24.11.2024 - Durchwurschteln als Regierungsform à la Merkel
Martin Heipertz:
Wie wird Deutschland und die EU eigentlich regiert? In den 1980er-Jahren
sprachen die Politologen von »Steuerung« und stellten in den 1990er-Jahren einen
»Governance-Turn« fest. Das Zeitalter der »Polykrise« (Edgar Morin) brachte aber
einen anderen Typus politischer Herrschaft hervor. Nach
»Problemlösungsfähigkeit«, »Interaktionsformen« und »Regulierungsstaat« brauchen
wir einen neuen konzeptionellen Ansatz, um die Politikgestaltung in Deutschland
und Europa zu verstehen, fordert Martin Heipertz, dessen Buch »Merkelismus. Die
hohe Kunst der flachen Politik« parallel zur Merkel-Biografie heute erscheint.
Innerhalb des Krisen-Reigens der Merkel-Ära stellt die Eurokrise einen
besonderen Teil des Wandels dar – nicht nur für Politologen ist das interessant.
Wir bewegten uns damals entscheidend weg vom »Mehrebenensystem« und hin zum
»Muddling through«. Die Institutionen der europäischen »Multi-Level-Governance«
bleiben zwar bestehen, werden aber überfordert durch komplexe Krisensituationen,
die sich ihrer Kontrolle entziehen. Durchwurschteln ist, wie der Soziologe
Charles Lindblom schon in den 1950er Jahren argumentierte, der bevorzugte Weg,
mit Komplexität umzugehen. Die Akteure auf staatlicher und europäischer Ebene
befinden sich in einem verzweifelten Prozess von Versuch und Irrtum. »Fahren auf
Sicht« ist eine recht treffende und bekannte Selbstbeschreibung des politischen
Lebens in Deutschland und Europa während des Krisenmanagements.
Im »Nebel der Krise« – in Anlehnung an den »fog of war« – kann
Inkrementalismus (Lindbloms Fachwort für »Durchwurschteln«) die einzige
Möglichkeit sein, überhaupt zu konkreten Entscheidungen zu gelangen. Als solcher
ist der Inkrementalismus nicht unbedingt problematisch. Ein Problem entsteht
jedoch, wenn die Krise so beschaffen ist, dass ihre Ursachen in wichtigen
strukturellen, institutionellen und architektonischen Mängeln liegen, wie dies
beim Euro der Fall ist. Ein inkrementeller Ansatz bei der Politikgestaltung
sollte nicht die Chancen übersehen, welche die Krise dann für die Behebung
solcher grundlegenden Probleme mit sich bringt. Es gilt das vielzitierte Wort
von der Krise als Chance.
Andernfalls ist ein Durchwurschteln ohne strategische Vision gleichbedeutend
mit einer schiefen Ebene. Wie Lindblom selbst zugibt, birgt es eine sehr ernste
Gefahr, die er als »Beagle-Fallacy« bezeichnet. Die schlechte Sehkraft eines
Beagle-Hundes, der zwar einen ausgezeichneten Geruchssinn hat, lässt ihn Beute
oder Gefahren übersehen, die direkt vor ihm stehen aber sich im Windschatten
befinden. Übertragen auf den politischen Kontext bedeutet die Beagle-Fallacy,
dass durch die Konzentration auf schrittweise, kleine Veränderungen,
Inkrementalismus also, das übergeordnete Ziel oder eine breitere Vision aus den
Augen verlorengeht. Organisationen oder politische Entscheidungsträger
riskieren, wichtige Veränderungen oder größere Bedrohungen zu übersehen, weil
sie sich nur auf unmittelbare, kleinere Anpassungen konzentrieren.
Auch Trippelschritte können zu tiefgreifenden Veränderungen führen –
Stichwort »Salamitaktik« – jedoch ohne Kurs und Ziel. Das Durchwurschteln in der
Eurokrise führte denn auch zu drastischen und plötzlichen politischen
Veränderungen, die im Widerspruch zu den langgehegten Werten der Unionsparteien
CDU und CSU standen. Unter der Dringlichkeit der Krise wurde die politische
rechte Mitte gefügig gemacht und hierarchisch gezwungen, die Ergebnisse der
Merkelschen Politik zu akzeptieren und sie im Parlament und im öffentlichen
Diskurs zu unterstützen. Folglich gab es keine Entscheidungsfindung von unten
nach oben oder die von Lindblom favorisierte »Polyarchie« mehr, sondern eine
reine Top-down-Steuerung mit starken Tendenzen zur Oligarchie. Abweichungen
wurden sanktioniert, im öffentlichen Diskurs auch zunehmend unter
pseudo-moralischen Gesichtspunkten.
Kurz vor der Neuwahl ist keineswegs klar, ob sich die Union jemals wieder von
Merkel erholen wird und was dies für die Aussichten der Demokratie in
Deutschland bedeuten könnte. Demokratien können sterben, wie der Politologe
Daniel Ziblatt ausführt. Das Durchwurschteln hat per se nichts Demokratisches an
sich. Es kann autoritäre Herrschaftsformen beinhalten oder sogar zu ihnen
hinführen. Durchwurschteln ist nicht mit schwacher Macht zu verwechseln – eher
das Gegenteil ist der Fall. Merkel blieb nicht nur die zentrale Figur im
politischen System, sondern erfuhr sogar einen beträchtlichen Machtzuwachs durch
ihren Regierungsstil.
Wer sich um die Vitalität der repräsentativen und parlamentarischen
Demokratie sorgt, kann sich mit Fug und Recht fragen, ob die Merkel-Ära
dauerhafte Schäden an unserer politischen Kultur verursacht hat. Die Uniformität
der Medien spiegelt und verstärkt eine Stromlinienförmigkeit der Gesellschaft
insgesamt. Das beliebige Durchwurschteln erstickt das öffentliche Forum und
verwandelt den »Body politic« – den Leviathan (Thomas Hobbes) – in einen
Schwarm. Dieser Prozess wird durch die sogenannten »sozialen Medien« und die
Rolle der kulturellen und akademischen Elemente der Gesellschaft erheblich
verstärkt. Die Interaktion zwischen der politischen Ebene, den Medien, der
Kultur, der Wissenschaft und der digital einwilligenden, lautstarken Mehrheit
des Volkes wird zu einer sich selbst verstärkenden Rückkopplungsschleife. Die
Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden wächst. Sie verlieren ihren
Arbeitsplatz und ihr Ansehen, und einer nach dem anderen verstummt. Eine
autoritäre Herrschaftsform ist das durchaus mögliche Ende des Durchwurschtelns –
aber kein notwendiges. Es liegt an uns.
Autoren von "Durchwurschteln als Regierungsform à la Merkel"
24.11.2024 - Durchwurschteln als Regierungsform à la Merkel
Wie wird Deutschland und die EU eigentlich regiert? In den 1980er-Jahren sprachen die Politologen von »Steuerung« und stellten in den 1990er-Jahren einen »Governance-Turn« fest. Das Zeitalter der »Polykrise« (Edgar Morin) brachte aber einen anderen Typus politischer Herrschaft hervor. Nach »Problemlösungsfähigkeit«, »Interaktionsformen« und »Regulierungsstaat« brauchen wir einen neuen konzeptionellen Ansatz, um die Politikgestaltung in Deutschland und Europa zu verstehen, fordert Martin Heipertz, dessen Buch »Merkelismus. Die hohe Kunst der flachen Politik« parallel zur Merkel-Biografie heute erscheint.
Innerhalb des Krisen-Reigens der Merkel-Ära stellt die Eurokrise einen besonderen Teil des Wandels dar – nicht nur für Politologen ist das interessant. Wir bewegten uns damals entscheidend weg vom »Mehrebenensystem« und hin zum »Muddling through«. Die Institutionen der europäischen »Multi-Level-Governance« bleiben zwar bestehen, werden aber überfordert durch komplexe Krisensituationen, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Durchwurschteln ist, wie der Soziologe Charles Lindblom schon in den 1950er Jahren argumentierte, der bevorzugte Weg, mit Komplexität umzugehen. Die Akteure auf staatlicher und europäischer Ebene befinden sich in einem verzweifelten Prozess von Versuch und Irrtum. »Fahren auf Sicht« ist eine recht treffende und bekannte Selbstbeschreibung des politischen Lebens in Deutschland und Europa während des Krisenmanagements.
Im »Nebel der Krise« – in Anlehnung an den »fog of war« – kann Inkrementalismus (Lindbloms Fachwort für »Durchwurschteln«) die einzige Möglichkeit sein, überhaupt zu konkreten Entscheidungen zu gelangen. Als solcher ist der Inkrementalismus nicht unbedingt problematisch. Ein Problem entsteht jedoch, wenn die Krise so beschaffen ist, dass ihre Ursachen in wichtigen strukturellen, institutionellen und architektonischen Mängeln liegen, wie dies beim Euro der Fall ist. Ein inkrementeller Ansatz bei der Politikgestaltung sollte nicht die Chancen übersehen, welche die Krise dann für die Behebung solcher grundlegenden Probleme mit sich bringt. Es gilt das vielzitierte Wort von der Krise als Chance.
Andernfalls ist ein Durchwurschteln ohne strategische Vision gleichbedeutend mit einer schiefen Ebene. Wie Lindblom selbst zugibt, birgt es eine sehr ernste Gefahr, die er als »Beagle-Fallacy« bezeichnet. Die schlechte Sehkraft eines Beagle-Hundes, der zwar einen ausgezeichneten Geruchssinn hat, lässt ihn Beute oder Gefahren übersehen, die direkt vor ihm stehen aber sich im Windschatten befinden. Übertragen auf den politischen Kontext bedeutet die Beagle-Fallacy, dass durch die Konzentration auf schrittweise, kleine Veränderungen, Inkrementalismus also, das übergeordnete Ziel oder eine breitere Vision aus den Augen verlorengeht. Organisationen oder politische Entscheidungsträger riskieren, wichtige Veränderungen oder größere Bedrohungen zu übersehen, weil sie sich nur auf unmittelbare, kleinere Anpassungen konzentrieren.
Auch Trippelschritte können zu tiefgreifenden Veränderungen führen – Stichwort »Salamitaktik« – jedoch ohne Kurs und Ziel. Das Durchwurschteln in der Eurokrise führte denn auch zu drastischen und plötzlichen politischen Veränderungen, die im Widerspruch zu den langgehegten Werten der Unionsparteien CDU und CSU standen. Unter der Dringlichkeit der Krise wurde die politische rechte Mitte gefügig gemacht und hierarchisch gezwungen, die Ergebnisse der Merkelschen Politik zu akzeptieren und sie im Parlament und im öffentlichen Diskurs zu unterstützen. Folglich gab es keine Entscheidungsfindung von unten nach oben oder die von Lindblom favorisierte »Polyarchie« mehr, sondern eine reine Top-down-Steuerung mit starken Tendenzen zur Oligarchie. Abweichungen wurden sanktioniert, im öffentlichen Diskurs auch zunehmend unter pseudo-moralischen Gesichtspunkten.
Kurz vor der Neuwahl ist keineswegs klar, ob sich die Union jemals wieder von Merkel erholen wird und was dies für die Aussichten der Demokratie in Deutschland bedeuten könnte. Demokratien können sterben, wie der Politologe Daniel Ziblatt ausführt. Das Durchwurschteln hat per se nichts Demokratisches an sich. Es kann autoritäre Herrschaftsformen beinhalten oder sogar zu ihnen hinführen. Durchwurschteln ist nicht mit schwacher Macht zu verwechseln – eher das Gegenteil ist der Fall. Merkel blieb nicht nur die zentrale Figur im politischen System, sondern erfuhr sogar einen beträchtlichen Machtzuwachs durch ihren Regierungsstil.
Wer sich um die Vitalität der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie sorgt, kann sich mit Fug und Recht fragen, ob die Merkel-Ära dauerhafte Schäden an unserer politischen Kultur verursacht hat. Die Uniformität der Medien spiegelt und verstärkt eine Stromlinienförmigkeit der Gesellschaft insgesamt. Das beliebige Durchwurschteln erstickt das öffentliche Forum und verwandelt den »Body politic« – den Leviathan (Thomas Hobbes) – in einen Schwarm. Dieser Prozess wird durch die sogenannten »sozialen Medien« und die Rolle der kulturellen und akademischen Elemente der Gesellschaft erheblich verstärkt. Die Interaktion zwischen der politischen Ebene, den Medien, der Kultur, der Wissenschaft und der digital einwilligenden, lautstarken Mehrheit des Volkes wird zu einer sich selbst verstärkenden Rückkopplungsschleife. Die Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden wächst. Sie verlieren ihren Arbeitsplatz und ihr Ansehen, und einer nach dem anderen verstummt. Eine autoritäre Herrschaftsform ist das durchaus mögliche Ende des Durchwurschtelns – aber kein notwendiges. Es liegt an uns.
Autoren von "Durchwurschteln als Regierungsform à la Merkel"
Bücher von Martin Heipertz