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  1. Kommentar
Gurot (c) Jan Pyko-sw
Kommentar

29.11.2024 - Das eurasische Herzland – Drehpunkt der Geschichte?

Ulrike Guérot:

Ulrike Guérot betrachtet Sir Halford John Mackinders „Heartland-Theorie“ über den geografischen Drehpunkt der Geschichte aus einem neuen Blickwinkel und ordnet diese in das aktuelle Zeitgeschehen ein, inklusive der US-Wahlen.

1904 dürften im Wesentlichen ältere, distinguierte, gelehrte oder gar adelige Männer dem Vortrag von Sir Halford John Mackinders gelauscht haben. Ich glaube nicht, dass sich die ersten Suffragetten für Geografie und Geostrategie interessiert haben – geschweige denn, dass sie Einlass bekommen hätten. In dieser männlichen Atmosphäre entsteht also eine Theorie zur Weltherrschaft, die im Kern darin besteht, das Herzland des eurasischen Kontinents – also jene Gebiete, in denen sich Europa, Russland, Indien und China berühren, im Westen beginnend mit der Krim über die russischen Steppenlandschaften nördlich von Kasan (jener Stadt, in der vor wenigen Tagen, Mitte Oktober 2024, der BRICS-Gipfel stattgefunden hat), vom Schwarzen Meer bis kurz vor Sibirien und hinunter bis nach Afghanistan – zu okkupieren und dem allein russischen (damals noch dem zaristischen, dann dem sowjetischen) Zugriff zu entziehen.

Eine Seemacht – Großbritannien – plant durch Zugriff, Okkupation und die Zerteilung der riesigen eurasischen Landmasse ihre eigene, weltweite Vormachtstellung, aufbauend auf der Theorie, dass diese ressourcenreiche Landmasse am weitesten von Küsten entfernt ist und sich deswegen unangefochten von »Seemächten« eine Weltherrschaft, eine »natürliche geografische Festung« (sic!), entwickeln könne, was verhindert werden müsse. »Viel spricht (…) dafür, dass die dem ›Herzland‹ zugeschriebene Rolle als Macht- Multiplikator lediglich ein Mythos ist, eine akademische Kopfgeburt, die einmal in die Welt gesetzt ein sonderbares Eigenleben führt, ohne wirklich jemals bewiesen worden zu sein.« Man könnte auch von Männerphantasien sprechen.

Geostrategie ist ganz sicher eine männliche Leidenschaft. Als Frau, die jahrelang auf transatlantischen, internationalen Konferenzen gesessen und diskutiert hat und Mitglied im Verein »Women in International Security« gewesen ist, erlaube ich mir, das zu sagen. Übersehen werden in den oft erhitzten Diskussionen die weichen Faktoren, die für eine »Eroberung« notwendig sind: Landeskenntnisse, Traditionen, Ortskenntnis, z.B. von Partisanen oder Milizen, das Klima, der Geist der Gesetze nach Montesquieu… Die klügste geostrategische Theorie und die best-bewaffnete Armee kommen auf Dauer dagegen nicht an: Trotz milliardenschwerer militärischer und politischer Intervention sind es diese Dinge, die die USA bzw. den Westen nach zwanzig Jahren »Einmarsch« in Afghanistan haben scheitern lassen, obgleich die Mudjahedin barfuß laufen, nur Kalaschnikows haben und die von den USA gelieferten Stinger-Waffensysteme nicht bedienen können. Die Bilder vom überstürzten Abzug aus Kabul im August 2021 dürften einigen in Erinnerung sein.

Men are from mars, women are from venus, dieses Buch von John Gray von 1992 kennen sicherlich viele Leser. Wenn man einmal Atem holt und sich die Kernelemente der Mackinder-Theorie plastisch vorstellt, diese Rede in diesem Raum imaginiert, Halford Mackinder, ernst blickend und mit kleinem Schnauzbart, der in seinem Manuskript blättert, sich vielleicht räuspert und gewichtig tut, angesichts einer aberwitzigen Theorie, die vorzutragen er sich anschickt, dann kann man sich eigentlich nur an den Kopf fassen. Jedenfalls als Frau. Auf den ganzen rund dreißig Seiten ist von Menschen, Städten, Dörfern, Leben, Karawanen, Mentalitäten, Identität, Kultur, Wirtschaften oder Agrikultur nicht die Rede. Es geht nur um Gebirgsketten, Flüsse, geografische Grenzen, Steppengebiete, Besiedelungsdichte, Mobilität und darum, welches Volk (»der Magyar« oder »der Bulgare«) gerade welche Landstriche durchreitet und besetzt. Die Geografie wird zum absoluten Prinzip erhoben. […]

Europa ist dem Mythos nach eine phönizische Prinzessin, die, auf Zeus reitend, dem heutigen Kontinent ihren Namen gibt und deswegen auch – jedenfalls auf allen alten Karten – als Frau abgebildet ist. Die älteste Karte Europas von 1534, erst kürzlich im niederösterreichischen Retz gefunden, zeigt sie als eine majestätische Königin. Spanien ist der Kopf, auf dem die Krone sitzt. Ihr Körper bzw. ihr Kleid erstreckt sich im Westen über die ganze europäische Halbinsel des eurasischen Kontinents, und ihre Füße stehen fest auf russischem Boden. Der eurasische Osten ist gleichsam der Sockel, auf dem die Europa steht, die Landmasse, mit der sie fest verbunden ist. Jenes eurasische Heartland, auf das Mackinder sein Auge wirft und das im Westen ungefähr mit Lemberg, also der Westukraine beginnt, ist aus europäischer Sicht eben nicht das Herz. Es ist der Unterleib der Europa, erotisch überhöht könnte man fast sagen, ihre Vagina. Mackinders Theorie, bildlich (oder feministisch) gesprochen, vergewaltigt die Europa und will in den Raum eindringen, der Leben spendet. Mich persönlich wundert es nicht, dass sich nur ein Mann so etwas ausdenken kann. […]

Dass Mackinder sich derartiges im London von 1904 erdenkt, vielleicht in dem Ansinnen, eine britische Strategie mit Blick auf Eurasien zu entwerfen, die Großbritannien auch bei Nebel im europäischen Bewusstsein hält, um vom Kontinent nicht vergessen zu werden, mag man mit der Randständigkeit der Insel erklären. Immerhin war Großbritannien 1904 trotz Insellage noch einer der führenden geopolitischen Akteure in Europa. Könnte man eine solche Theorie also mit dem Heischen nach Aufmerksamkeit erklären von jemanden, der aufgrund der Insellage beim kontinentalen Geschehen nicht dabei ist? Eine Reaktion auf Kränkung oder mangelnde Aufmerksamkeit sozusagen, denn dass britische Schiffe ernsthaft über See ins eurasische Kernland z.B. zur Eroberung von Odessa vordringen würden, war in der Realität schwer vorstellbar – und ist während des Krimkriegs 1853 auch gescheitert.

Schwieriger bzw. gefährlicher wurde es, nachdem die Mackinders-Theorie im Zuge des Ersten und Zweiten Weltkriegs von London als angelsächsisches Gedankengut nach Washington gewandert war und nach dem Zweiten Weltkrieg die einst imperialen Träume der Briten an die USA übergeben wurden. Seither wurde die Theorie von den USA immer wieder zur geostrategischen Grundlage für die transatlantischen Beziehungen gemacht – vom legendären und aus heutiger Sicht vielleicht einzigem umsichtigen, klugen und gemäßigten außenpolitischen Berater George Kennan, der in seinen letzten Veröffentlichungen aus den 1990er Jahren sehr sorgenvoll auf die Mackinder-Theorie blickte und vor ihrer Realisierung warnte, bis heute.

Zu einer ersten Modernisierung der Theorie kam es in den 1940er Jahren durch Nicholas John Spykman, indem dieser anders auf die Bedeutung der Küstenregionen und die Küstenverläufe in Eurasien blickte und damit den eigentlichen Fokus der Theorie von der eurasischen Landmasse, dem Herzland, etwas wegverlagerte. Wirklichen Auftrieb und gleichsam ein neues Gewandt erhielt die für das heutige Europa so gefährliche geostrategische Theorie dann aber erst in dem legendären Buch von Sicherheitsberater Zbiegniew Brzeziński aus den 1990er Jahren. So hebt Brzeziński in seinem legendären Buch The Grand Chessboard von 1997 hervor, dass sich die gesamte bisherige Weltgeschichte bisher in Eurasien abgespielt habe und lediglich die USA das erste nicht eurasische Imperium seien. Zudem verweist Brzezinski auf die Tatsache, dass zwei der drei führenden wirtschaftlichen Zentren der Welt in Eurasien beheimatet seien, nämlich Europa und Südostasien und betont den Rohstoff- und Bevölkerungsreichtum Eurasiens. »Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem Boden wie auch Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen Reichtums der Welt. Eurasien stellt 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und ungefähr drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen. Eurasien beherbergt auch die meisten der politisch maßgeblichen und dynamischen Staaten. Die nach den USA sechs größten Wirtschaftsnationen mit den höchsten Rüstungsausgaben liegen in Europa und Asien. Mit einer Ausnahme sind sämtliche Atommächte und alle Staaten, die über heimliche Nuklearwaffenpotentiale verfügen, in Eurasien zu Hause. Die beiden bevölkerungsreichsten Anwärter auf regionale Vormachtstellung und weltweiten Einfluss sind in Eurasien ansässig. Amerikas potentielle Herausforderer auf politischem und/oder wirtschaftlichem Gebiet sind ausnahmslos eurasische Staaten. Als Ganzes genommen stellt das Machtpotential dieses Kontinents das der USA weit in den Schatten. Zum Glück für Amerika ist Eurasien zu groß, um eine politische Einheit zu bilden.«

Das Buch ist ansonsten durchgehend in einem pejorativen Duktus geschrieben, der eine Art amerikanischen Neidreflex suggeriert, ganz so, als hätten die Staaten Eurasiens, die im eurasischen Herzland beheimatet sind, kein Recht auf ihren Rohstoff-Reichtum, ihre jahrtausendelange Geschichte und Kultur. Der herablassende Ton Brzezińskis ist gekennzeichnet von einer systematischen Degradierung Russlands, etwa, in dem das sowjetische Erbe mit dem Dritten Reich gleichsetzt wird, ebenso wie zuvor Mackinder Eurasien bzw. Zentralasien kulturell entwertet hat, indem er Russland den Mongolen gleichstellt, auf die (teilweise noch) nomadischen Strukturen rekurriert und das zentralasiatische Russland stets orientalisiert, sodass die große russische Kultur von Dostojewski über Tolstoi bis hin zum Bolschoi-Theater nicht als zutiefst verbunden mit der europäischen Kultur erscheint. Russland ist Hinterland, hinterwäldlerisch, zurückgeblieben, und es erscheint bei Mackinder wie bei Brzeziński fast natürlich, dass man auf russische Gebiete und Ressourcen Anspruch erheben darf bzw. die USA auf dem »eurasischen Schachbrett« mitspielen dürfen. Russland ist kein Partner, sondern offensichtlich Verfügungsmasse für die USA. In diesem Punkt treffen sich Mackinder aus London und Brzeziński aus den USA.

Betrachten wir noch jetzt noch einmal den letzten Satz des längeren Zitates oben »Zum Glück für Amerika ist Eurasien zu groß, um eine politische Einheit zu bilden« und fragen, wie die von Brzeziński geschulten Geostrategen der USA vor diesem Hintergrund auf die im Jahr 2009 gegründete Formation der BRICS-Staaten schauen. Denn das ermöglicht, einen großen Bogen von Mackinder über Brzeziński bis zum heutigen Krieg in der Ukraine zu ziehen. Brzeziński, dessen Buch gleichsam die Bibel der amerikanischen Neocons wurde, hat damit die theoretische Grundlage für die trotz gegenläufiger Zusagen seit 1994 ständig betriebene Ausdehnung der NATO nach Osten betrieben und diese Strategie als Hauptpfeiler der US-amerikanischen Strategie in Europa eingepflockt. Diese NATO-Osterweiterung, die seit dem Bukarester NATO-Gipfel von 2008 die Eingliederung der Ukraine zum Ziel hat, kann als einer der Hauptgründe für den »völkerrechtswidrigen Angriffskrieg« gewertet werden, den Russland am 24. Februar 2022 begonnen hat. In russischen Stellungnahmen und Reden von Putin wird immer wieder hervorgehoben, dass die Neutralität der Ukraine und eine föderale Struktur des Landes, so wie in den Abkommen Minsk I und II (die vom Westen, also Frankreich und Deutschland, unterwandert wurden) vereinbart, zentrale Kriegsgründe gewesen sind. Indem das ukrainische Parlament am 7. Februar 2019 mit einer Mehrheit von 334 der 450 Abgeordneten in der Verfassung eine »strategische Orientierung der Ukraine zum vollständigen Beitritt zur EU und der NATO« verankerte und mithin jede Rücksichtnahme auf die sicherheitspolitischen Interessen Russlands missachtet wurden, kam es zu dem, was Russland »militärische Spezialoperation« nennt und andere als »defensive Invasion« bezeichnen: die Schlacht um das Herzland hatte begonnen, ganz so, als hätte Brzeziński ein Skript dafür geschrieben.

Autoren von "Das eurasische Herzland – Drehpunkt der Geschichte?"

Gurot (c) Jan Pyko-sw
Ulrike Guérot

Bücher von Ulrike Guérot

9783864893599
Details
Buch: 16,00 €
eBook: 12,99 €
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