Krokodilen.
Ich erinnere mich an viele Begebenheiten, die einerseits zeigen, wie
unwissend meine Familie anfangs in der Welt der Fayu war, aber andererseits
auch, wie unterschiedlich unsere Kulturen funktionieren und welche
Missverständnisse das auslöst. Ein Beispiel dafür ist ein Ausflug, den wir
damals unternommen hatten. Es war früh am Nachmittag. Die Sonnenstrahlen
schienen unbarmherzig auf mich herab, während ich auf einem kleinen Brett saß,
das als Sitz in unserem langen Holzkanu diente. An diesem Tag war es besonders
heiß, die Fahrt entsprechend beschwerlich. Die Luft war schwer und klebrig. Die
Hitze umhüllte mich wie ein Kokon, jede Bewegung kostete Kraft. Selbst der
leichte Fahrtwind brachte keine Erleichterung.
Meine Kleidung war nassgeschwitzt und das Geräusch des Außenbordmotors machte
mich schläfrig. Ich beobachtete den dichten, unberührten Dschungel, der an mir
vorbeizog, während wir den Klihi-Fluss hinunterfuhren. Wir lebten nun schon seit
einiger Zeit beim Stamm der Fayu, ich war ungefähr neun Jahre alt. Wie immer am
Sonntag machten wir einen Ausflug, um andere Fayu-Clans zu besuchen. Wir, das
waren mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester und ich. Begleitet
wurden wir von mehreren Fayu-Männern. An diesem Sonntag hatten wir beschlossen,
die Sefoidi zu besuchen, einen der vier Fayu-Clans, der mehrere Stunden
flussaufwärts lebte. Ich liebte diese Ausflüge, denn sie bedeuteten, unbekannte
Gebiete in diesem riesigen Tal voller dunkler Sümpfe, grüner Dschungel und
blauer, sich ineinander schlängelnder Flüsse erkunden zu dürfen.
Wir waren schon auf dem Rückweg. Ich streckte meine Hand hinunter und
bespritzte Gesicht und Nacken mit Wasser, um mich ein wenig abzukühlen.
Plötzlich lenkte mein Vater das Kanu in eine andere Richtung. Er hatte einen
kleinen Fluss entdeckt, der in den dichten Dschungel abzweigte, und steuerte das
Kanu in diesen geheimnisvollen Fluss hinein. Er war uns zuvor nie aufgefallen,
da der Eingang kaum sichtbar war. Er war nicht breit, die Äste der Bäume hingen
weit über die Ufer und schlossen den Fluss noch mehr ein. Uns begrüßte eine
wunderschöne Landschaft, als wir uns behutsam den bezaubernden Wasserweg
hinaufbewegten. Vögel gab es hier in Hülle und Fülle, sie flogen in den Ästen,
rote Orchideen schmückten die grünen Bäume und Lianen hingen tief ins Wasser,
das im Vergleich zum Klihi-Fluss viel langsamer floss. Als der Fluss noch
schmaler wurde, sah ich die umgefallenen Baumstämme, die im Wasser stecken
geblieben waren und verwobene Flöße bildeten.
Meine Aufregung wuchs, denn ich wusste, dass wir jetzt bald die lang
ersehnte Erleichterung von der Hitze bekommen würden. Mein Vater hielt auf dem
Rückweg von unseren Ausflügen stets eine Zeitlang an, damit wir schwimmen gehen
konnten. Ich hatte also schon sehr viele solcher Orte gesehen, aber keiner der
Flüsse war so schön wie der, in dem wir uns gerade befanden. Die Luft hier war
angenehm, und das Wasser lud dazu ein, mich an seiner Kühle teilhaben zu lassen,
die von der Quelle irgendwo in den fernen Bergen ausging. Bald war der Fluss so
schmal und die Flöße so groß, dass wir mit dem Kanu nicht weiterfahren konnten.
Was für eine große Freude, als ich ins Wasser sprang. Ich spürte die
lindernde Frische, als ich mich tief ins Wasser sinken ließ, sie beruhigte meine
brennende Haut. Wie sehr ich es liebte zu schwimmen, in die sanfte Strömung
einzutauchen und zu spüren, wie die Energie in meinen Körper zurückkehrte. Bald
war auch der Rest meiner Familie ins Wasser gesprungen und genoss die reizvolle
Szenerie, die uns umgab. Ich hörte die Vögel und Insekten, roch den exotischen
Duft des Dschungels und wandte mein Gesicht, um in den klaren blauen Himmel zu
schauen. Wie anders er von hier schien. Eben noch strahlte er wie ein heißer,
glühender Ofen, jetzt lag er kühl und sanft da oben. Wir waren schon eine Weile
im Wasser, als uns auffiel, dass die Fayu allesamt noch immer im Boot saßen und
uns mit großen Augen beobachteten. Ich wunderte mich, denn normalerweise
waren sie die Ersten, die ins Wasser sprangen. Mein Vater schwamm zum Boot und
fragte Nakire, »Nakire, was macht ihr da? Warum seid ihr noch im Kanu? Kommt ins
Wasser, es ist so schön kalt!« Aber sie schüttelten den Kopf, als Nakire mit
einem ernsten Gesichtsausdruck antwortete: »Klausu, wir schwimmen nicht in
diesem Fluss.« Mein Vater fragte mit einem besorgten Gesichtsausdruck: »Warum
nicht? Ist das ein heiliger Fluss für die Fayu?« »Nein«, antwortete Nakire mit
ruhiger Stimme, »das ist der Fluss, in dem wir die Krokodile jagen, die wir euch
bringen.«
In Nullkommanichts haben wir uns aus dem Wasser gerettet. Wir saßen
schockiert da, als mein Vater sich an die Fayu wandte und fassungslos fragte:
»Warum habt ihr uns nicht gesagt, dass dies der Krokodilfluss ist?« »Aber
Klausu«, antwortete Nakire ganz sachlich, »jeder weiß, dass dies der
Krokodilfluss ist.« Jahre später erzählten uns die Fayu, wie fasziniert sie
an jenem Tag waren, als sie uns mit solcher Freude in den Fluss springen sahen.
Sie waren ungeheuer beeindruckt, wie tapfer und mutig wir waren, und nahmen an,
dass unser Gott sehr mächtig und uns sehr wohlgesonnen sein müsse, da wir
offenbar keine Angst vor den gefährlichen Krokodilen haben mussten. Umso
enttäuschter waren sie, als sie bemerkten, dass es gar nicht Tapferkeit oder Mut
waren, die uns mit den Krokodilen schwimmen ließ, sondern schlicht und einfach
unsere Unwissenheit. Immer wieder gaben sie diese Geschichte in den folgenden
Jahren zum Besten, sie brachte nicht nur die Fayu, sondern auch uns herzhaft zum
Lachen.
Für mich war es die erste bewusste Begegnung mit dem Konzept von Kulturen,
die sehr unterschiedlich sein können, ein Thema, das später mein ganzes
Erwachsenenleben prägen sollte. Die Fayu hatten noch nie eine andere Kultur als
die ihre kennengelernt. Sie konnten nicht begreifen, dass jemand etwas, was für
sie so selbstverständlich war, nicht wusste oder kannte. Deshalb waren sie gar
nicht erst auf die Idee gekommen, uns vor den Krokodilen im Fluss zu warnen. Für
sie war vollkommen klar, dass das jeder wissen müsse.
Als die Jahre vergingen und ich immer tiefer in die Fayu-Kultur
eintauchte, begann auch ich wie die Fayu zu denken, zu fühlen und zu reagieren.
Da ich von klein auf bei ihnen lebte, wurde ich darauf programmiert, in ihrer
Kultur und ihrer Umgebung zu überleben. Und obwohl ich europäische Eltern habe,
habe ich nicht geahnt, welche Auswirkungen meine Prägung auf mein späteres Leben
haben würde. Wie tief sich mein Aufwachsen im Dschungel auf meine
Persönlichkeit, meine Empfindungen und meinen Charakter auswirken würde. Ich
sehe aus wie eine normale Europäerin, aber innerlich bin und bleibe ich eine
Frau vom Stamm der Fayu.
08.12.2024 - Wo die Krokodile sind
Mit ihrem Buch „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ hat sich Sabine Kuegler mit ihrer bewegenden Geschichte als Mittlerin zwischen den Kulturen gezeigt. Nach ihrem weltweiten Millionenbestseller „Dschungelkind“ erzählt sie in ihrem neuen Buch die dramatische Geschichte ihrer Zerrissenheit zwischen den Kulturen, ihrer schweren Erkrankung und der Suche nach Heilung, Glück und ihrem Platz im Leben - oder auch Anekdoten wie diese titelgebende Geschichte mit den Krokodilen.
Ich erinnere mich an viele Begebenheiten, die einerseits zeigen, wie unwissend meine Familie anfangs in der Welt der Fayu war, aber andererseits auch, wie unterschiedlich unsere Kulturen funktionieren und welche Missverständnisse das auslöst. Ein Beispiel dafür ist ein Ausflug, den wir damals unternommen hatten. Es war früh am Nachmittag. Die Sonnenstrahlen schienen unbarmherzig auf mich herab, während ich auf einem kleinen Brett saß, das als Sitz in unserem langen Holzkanu diente. An diesem Tag war es besonders heiß, die Fahrt entsprechend beschwerlich. Die Luft war schwer und klebrig. Die Hitze umhüllte mich wie ein Kokon, jede Bewegung kostete Kraft. Selbst der leichte Fahrtwind brachte keine Erleichterung.
Meine Kleidung war nassgeschwitzt und das Geräusch des Außenbordmotors machte mich schläfrig. Ich beobachtete den dichten, unberührten Dschungel, der an mir vorbeizog, während wir den Klihi-Fluss hinunterfuhren. Wir lebten nun schon seit einiger Zeit beim Stamm der Fayu, ich war ungefähr neun Jahre alt. Wie immer am Sonntag machten wir einen Ausflug, um andere Fayu-Clans zu besuchen. Wir, das waren mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester und ich. Begleitet wurden wir von mehreren Fayu-Männern. An diesem Sonntag hatten wir beschlossen, die Sefoidi zu besuchen, einen der vier Fayu-Clans, der mehrere Stunden flussaufwärts lebte. Ich liebte diese Ausflüge, denn sie bedeuteten, unbekannte Gebiete in diesem riesigen Tal voller dunkler Sümpfe, grüner Dschungel und blauer, sich ineinander schlängelnder Flüsse erkunden zu dürfen.
Wir waren schon auf dem Rückweg. Ich streckte meine Hand hinunter und bespritzte Gesicht und Nacken mit Wasser, um mich ein wenig abzukühlen. Plötzlich lenkte mein Vater das Kanu in eine andere Richtung. Er hatte einen kleinen Fluss entdeckt, der in den dichten Dschungel abzweigte, und steuerte das Kanu in diesen geheimnisvollen Fluss hinein. Er war uns zuvor nie aufgefallen, da der Eingang kaum sichtbar war. Er war nicht breit, die Äste der Bäume hingen weit über die Ufer und schlossen den Fluss noch mehr ein. Uns begrüßte eine wunderschöne Landschaft, als wir uns behutsam den bezaubernden Wasserweg hinaufbewegten. Vögel gab es hier in Hülle und Fülle, sie flogen in den Ästen, rote Orchideen schmückten die grünen Bäume und Lianen hingen tief ins Wasser, das im Vergleich zum Klihi-Fluss viel langsamer floss. Als der Fluss noch schmaler wurde, sah ich die umgefallenen Baumstämme, die im Wasser stecken geblieben waren und verwobene Flöße bildeten.
Meine Aufregung wuchs, denn ich wusste, dass wir jetzt bald die lang ersehnte Erleichterung von der Hitze bekommen würden. Mein Vater hielt auf dem Rückweg von unseren Ausflügen stets eine Zeitlang an, damit wir schwimmen gehen konnten. Ich hatte also schon sehr viele solcher Orte gesehen, aber keiner der Flüsse war so schön wie der, in dem wir uns gerade befanden. Die Luft hier war angenehm, und das Wasser lud dazu ein, mich an seiner Kühle teilhaben zu lassen, die von der Quelle irgendwo in den fernen Bergen ausging. Bald war der Fluss so schmal und die Flöße so groß, dass wir mit dem Kanu nicht weiterfahren konnten.
Was für eine große Freude, als ich ins Wasser sprang. Ich spürte die lindernde Frische, als ich mich tief ins Wasser sinken ließ, sie beruhigte meine brennende Haut. Wie sehr ich es liebte zu schwimmen, in die sanfte Strömung einzutauchen und zu spüren, wie die Energie in meinen Körper zurückkehrte. Bald war auch der Rest meiner Familie ins Wasser gesprungen und genoss die reizvolle Szenerie, die uns umgab. Ich hörte die Vögel und Insekten, roch den exotischen Duft des Dschungels und wandte mein Gesicht, um in den klaren blauen Himmel zu schauen. Wie anders er von hier schien. Eben noch strahlte er wie ein heißer, glühender Ofen, jetzt lag er kühl und sanft da oben. Wir waren schon eine Weile im Wasser, als uns auffiel, dass die Fayu allesamt noch immer im Boot saßen und uns mit großen Augen beobachteten.
Ich wunderte mich, denn normalerweise waren sie die Ersten, die ins Wasser sprangen. Mein Vater schwamm zum Boot und fragte Nakire, »Nakire, was macht ihr da? Warum seid ihr noch im Kanu? Kommt ins Wasser, es ist so schön kalt!« Aber sie schüttelten den Kopf, als Nakire mit einem ernsten Gesichtsausdruck antwortete: »Klausu, wir schwimmen nicht in diesem Fluss.« Mein Vater fragte mit einem besorgten Gesichtsausdruck: »Warum nicht? Ist das ein heiliger Fluss für die Fayu?« »Nein«, antwortete Nakire mit ruhiger Stimme, »das ist der Fluss, in dem wir die Krokodile jagen, die wir euch bringen.«
In Nullkommanichts haben wir uns aus dem Wasser gerettet. Wir saßen schockiert da, als mein Vater sich an die Fayu wandte und fassungslos fragte: »Warum habt ihr uns nicht gesagt, dass dies der Krokodilfluss ist?« »Aber Klausu«, antwortete Nakire ganz sachlich, »jeder weiß, dass dies der Krokodilfluss ist.«
Jahre später erzählten uns die Fayu, wie fasziniert sie an jenem Tag waren, als sie uns mit solcher Freude in den Fluss springen sahen. Sie waren ungeheuer beeindruckt, wie tapfer und mutig wir waren, und nahmen an, dass unser Gott sehr mächtig und uns sehr wohlgesonnen sein müsse, da wir offenbar keine Angst vor den gefährlichen Krokodilen haben mussten. Umso enttäuschter waren sie, als sie bemerkten, dass es gar nicht Tapferkeit oder Mut waren, die uns mit den Krokodilen schwimmen ließ, sondern schlicht und einfach unsere Unwissenheit. Immer wieder gaben sie diese Geschichte in den folgenden Jahren zum Besten, sie brachte nicht nur die Fayu, sondern auch uns herzhaft zum Lachen.
Für mich war es die erste bewusste Begegnung mit dem Konzept von Kulturen, die sehr unterschiedlich sein können, ein Thema, das später mein ganzes Erwachsenenleben prägen sollte. Die Fayu hatten noch nie eine andere Kultur als die ihre kennengelernt. Sie konnten nicht begreifen, dass jemand etwas, was für sie so selbstverständlich war, nicht wusste oder kannte. Deshalb waren sie gar nicht erst auf die Idee gekommen, uns vor den Krokodilen im Fluss zu warnen. Für sie war vollkommen klar, dass das jeder wissen müsse.
Als die Jahre vergingen und ich immer tiefer in die Fayu-Kultur eintauchte, begann auch ich wie die Fayu zu denken, zu fühlen und zu reagieren. Da ich von klein auf bei ihnen lebte, wurde ich darauf programmiert, in ihrer Kultur und ihrer Umgebung zu überleben. Und obwohl ich europäische Eltern habe, habe ich nicht geahnt, welche Auswirkungen meine Prägung auf mein späteres Leben haben würde. Wie tief sich mein Aufwachsen im Dschungel auf meine Persönlichkeit, meine Empfindungen und meinen Charakter auswirken würde. Ich sehe aus wie eine normale Europäerin, aber innerlich bin und bleibe ich eine Frau vom Stamm der Fayu.
Autoren von "Wo die Krokodile sind"
Bücher von Sabine Kuegler