27.10.2024 - Glaube und Zweifel im Angesicht des Todes
Matthias Struth:
Was treibt einen Menschen um in den letzten Stunden seines Lebens? Welche
"letzten Fragen" stellen sich im Angesicht des Todes? Gibt der Glaube Halt -
oder überwiegt im Sterben der Zweifel? Wie gehen Angehörige mit dem Tod ihrer
Liebsten um? Matthias Struth berichtet von seinem Wirken als katholischer
Seelsorger im Uniklinikum Frankfurt und den Menschen, die er dort Tag für Tag
begleitet. Viele von ihnen stehen am Ende ihres Lebens: Sie blicken resümierend
zurück oder unsicher nach vorne, wollen letzte Dinge klären oder letzte
Antworten finden. Die Situation der Kranken und ihrer Angehörigen, vor der wir
in Zeiten der Gesundheit nur zu gerne die Augen verschließen, rückt Struth in
den Fokus. Ein Auszug.
In den existenziellen Situationen des Lebens sind viele Menschen offen für
das, was unter der Oberfläche liegt. Viele beschäftigt die Frage nach der
Transzendenz. Bei manchen Menschen sind es nicht nur vage Gedanken, die ihnen
durch den Kopf (und durch das Herz) schießen. Manch einer kommt mit konkreten
Fragen auf uns in der Seelsorge zu. Wiederholt habe ich die Erfahrung gemacht,
dass auch Menschen, die nicht glauben oder denen der Glauben nicht wichtig ist,
in existenziellen Situationen konkrete Fragen an den Glauben stellen. Sie sind
dann manchmal offen für diesen Diskurs. Man kann es mit einer Schleuse
vergleichen: Wenn die Schleuse sich öffnet und man hineinfährt, macht man sich
Ge-danken darüber, was auf der anderen Seite der Schleuse liegt. Dann möchte man
mit einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger darüber sprechen. Meist sind das
Gespräche, die man mit Angehörigen, egal ob Freunden oder Familie, nicht führen
würde.
Auf gleiche Art und Weise habe ich es auch schon erlebt, dass Menschen, die
sehr gläubig waren, durch eine Krankheit plötzlich ins Zweifeln gerieten. Ich
erinnere mich an einen Herrn, der mich um ein Gespräch bat. Er erzählte mir,
dass er ganz und gar verwurzelt sei im christlichen Glauben, dass er sein Leben
lang aktiv war in der Kirchengemeinde. Er suchte das Gespräch mit mir, weil er
ein Schuldgefühl in sich trug. In der Situation, in der er fast gestorben wäre,
hatte er plötzlich das Gefühl, dass Gott nicht existiert beziehungsweise dass
Gott ihn alleingelassen hat. Dieses Gefühl war so präsent in ihm, dass er mit
mir als Seelsorger darüber sprechen wollte.
Manch einer, der ganz und gar verwurzelt ist im Glauben, kommt also im
Angesicht von Krankheit oder Tod ins Zweifeln. Manchmal sind es anhaltende
Zweifel, manchmal nur Momentaufnahmen wie im eben geschilderten Fall. Für einen
anderen, der nicht an Gott glaubt, ist es jedoch gerade die existenzielle
Situation, die bewirkt, dass er sich plötzlich Gedanken darüber macht (und
vielleicht auch offen dafür ist), was hinter allem steht, was wir Transzendenz
nennen.
Ich glaube, das liegt daran, dass es uns Menschen gar nicht möglich
ist, uns in unserem alltäglichen Leben ständig Gedanken über unsere Existenz zu
machen. Ich glaube, dass wir diese existenziellen Fragen und die damit
verbundenen Gefühle – beispielsweise das Gefühl von existenzieller Isolation
oder, religiös gesagt, von Gottverlassenheit – gar nicht aushalten können und
das alles deshalb oftmals verdrängen. Die meisten Menschen öffnen sich gegenüber
diesen Themen erst in existenziellen Situationen von Krankheit, gerade schwerer
Krankheit, und nahendem Tod. Dann ist so mancher Mensch auch ansprechbar für
Religiöses, weil gerade das Religiöse sich Gedanken um diese existenziellen
Situationen macht.
Wenn mir Patientinnen und Patienten von dem Gefühl der Verlassenheit
berichten, finde ich das Bild am treffendsten, dass es sich für sie so anfühlt,
als würde in ihrem Innersten ihre Seele in die Tiefe stürzen und nicht
aufgefangen werden können. Für manch einen ist es schon ein erster Schritt,
überhaupt darüber zu sprechen – über dieses Gefühl, zu fallen, nicht aufgefangen
zu werden und sich selbst nicht helfen zu können. In dieser Situation ist eine
konkrete Antwort von uns Seelsorgerinnen und Seelsorgern, wie bereits gesagt,
meist nicht das, was der Einzelne braucht. Wichtiger sind häufig das stumme
Da-Sein und das wieder und wieder angebotene Gespräch. So kann der einzelne
Mensch in der Begegnung mit uns erfahren, dass er nicht alleine ist – und das
wirkt manchmal auch wie ein kleiner Fallschirm für die Seele.
Gleichzeitig erlebe ich bei vielen gläubigen Menschen, dass sie gerade dann,
wenn dieses Gefühl des Zweifels in ihnen wächst, nicht allein sind, sondern von
ihrem Glauben aufgefangen werden. Regelmäßig erzählen mir Patientinnen und
Patienten, wie wichtig der Glaube für sie ist, zum Beispiel mit folgen-den
Worten: »Ich würde das alles gar nicht aushalten, wenn ich nicht an Gott glauben
würde.« Vielleicht sind gerade der Glaube, auch der christliche, und damit
verbunden die Zuversicht, dass wir von dem getragen werden, der jeden Weg zu
Ende geht, eine Art Fallschirm, um nicht in diesen freien Fall zu kommen.
Ich habe einmal in der Gruppe einer Ausbildungseinheit, an der ich
teilgenommen habe, gesagt, dass ich bisher in meinem Leben aufgrund meines
Glaubens nie in eine solche Situation der Hoffnungslosigkeit gekommen sei, dass
ich mich nie in meinem Leben ganz und gar allein und von Gott verlassen gefühlt
hätte. Die Kursleiterin antwortete mir darauf: »Vielleicht waren Sie bisher in
Ihrem Leben noch nie in dieser existenziellen Isolation.« Ich habe lange darüber
nachgedacht und bisher noch keine Antwort für mich gefunden. Vielleicht stützt
mich mein Glaube, sodass ich mich in meinen existenziellen Situationen wirklich
getragen fühle. Vielleicht war ich, so wie die Kursleiterin meinte, noch nicht
wirklich in so einer existenziellen Situation. Ich glaube, dass es bei jedem
Menschen unterschiedlich ist: Jeder macht seine ganz eigene Erfahrung davon, was
es heißt, »allein zu sein«, »zu fallen«, »Antworten zu finden« oder »getragen zu
werden«. Die Seelsorge bietet dem einzelnen Menschen an, ihn zu begleiten, ihn
nicht alleinzulassen, damit er im Gespräch vielleicht seine eigenen Antworten
und damit für sich selbst Orientierung finden kann.
Für mich als Seelsorger sind die Gespräche in diesen Momenten das, was
man vielleicht als die »Sternstunden meines Tuns« bezeichnen könnte. Ich
empfinde es so, dass mir mein Gegenüber ganz und gar die eigene Seele öffnet,
sich so zeigt, wie er ist, und dies mit mir teilt, sodass ich im Gegenzug mein
Dasein, meinen Glauben, meine Vorstellung davon, wie ich dem anderen Menschen
zur Seite stehen kann, mit ihm teile. In diesen Sternstunden habe ich das
Gefühl, dass wir uns auf diese Art und Weise wenigstens für einen Moment –
selbst, wenn ich nicht in derselben existenziellen Situation bin – gegenseitig
stützen können.
Ich wurde einmal von einer Ehrenamtlichen in der Ausbildung gefragt, ob das
eigentlich wirkliche Arbeit ist, was wir da machen. Sie machte mir deutlich,
dass sie am Ende ihres Tages im Büro ganz viel Papier neben sich liegen habe und
deshalb sehen könne, was sie alles gearbeitet hat. In der Seelsorge hingegen
würden wir doch nichts tun, als zu reden und zuzuhören. Aber gerade diese
Sternstunden-Erfahrungen machen mir deutlich, dass unser Tun wichtige Arbeit
ist. Dann wird mir klar, wie kostbar es ist, dass wir als Seelsorger den ganzen
Tag Zeit haben, um für die Menschen da zu sein, ihnen zuzuhören, unsere Zeit mit
ihnen zu teilen und auf diese Art und Weise ein Stück ihres Weges mit ihnen
zusammen zu gehen. Am Ende ihrer Ausbildung hat jene Ehrenamtliche übrigens
aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen in der Seelsorgeausbildung deutlich
gemacht, dass Seelsorge ganz und gar eine Arbeit ist, auch wenn man nicht
unmittelbar ein Resultat sehen oder gar bemessen kann.
Autoren von "Glaube und Zweifel im Angesicht des Todes"
27.10.2024 - Glaube und Zweifel im Angesicht des Todes
Was treibt einen Menschen um in den letzten Stunden seines Lebens? Welche "letzten Fragen" stellen sich im Angesicht des Todes? Gibt der Glaube Halt - oder überwiegt im Sterben der Zweifel? Wie gehen Angehörige mit dem Tod ihrer Liebsten um? Matthias Struth berichtet von seinem Wirken als katholischer Seelsorger im Uniklinikum Frankfurt und den Menschen, die er dort Tag für Tag begleitet. Viele von ihnen stehen am Ende ihres Lebens: Sie blicken resümierend zurück oder unsicher nach vorne, wollen letzte Dinge klären oder letzte Antworten finden. Die Situation der Kranken und ihrer Angehörigen, vor der wir in Zeiten der Gesundheit nur zu gerne die Augen verschließen, rückt Struth in den Fokus. Ein Auszug.
In den existenziellen Situationen des Lebens sind viele Menschen offen für das, was unter der Oberfläche liegt. Viele beschäftigt die Frage nach der Transzendenz. Bei manchen Menschen sind es nicht nur vage Gedanken, die ihnen durch den Kopf (und durch das Herz) schießen. Manch einer kommt mit konkreten Fragen auf uns in der Seelsorge zu. Wiederholt habe ich die Erfahrung gemacht, dass auch Menschen, die nicht glauben oder denen der Glauben nicht wichtig ist, in existenziellen Situationen konkrete Fragen an den Glauben stellen. Sie sind dann manchmal offen für diesen Diskurs.
Man kann es mit einer Schleuse vergleichen: Wenn die Schleuse sich öffnet und man hineinfährt, macht man sich Ge-danken darüber, was auf der anderen Seite der Schleuse liegt. Dann möchte man mit einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger darüber sprechen. Meist sind das Gespräche, die man mit Angehörigen, egal ob Freunden oder Familie, nicht führen würde.
Auf gleiche Art und Weise habe ich es auch schon erlebt, dass Menschen, die sehr gläubig waren, durch eine Krankheit plötzlich ins Zweifeln gerieten. Ich erinnere mich an einen Herrn, der mich um ein Gespräch bat. Er erzählte mir, dass er ganz und gar verwurzelt sei im christlichen Glauben, dass er sein Leben lang aktiv war in der Kirchengemeinde. Er suchte das Gespräch mit mir, weil er ein Schuldgefühl in sich trug. In der Situation, in der er fast gestorben wäre, hatte er plötzlich das Gefühl, dass Gott nicht existiert beziehungsweise dass Gott ihn alleingelassen hat. Dieses Gefühl war so präsent in ihm, dass er mit mir als Seelsorger darüber sprechen wollte.
Manch einer, der ganz und gar verwurzelt ist im Glauben, kommt also im Angesicht von Krankheit oder Tod ins Zweifeln. Manchmal sind es anhaltende Zweifel, manchmal nur Momentaufnahmen wie im eben geschilderten Fall. Für einen anderen, der nicht an Gott glaubt, ist es jedoch gerade die existenzielle Situation, die bewirkt, dass er sich plötzlich Gedanken darüber macht (und vielleicht auch offen dafür ist), was hinter allem steht, was wir Transzendenz nennen.
Ich glaube, das liegt daran, dass es uns Menschen gar nicht möglich ist, uns in unserem alltäglichen Leben ständig Gedanken über unsere Existenz zu machen. Ich glaube, dass wir diese existenziellen Fragen und die damit verbundenen Gefühle – beispielsweise das Gefühl von existenzieller Isolation oder, religiös gesagt, von Gottverlassenheit – gar nicht aushalten können und das alles deshalb oftmals verdrängen. Die meisten Menschen öffnen sich gegenüber diesen Themen erst in existenziellen Situationen von Krankheit, gerade schwerer Krankheit, und nahendem Tod. Dann ist so mancher Mensch auch ansprechbar für Religiöses, weil gerade das Religiöse sich Gedanken um diese existenziellen Situationen macht.
Wenn mir Patientinnen und Patienten von dem Gefühl der Verlassenheit berichten, finde ich das Bild am treffendsten, dass es sich für sie so anfühlt, als würde in ihrem Innersten ihre Seele in die Tiefe stürzen und nicht aufgefangen werden können. Für manch einen ist es schon ein erster Schritt, überhaupt darüber zu sprechen – über dieses Gefühl, zu fallen, nicht aufgefangen zu werden und sich selbst nicht helfen zu können. In dieser Situation ist eine konkrete Antwort von uns Seelsorgerinnen und Seelsorgern, wie bereits gesagt, meist nicht das, was der Einzelne braucht. Wichtiger sind häufig das stumme Da-Sein und das wieder und wieder angebotene Gespräch. So kann der einzelne Mensch in der Begegnung mit uns erfahren, dass er nicht alleine ist – und das wirkt manchmal auch wie ein kleiner Fallschirm für die Seele.
Gleichzeitig erlebe ich bei vielen gläubigen Menschen, dass sie gerade dann, wenn dieses Gefühl des Zweifels in ihnen wächst, nicht allein sind, sondern von ihrem Glauben aufgefangen werden. Regelmäßig erzählen mir Patientinnen und Patienten, wie wichtig der Glaube für sie ist, zum Beispiel mit folgen-den Worten: »Ich würde das alles gar nicht aushalten, wenn ich nicht an Gott glauben würde.« Vielleicht sind gerade der Glaube, auch der christliche, und damit verbunden die Zuversicht, dass wir von dem getragen werden, der jeden Weg zu Ende geht, eine Art Fallschirm, um nicht in diesen freien Fall zu kommen.
Ich habe einmal in der Gruppe einer Ausbildungseinheit, an der ich teilgenommen habe, gesagt, dass ich bisher in meinem Leben aufgrund meines Glaubens nie in eine solche Situation der Hoffnungslosigkeit gekommen sei, dass ich mich nie in meinem Leben ganz und gar allein und von Gott verlassen gefühlt hätte. Die Kursleiterin antwortete mir darauf: »Vielleicht waren Sie bisher in Ihrem Leben noch nie in dieser existenziellen Isolation.« Ich habe lange darüber nachgedacht und bisher noch keine Antwort für mich gefunden. Vielleicht stützt mich mein Glaube, sodass ich mich in meinen existenziellen Situationen wirklich getragen fühle. Vielleicht war ich, so wie die Kursleiterin meinte, noch nicht wirklich in so einer existenziellen Situation. Ich glaube, dass es bei jedem Menschen unterschiedlich ist: Jeder macht seine ganz eigene Erfahrung davon, was es heißt, »allein zu sein«, »zu fallen«, »Antworten zu finden« oder »getragen zu werden«. Die Seelsorge bietet dem einzelnen Menschen an, ihn zu begleiten, ihn nicht alleinzulassen, damit er im Gespräch vielleicht seine eigenen Antworten und damit für sich selbst Orientierung finden kann.
Für mich als Seelsorger sind die Gespräche in diesen Momenten das, was man vielleicht als die »Sternstunden meines Tuns« bezeichnen könnte. Ich empfinde es so, dass mir mein Gegenüber ganz und gar die eigene Seele öffnet, sich so zeigt, wie er ist, und dies mit mir teilt, sodass ich im Gegenzug mein Dasein, meinen Glauben, meine Vorstellung davon, wie ich dem anderen Menschen zur Seite stehen kann, mit ihm teile. In diesen Sternstunden habe ich das Gefühl, dass wir uns auf diese Art und Weise wenigstens für einen Moment – selbst, wenn ich nicht in derselben existenziellen Situation bin – gegenseitig stützen können.
Ich wurde einmal von einer Ehrenamtlichen in der Ausbildung gefragt, ob das eigentlich wirkliche Arbeit ist, was wir da machen. Sie machte mir deutlich, dass sie am Ende ihres Tages im Büro ganz viel Papier neben sich liegen habe und deshalb sehen könne, was sie alles gearbeitet hat. In der Seelsorge hingegen würden wir doch nichts tun, als zu reden und zuzuhören. Aber gerade diese Sternstunden-Erfahrungen machen mir deutlich, dass unser Tun wichtige Arbeit ist. Dann wird mir klar, wie kostbar es ist, dass wir als Seelsorger den ganzen Tag Zeit haben, um für die Menschen da zu sein, ihnen zuzuhören, unsere Zeit mit ihnen zu teilen und auf diese Art und Weise ein Stück ihres Weges mit ihnen zusammen zu gehen. Am Ende ihrer Ausbildung hat jene Ehrenamtliche übrigens aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen in der Seelsorgeausbildung deutlich gemacht, dass Seelsorge ganz und gar eine Arbeit ist, auch wenn man nicht unmittelbar ein Resultat sehen oder gar bemessen kann.
Autoren von "Glaube und Zweifel im Angesicht des Todes"
Bücher von Matthias Struth