20.10.2024 - Für ein Ende des Zermürbungskrieges in der Ukraine
Jeffrey Sachs:
Der weltbekannte Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs gewann als
wirtschaftlicher Berater der postsowjetischen Regierungen in Polen und Russland
sowie durch seine Tätigkeit als Sonderberater des Generalsekretärs der UN tiefe
Einblicke in die Hintergründe der aktuellen geopolitischen Krise. In seinem Buch
„Diplomatie oder Desaster“ zeigt er auf, wie dreißig Jahre aggressive
NATO-Osterweiterung und gebrochene Versprechen seitens der USA dazu beigetragen
haben, diesem Konflikt den Weg zu bereiten. Die Situation ist nach wie vor
brandgefährlich und die Führer auf beiden Seiten der Front bringen uns mit jeder
Eskalation näher an den Rand einer Katastrophe. Doch es besteht nach wie vor
auch Grund zur Hoffnung: Wie Jeffrey Sachs aufzeigt, sind die Grundlagen für
eine diplomatische Lösung nach wie vor gegeben, und die Ära des Kalten Krieges
hat gezeigt, dass dies die einzige Lösung ist, um das Allerschlimmste zu
verhindern – das gilt heute vielleicht mehr denn je.
Mai 2022. Kriege brechen oft aus und dauern an, weil sich beide Seiten
hinsichtlich ihrer relativen Macht verrechnet haben. Im Falle der Ukraine hat
Russland einen schweren Fehler begangen, indem es die Entschlossenheit der
Ukrainer zum Kampf und die Wirksamkeit der von der NATO gelieferten Waffen
unterschätzt hat. Doch auch die Ukraine und die NATO überschätzen ihre
Fähigkeit, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Das Ergebnis ist ein
Zermürbungskrieg, von dem jede Seite glaubt, dass sie ihn gewinnen wird, den
aber beide Seiten verlieren werden. Die Ukraine sollte sich verstärkt um einen
Verhandlungsfrieden bemühen, wie er Ende März 2022 zur Debatte stand, den sie
dann aber nach den Beweisen für russische Gräueltaten in Butscha – und
vielleicht auch aufgrund der veränderten Wahrnehmung ihrer militärischen
Aussichten – aufgegeben hat.
In den Ende März diskutierten Friedensbedingungen wurde die Neutralität der
Ukraine gefordert, die durch Sicherheitsgarantien und einen Zeitplan für die
Lösung strittiger Fragen wie den Status der Krim und des Donbass unterstützt
werden sollte. Die russischen und ukrainischen Unterhändler er-klärten, dass es
Fortschritte bei den Verhandlungen gebe, ebenso wie die türkischen Vermittler.
Nach den Berichten aus Butscha brachen die Verhandlungen ab, und der ukrainische
Verhandlungsführer erklärte: »Die ukrainische Gesellschaft steht jetzt jedem
Verhandlungskonzept, das die Russische Föderation betrifft, sehr viel negativer
gegenüber.«
Doch die Dringlichkeit von Verhandlungen ist nach wie vor überwältigend. Die
Alternative ist nicht der Sieg der Ukraine, sondern ein verheerender
Zermürbungskrieg. Um eine Einigung zu erzielen, müssen beide Seiten ihre
Erwartungen neu justieren.
Als Russland die Ukraine angriff, rechnete es eindeutig mit einem schnellen
und ungehinderten Sieg. Russland hat die Aufrüstung des ukrainischen Militärs –
nach jahrelanger militärischer Unterstützung und Ausbildung durch die USA,
Großbritannien und andere Länder seit 2014 – erheblich unterschätzt. Darüber
hinaus hat Russland fehlinterpretiert, inwieweit die Militärtechnologie der NATO
der größeren Anzahl russischer Truppen gewachsen ist. Der größte Fehler
Russlands war zweifellos die Annahme, dass die Ukrainer nicht kämpfen – oder
vielleicht sogar die Seiten wechseln – würden.
Doch nun überschätzen die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer die
Chancen, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Die Vorstellung, dass die
russische Armee kurz vor dem Zusammenbruch steht, ist reines Wunschdenken.
Russland ist militärisch in der Lage, die ukrainische Infrastruktur zu zerstören
(beispielsweise durch Angriffe auf die Eisenbahnlinien) und Gebiete in der
Donbass-Region und an der Schwarzmeerküste zu erobern und zu halten. Die
Ukrainer kämpfen entschlossen, aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie
eine russische Niederlage erzwingen können.
Das gilt auch für die westlichen Finanzsanktionen, die weit weniger
weitreichend und wirksam sind, als die Regierungen, die sie verhängt haben,
zugeben. Die US-Sanktionen gegen Venezuela, Iran, Nordkorea und andere haben die
Politik dieser Regime nicht verändert, und die Sanktionen gegen Russland bleiben
schon jetzt weit hinter der Euphorie zurück, mit der sie eingeführt wurden. Auch
der Ausschluss russischer Banken aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem
SWIFT war nicht die »nukleare Option«, die viele heraufbeschworen. Nach An-gaben
des Internationalen Währungsfonds wird die russische Wirtschaft im Jahr 2022 um
etwa 8,5 Prozent schrumpfen – das ist schlimm, aber nicht katastrophal.
Außerdem haben die Sanktionen schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für die
Vereinigten Staaten und insbesondere für Europa. Die Inflation in den USA ist so
hoch wie seit vierzig Jahren nicht mehr und wird aufgrund der von der Federal
Reserve in den letzten Jahren geschaffenen Liquidität in Höhe von Billionen von
Dollar wahrscheinlich weiter anhalten. Gleichzeitig stagniert die Wirtschaft in
den USA und in Europa, vielleicht schrumpft sie in Zukunft sogar, da es immer
häufiger zu Unterbrechungen der Versorgungskette kommt.
Die innenpolitische Position von US-Präsident Joe Biden ist schwach und wird
wahrscheinlich weiter geschwächt, wenn die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in
den kommenden Monaten zunehmen. Auch die öffentliche Unterstützung für den Krieg
wird mit der Verschlechterung der Wirtschaftslage wahrscheinlich abnehmen. Die
republikanische Partei ist bezüglich des Krieges gespalten, wobei die
Trump-Fraktion kein großes Interesse an einer Konfrontation mit Russland in der
Ukraine hat. Auch bei den Demokraten steigt der Unmut über die Stagflation, die
die Partei bei den Zwischenwahlen im November wahrscheinlich ihre Mehrheit in
Kongress oder Senat kosten wird (diese Vorhersage bewahrheitete sich, da die
Demokraten das Repräsentantenhaus verloren, aber eine knappe Mehrheit im Senat
behalten konnten, Anm. d. Übers.).
Die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges und der Sanktionen
werden auch in zahllosen Entwicklungsländern, die von Nahrungsmittel- und
Energieimporten abhängig sind, verheerende Ausmaße annehmen. Die
wirtschaftlichen Verwerfungen in diesen Ländern werden weltweit zu dringenden
Forderungen nach einem Ende des Krieges und der Sanktionen führen.
Gleichzeitig leidet die Ukraine weiterhin schwer unter der Zahl der Toten,
der Vertreibung und der Zerstörung. Der IWF prognostiziert für 2022 eine
Schrumpfung der ukrainischen Wirtschaft um 35 Prozent, was auf die brutale
Zerstörung von Wohnungen, Fabriken, Schienenfahrzeugen, Energiespeicher und
Umspannwerken und anderer lebenswichtiger Infrastruktur zurückzuführen ist.
Am gefährlichsten ist jedoch, dass, solange der Krieg andauert, die Gefahr
einer nuklearen Eskalation besteht. Sollten Russlands konventionelle
Streitkräfte tatsächlich zur Niederlage gedrängt werden, wie es die USA momentan
anstreben, könnte Russland durchaus mit taktischen Atomwaffen kontern. Ein
amerikanisches oder russisches Flugzeug könnte von der jeweils anderen Seite
beim Überfliegen des Schwarzen Meeres abgeschossen werden, was zu einem direkten
militärischen Konflikt führen könnte. Medienberichte, wonach die USA verdeckte
Streitkräfte vor Ort haben, und die Enthüllungen der US-Geheimdienste, dass sie
der Ukraine geholfen haben, russische Generäle zu töten und das russische
Flaggschiff im Schwarzen Meer zu versenken, verdeutlichen diese Gefahr.
Es ist immer noch möglich, in der Ukraine Frieden zu schaffen, und zwar auf
der Grundlage der Parameter, die bereits Ende März 2022 diskutiert wurden:
Neutralität, Sicherheitsgarantien, ein Rahmen für den Umgang mit der Krim und
dem Donbass und der Rückzug Russlands. Dies bleibt der einzige realistische und
sichere Weg. Die Welt würde sich einer solchen Vereinbarung anschließen, und die
Ukraine sollte dies im Interesse ihres eigenen Überlebens und Wohlergehens auch
tun.
Autoren von "Für ein Ende des Zermürbungskrieges in der Ukraine"
20.10.2024 - Für ein Ende des Zermürbungskrieges in der Ukraine
Der weltbekannte Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs gewann als wirtschaftlicher Berater der postsowjetischen Regierungen in Polen und Russland sowie durch seine Tätigkeit als Sonderberater des Generalsekretärs der UN tiefe Einblicke in die Hintergründe der aktuellen geopolitischen Krise. In seinem Buch „Diplomatie oder Desaster“ zeigt er auf, wie dreißig Jahre aggressive NATO-Osterweiterung und gebrochene Versprechen seitens der USA dazu beigetragen haben, diesem Konflikt den Weg zu bereiten. Die Situation ist nach wie vor brandgefährlich und die Führer auf beiden Seiten der Front bringen uns mit jeder Eskalation näher an den Rand einer Katastrophe. Doch es besteht nach wie vor auch Grund zur Hoffnung: Wie Jeffrey Sachs aufzeigt, sind die Grundlagen für eine diplomatische Lösung nach wie vor gegeben, und die Ära des Kalten Krieges hat gezeigt, dass dies die einzige Lösung ist, um das Allerschlimmste zu verhindern – das gilt heute vielleicht mehr denn je.
Mai 2022. Kriege brechen oft aus und dauern an, weil sich beide Seiten hinsichtlich ihrer relativen Macht verrechnet haben. Im Falle der Ukraine hat Russland einen schweren Fehler begangen, indem es die Entschlossenheit der Ukrainer zum Kampf und die Wirksamkeit der von der NATO gelieferten Waffen unterschätzt hat. Doch auch die Ukraine und die NATO überschätzen ihre Fähigkeit, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Das Ergebnis ist ein Zermürbungskrieg, von dem jede Seite glaubt, dass sie ihn gewinnen wird, den aber beide Seiten verlieren werden. Die Ukraine sollte sich verstärkt um einen Verhandlungsfrieden bemühen, wie er Ende März 2022 zur Debatte stand, den sie dann aber nach den Beweisen für russische Gräueltaten in Butscha – und vielleicht auch aufgrund der veränderten Wahrnehmung ihrer militärischen Aussichten – aufgegeben hat.
In den Ende März diskutierten Friedensbedingungen wurde die Neutralität der Ukraine gefordert, die durch Sicherheitsgarantien und einen Zeitplan für die Lösung strittiger Fragen wie den Status der Krim und des Donbass unterstützt werden sollte. Die russischen und ukrainischen Unterhändler er-klärten, dass es Fortschritte bei den Verhandlungen gebe, ebenso wie die türkischen Vermittler. Nach den Berichten aus Butscha brachen die Verhandlungen ab, und der ukrainische Verhandlungsführer erklärte: »Die ukrainische Gesellschaft steht jetzt jedem Verhandlungskonzept, das die Russische Föderation betrifft, sehr viel negativer gegenüber.«
Doch die Dringlichkeit von Verhandlungen ist nach wie vor überwältigend. Die Alternative ist nicht der Sieg der Ukraine, sondern ein verheerender Zermürbungskrieg. Um eine Einigung zu erzielen, müssen beide Seiten ihre Erwartungen neu justieren.
Als Russland die Ukraine angriff, rechnete es eindeutig mit einem schnellen und ungehinderten Sieg. Russland hat die Aufrüstung des ukrainischen Militärs – nach jahrelanger militärischer Unterstützung und Ausbildung durch die USA, Großbritannien und andere Länder seit 2014 – erheblich unterschätzt. Darüber hinaus hat Russland fehlinterpretiert, inwieweit die Militärtechnologie der NATO der größeren Anzahl russischer Truppen gewachsen ist. Der größte Fehler Russlands war zweifellos die Annahme, dass die Ukrainer nicht kämpfen – oder vielleicht sogar die Seiten wechseln – würden.
Doch nun überschätzen die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer die Chancen, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Die Vorstellung, dass die russische Armee kurz vor dem Zusammenbruch steht, ist reines Wunschdenken. Russland ist militärisch in der Lage, die ukrainische Infrastruktur zu zerstören (beispielsweise durch Angriffe auf die Eisenbahnlinien) und Gebiete in der Donbass-Region und an der Schwarzmeerküste zu erobern und zu halten. Die Ukrainer kämpfen entschlossen, aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie eine russische Niederlage erzwingen können.
Das gilt auch für die westlichen Finanzsanktionen, die weit weniger weitreichend und wirksam sind, als die Regierungen, die sie verhängt haben, zugeben. Die US-Sanktionen gegen Venezuela, Iran, Nordkorea und andere haben die Politik dieser Regime nicht verändert, und die Sanktionen gegen Russland bleiben schon jetzt weit hinter der Euphorie zurück, mit der sie eingeführt wurden. Auch der Ausschluss russischer Banken aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT war nicht die »nukleare Option«, die viele heraufbeschworen. Nach An-gaben des Internationalen Währungsfonds wird die russische Wirtschaft im Jahr 2022 um etwa 8,5 Prozent schrumpfen – das ist schlimm, aber nicht katastrophal.
Außerdem haben die Sanktionen schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für die Vereinigten Staaten und insbesondere für Europa. Die Inflation in den USA ist so hoch wie seit vierzig Jahren nicht mehr und wird aufgrund der von der Federal Reserve in den letzten Jahren geschaffenen Liquidität in Höhe von Billionen von Dollar wahrscheinlich weiter anhalten. Gleichzeitig stagniert die Wirtschaft in den USA und in Europa, vielleicht schrumpft sie in Zukunft sogar, da es immer häufiger zu Unterbrechungen der Versorgungskette kommt.
Die innenpolitische Position von US-Präsident Joe Biden ist schwach und wird wahrscheinlich weiter geschwächt, wenn die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den kommenden Monaten zunehmen. Auch die öffentliche Unterstützung für den Krieg wird mit der Verschlechterung der Wirtschaftslage wahrscheinlich abnehmen. Die republikanische Partei ist bezüglich des Krieges gespalten, wobei die Trump-Fraktion kein großes Interesse an einer Konfrontation mit Russland in der Ukraine hat. Auch bei den Demokraten steigt der Unmut über die Stagflation, die die Partei bei den Zwischenwahlen im November wahrscheinlich ihre Mehrheit in Kongress oder Senat kosten wird (diese Vorhersage bewahrheitete sich, da die Demokraten das Repräsentantenhaus verloren, aber eine knappe Mehrheit im Senat behalten konnten, Anm. d. Übers.).
Die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges und der Sanktionen werden auch in zahllosen Entwicklungsländern, die von Nahrungsmittel- und Energieimporten abhängig sind, verheerende Ausmaße annehmen. Die wirtschaftlichen Verwerfungen in diesen Ländern werden weltweit zu dringenden Forderungen nach einem Ende des Krieges und der Sanktionen führen.
Gleichzeitig leidet die Ukraine weiterhin schwer unter der Zahl der Toten, der Vertreibung und der Zerstörung. Der IWF prognostiziert für 2022 eine Schrumpfung der ukrainischen Wirtschaft um 35 Prozent, was auf die brutale Zerstörung von Wohnungen, Fabriken, Schienenfahrzeugen, Energiespeicher und Umspannwerken und anderer lebenswichtiger Infrastruktur zurückzuführen ist.
Am gefährlichsten ist jedoch, dass, solange der Krieg andauert, die Gefahr einer nuklearen Eskalation besteht. Sollten Russlands konventionelle Streitkräfte tatsächlich zur Niederlage gedrängt werden, wie es die USA momentan anstreben, könnte Russland durchaus mit taktischen Atomwaffen kontern. Ein amerikanisches oder russisches Flugzeug könnte von der jeweils anderen Seite beim Überfliegen des Schwarzen Meeres abgeschossen werden, was zu einem direkten militärischen Konflikt führen könnte. Medienberichte, wonach die USA verdeckte Streitkräfte vor Ort haben, und die Enthüllungen der US-Geheimdienste, dass sie der Ukraine geholfen haben, russische Generäle zu töten und das russische Flaggschiff im Schwarzen Meer zu versenken, verdeutlichen diese Gefahr.
Es ist immer noch möglich, in der Ukraine Frieden zu schaffen, und zwar auf der Grundlage der Parameter, die bereits Ende März 2022 diskutiert wurden: Neutralität, Sicherheitsgarantien, ein Rahmen für den Umgang mit der Krim und dem Donbass und der Rückzug Russlands. Dies bleibt der einzige realistische und sichere Weg. Die Welt würde sich einer solchen Vereinbarung anschließen, und die Ukraine sollte dies im Interesse ihres eigenen Überlebens und Wohlergehens auch tun.
Autoren von "Für ein Ende des Zermürbungskrieges in der Ukraine"
Bücher von Jeffrey Sachs