Der französische Historiker Emmanuel Todd sagte bereits 1976 das Ende der
Sowjetunion voraus. In seinem neuen Buch „Der Westen im Niedergang“ wagt er
wieder den Blick in die Zukunft: Er prognostiziert den endgültigen Niedergang
der westlichen Welt. Im Kern verrottet, aber nach außen expandierend steht der
Westen einem Russland gegenüber, das sich stabilisiert hat und nunmehr
konservativ und damit beruhigend auf solche Länder der restlichen Welt wirkt,
die den USA und ihren Verbündeten nicht in ihre Kriege folgen wollen. Deren
Niederlage in der Ukraine ist bereits nahezu Fakt, sagt Todd. Schlussendlich ist
es deshalb unvermeidlich, dass es zu einem Einfrieren des Konfliktes zwischen
der Europäischen Union und Russland kommt. Ein Auszug.
Zwischen Januar und Juni des Jahres 2023 deckte eine Flut von Studien auf,
dass die Vereinigten Staaten nicht in der Lage waren, die Waffen zu produzieren,
die die Ukraine brauchte. Diese Studien stammten nicht von kremlnahen
Gruppierungen, sondern von verschiedenen Think Tanks, die vom Pentagon und dem
US-Außenministerium finanziert wurden. Wie war die größte Weltmacht in eine so
absurde Situation geraten? In diesem Kapitel werden wir uns der Realität der
amerikanischen Wirtschaft zu-wenden und dabei die Luft aus einem der zwei
größten »BIPs« (Bruttoinlandprodukte) der Welt lassen (das andere ist das
chinesische), um sie auf etwas Sinnvolles zurückzuführen. Warum sagen wir nicht
»WIP«, (Wahres Inlandprodukt)? Wir werden die Abhängigkeit der Vereinigten
Staaten vom Rest der Welt kennenlernen und ihre fundamentale Zerbrechlichkeit.
Bevor wir uns dieser radikalen Kritik widmen, rufen wir uns der
Ausgewogenheit halber jedoch einige unbestreitbare Stärken der besagten
Wirtschaft in Erinnerung. Es ist nicht zu leugnen, dass die wichtigsten
Innovationen der letzten Jahre aus dem Silicon Valley gekommen sind, dessen
Fortschritt in der Kommunikations- und Informationstechnologie den Einfluss der
USA erheblich gestärkt hat, den sie, wenn nicht auf die ganze Welt, so zumindest
auf ihre Verbündeten ausüben. Ebenso in den letzten Jahren erlebten wir ihren
großen Aufschwung als Öl- und vor allem Gasproduzenten. Von 4 Millionen Barrel
pro Tag im Jahr 1940 stieg die amerikanische Ölproduktion 1970 auf 9,6 und fiel
dann bis 2008 auf nur noch 5 Millionen Barrel. 2019, also kurz vor dem Krieg,
erreichte sie dank der Fracking-Technik 12,2 Millionen Barrel. Zwar wurden die
Vereinigten Staaten kein maßgeblicher Ölexporteur, aber sie waren nun auch kein
Nettoimporteur mehr. Die Gasproduktion unterdessen stieg von 489 Milliarden
Kubikmetern pro Jahr in 2005 auf 934 Milliarden im Jahr 2021. Im Bereich Gas
sind die Vereinigten Staaten nun weltweit der zweitgrößte Exporteur, nach
Russland. Dank des Krieges sind sie der weltweit größte Exporteur von
verflüssigtem Erdgas geworden, das sie insbesondere an ihre europäischen
Verbündeten liefern können, die von der russischen Gasversorgung brutal
abgeschnitten wurden. Der Energiesektor hat eine der großen Eigenartigkeiten des
Krieges zum Vorschein gebracht: Man fragt sich in einem fort, ob es den
Amerikanern darum geht, die Ukraine zu verteidigen oder ihre europäischen und
ostasiatischen Alliierten zu kontrollieren und auszubeuten.
Die Stärken der amerikanischen Wirtschaft – Big Tech und Gas, Silicon Valley
und Texas – befinden sich an zwei Enden des Spektrums menschlicher Tätigkeiten:
Die Zeilen von Computercodes tendieren zur Abstraktion, Energie ist ein
Rohstoff. Den Rest des Spektrums füllen die Problemfelder der amerikanischen
Wirtschaft: die Herstellung von Gegenständen nämlich, also Industrie im
traditionellen Sinn des Wortes. Dies ist ein wirtschaftlicher Mangel, der im
Krieg durch die sehr banale Unfähigkeit aufgedeckt wurde, genügend 155
mm-Artilleriemunition herzustellen, den NATO-Standard. Nach und nach wird jedoch
klar, dass nichts mehr in ausreichender Menge produziert werden kann,
einschließlich Raketen aller Art. Der Krieg, dieser große Augenöffner, zeigt
uns die Kluft, die zwischen unserer Wahrnehmung der USA (und ihrer
Selbstwahrnehmung) und ihrer eigentlichen Stärke liegt. Im Jahr 2022 betrug das
russische BIP 8.8 Prozent des amerikanischen BIPs (und zusammen mit dem
belarussischen 3,3 Prozent des gesamtwestlichen BIP). Wie konnte es dazu kommen,
dass die USA trotz dieses Ungleichgewichts zu ihren Gunsten nicht mehr in der
Lage waren, genügend Granaten für die Ukraine herzustellen?
Die Globalisierung, die von den Amerikanern selbst orchestriert wurde,
untergräbt ihre industrielle Hegemonie. Im Jahr 1928 machte die
Industrieproduktion aus den USA 44,8 Prozent der weltweiten Produktion aus; bis
2019 war sie auf 16,8 Prozent gesunken. Im selben Zeitraum brach die britische
Industrieproduktion von 9,3 Prozent auf 1,8 Prozent ein, die japanische stieg
von 2,4 Prozent auf 7,8 Prozent, die deutsche ging von 11,6 Prozent auf 5,3
Prozent zurück, die französische sank von 7 Prozent auf 1,9 Prozent und die
italienische von 3,2 Prozent auf 2,1 Prozent. China erreichte im Jahr 2020 28,7
Prozent. Russland, dessen Industrieproduktion auf dem fünfzehnten Platz
rangiert, bewegt sich bei 1 Prozent.
Die Seltenheit vergleichender Statistiken über Russland scheint vor allem
darauf hinzudeuten, dass die russische Industrie etwas erreicht hat, das bereits
einige amerikanische Flugzeuge versucht haben, die Tarnkappenfunktion; damit
ließe sich sagen, dass Russland die USA kalt erwischt hat, indem es die
ultimative Waffe gegen sie entwickelt hat: die Tarnkappenindustrie.
Um die »physischen« Machtverhältnisse in der globalisierten Welt noch besser
einschätzen zu können, können wir eine Industrie in der Industrie untersuchen,
und zwar die Produktion von Werksmaschinenteilen. Im Jahr 2018 stellte China
24,8 Prozent der weltweiten Werkzeugmaschinenteile her, die deutschsprachige
Welt 21,1 Prozent (Deutschland, Österreich und die Schweiz, wo-bei der Großteil
der Schweizer Industrie an deutschen Grenzen liegt), Japan 15,6 Prozent, Italien
7,8 Prozent, die USA nur 6,6 Prozent, Südkorea 5,6 Prozent, Taiwan 5,0 Prozent,
Indien 1,4 Prozent, Brasilien 1,1 Prozent, Frankreich 0,9 Prozent, das
Vereinigte Königreich 0,8 Prozent. Ich verzichte darauf, Russland in den
Statistiken ausfindig zu machen; es erreicht hier eine Unsichtbarkeit, die das
Schlimmste befürchten lässt.
Die Abnahme der amerikanischen Produktion von Verbrauchsgütern spiegelt sich
auch in der Landwirtschaft. Nach der Einführung des nordamerikanischen
Freihandelsabkommens mit Mexiko und Kanada (NAFTA) haben die USA einen Prozess
der Konzentration, Spezialisierung und des Dahinsiechens durchlaufen. Während
die Weizenproduktion in Russland von 37 Millionen Tonnen im Jahr 2012 auf 80
Millionen Tonnen im Jahr 2022 gestiegen war, fiel sie in den Vereinigten Staaten
von 65 Millionen Tonnen im Jahr 1980 auf 47 Millionen in 2022. Allgemeiner
ausgedrückt: Während Amerika früher ein riesiger (Netto-)Exporteur von
Agrargütern war, ist es jetzt gerade ausgeglichen und nähert sich dem Defizit.
Man kann sich ausrechnen, dass das Land mit einer weiterwachsenden Bevölkerung
in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren deutlich defizitär werden wird.
13.10.2024 - Todd, Der Westen im Niedergang
Der französische Historiker Emmanuel Todd sagte bereits 1976 das Ende der Sowjetunion voraus. In seinem neuen Buch „Der Westen im Niedergang“ wagt er wieder den Blick in die Zukunft: Er prognostiziert den endgültigen Niedergang der westlichen Welt. Im Kern verrottet, aber nach außen expandierend steht der Westen einem Russland gegenüber, das sich stabilisiert hat und nunmehr konservativ und damit beruhigend auf solche Länder der restlichen Welt wirkt, die den USA und ihren Verbündeten nicht in ihre Kriege folgen wollen. Deren Niederlage in der Ukraine ist bereits nahezu Fakt, sagt Todd. Schlussendlich ist es deshalb unvermeidlich, dass es zu einem Einfrieren des Konfliktes zwischen der Europäischen Union und Russland kommt. Ein Auszug.
Zwischen Januar und Juni des Jahres 2023 deckte eine Flut von Studien auf, dass die Vereinigten Staaten nicht in der Lage waren, die Waffen zu produzieren, die die Ukraine brauchte. Diese Studien stammten nicht von kremlnahen Gruppierungen, sondern von verschiedenen Think Tanks, die vom Pentagon und dem US-Außenministerium finanziert wurden. Wie war die größte Weltmacht in eine so absurde Situation geraten? In diesem Kapitel werden wir uns der Realität der amerikanischen Wirtschaft zu-wenden und dabei die Luft aus einem der zwei größten »BIPs« (Bruttoinlandprodukte) der Welt lassen (das andere ist das chinesische), um sie auf etwas Sinnvolles zurückzuführen. Warum sagen wir nicht »WIP«, (Wahres Inlandprodukt)? Wir werden die Abhängigkeit der Vereinigten Staaten vom Rest der Welt kennenlernen und ihre fundamentale Zerbrechlichkeit.
Bevor wir uns dieser radikalen Kritik widmen, rufen wir uns der Ausgewogenheit halber jedoch einige unbestreitbare Stärken der besagten Wirtschaft in Erinnerung. Es ist nicht zu leugnen, dass die wichtigsten Innovationen der letzten Jahre aus dem Silicon Valley gekommen sind, dessen Fortschritt in der Kommunikations- und Informationstechnologie den Einfluss der USA erheblich gestärkt hat, den sie, wenn nicht auf die ganze Welt, so zumindest auf ihre Verbündeten ausüben. Ebenso in den letzten Jahren erlebten wir ihren großen Aufschwung als Öl- und vor allem Gasproduzenten. Von 4 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 1940 stieg die amerikanische Ölproduktion 1970 auf 9,6 und fiel dann bis 2008 auf nur noch 5 Millionen Barrel. 2019, also kurz vor dem Krieg, erreichte sie dank der Fracking-Technik 12,2 Millionen Barrel. Zwar wurden die Vereinigten Staaten kein maßgeblicher Ölexporteur, aber sie waren nun auch kein Nettoimporteur mehr. Die Gasproduktion unterdessen stieg von 489 Milliarden Kubikmetern pro Jahr in 2005 auf 934 Milliarden im Jahr 2021. Im Bereich Gas sind die Vereinigten Staaten nun weltweit der zweitgrößte Exporteur, nach Russland. Dank des Krieges sind sie der weltweit größte Exporteur von verflüssigtem Erdgas geworden, das sie insbesondere an ihre europäischen Verbündeten liefern können, die von der russischen Gasversorgung brutal abgeschnitten wurden. Der Energiesektor hat eine der großen Eigenartigkeiten des Krieges zum Vorschein gebracht: Man fragt sich in einem fort, ob es den Amerikanern darum geht, die Ukraine zu verteidigen oder ihre europäischen und ostasiatischen Alliierten zu kontrollieren und auszubeuten.
Die Stärken der amerikanischen Wirtschaft – Big Tech und Gas, Silicon Valley und Texas – befinden sich an zwei Enden des Spektrums menschlicher Tätigkeiten: Die Zeilen von Computercodes tendieren zur Abstraktion, Energie ist ein Rohstoff. Den Rest des Spektrums füllen die Problemfelder der amerikanischen Wirtschaft: die Herstellung von Gegenständen nämlich, also Industrie im traditionellen Sinn des Wortes. Dies ist ein wirtschaftlicher Mangel, der im Krieg durch die sehr banale Unfähigkeit aufgedeckt wurde, genügend 155 mm-Artilleriemunition herzustellen, den NATO-Standard. Nach und nach wird jedoch klar, dass nichts mehr in ausreichender Menge produziert werden kann, einschließlich Raketen aller Art.
Der Krieg, dieser große Augenöffner, zeigt uns die Kluft, die zwischen unserer Wahrnehmung der USA (und ihrer Selbstwahrnehmung) und ihrer eigentlichen Stärke liegt. Im Jahr 2022 betrug das russische BIP 8.8 Prozent des amerikanischen BIPs (und zusammen mit dem belarussischen 3,3 Prozent des gesamtwestlichen BIP). Wie konnte es dazu kommen, dass die USA trotz dieses Ungleichgewichts zu ihren Gunsten nicht mehr in der Lage waren, genügend Granaten für die Ukraine herzustellen?
Die Globalisierung, die von den Amerikanern selbst orchestriert wurde, untergräbt ihre industrielle Hegemonie. Im Jahr 1928 machte die Industrieproduktion aus den USA 44,8 Prozent der weltweiten Produktion aus; bis 2019 war sie auf 16,8 Prozent gesunken. Im selben Zeitraum brach die britische Industrieproduktion von 9,3 Prozent auf 1,8 Prozent ein, die japanische stieg von 2,4 Prozent auf 7,8 Prozent, die deutsche ging von 11,6 Prozent auf 5,3 Prozent zurück, die französische sank von 7 Prozent auf 1,9 Prozent und die italienische von 3,2 Prozent auf 2,1 Prozent. China erreichte im Jahr 2020 28,7 Prozent. Russland, dessen Industrieproduktion auf dem fünfzehnten Platz rangiert, bewegt sich bei 1 Prozent.
Die Seltenheit vergleichender Statistiken über Russland scheint vor allem darauf hinzudeuten, dass die russische Industrie etwas erreicht hat, das bereits einige amerikanische Flugzeuge versucht haben, die Tarnkappenfunktion; damit ließe sich sagen, dass Russland die USA kalt erwischt hat, indem es die ultimative Waffe gegen sie entwickelt hat: die Tarnkappenindustrie.
Um die »physischen« Machtverhältnisse in der globalisierten Welt noch besser einschätzen zu können, können wir eine Industrie in der Industrie untersuchen, und zwar die Produktion von Werksmaschinenteilen. Im Jahr 2018 stellte China 24,8 Prozent der weltweiten Werkzeugmaschinenteile her, die deutschsprachige Welt 21,1 Prozent (Deutschland, Österreich und die Schweiz, wo-bei der Großteil der Schweizer Industrie an deutschen Grenzen liegt), Japan 15,6 Prozent, Italien 7,8 Prozent, die USA nur 6,6 Prozent, Südkorea 5,6 Prozent, Taiwan 5,0 Prozent, Indien 1,4 Prozent, Brasilien 1,1 Prozent, Frankreich 0,9 Prozent, das Vereinigte Königreich 0,8 Prozent. Ich verzichte darauf, Russland in den Statistiken ausfindig zu machen; es erreicht hier eine Unsichtbarkeit, die das Schlimmste befürchten lässt.
Die Abnahme der amerikanischen Produktion von Verbrauchsgütern spiegelt sich auch in der Landwirtschaft. Nach der Einführung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens mit Mexiko und Kanada (NAFTA) haben die USA einen Prozess der Konzentration, Spezialisierung und des Dahinsiechens durchlaufen. Während die Weizenproduktion in Russland von 37 Millionen Tonnen im Jahr 2012 auf 80 Millionen Tonnen im Jahr 2022 gestiegen war, fiel sie in den Vereinigten Staaten von 65 Millionen Tonnen im Jahr 1980 auf 47 Millionen in 2022. Allgemeiner ausgedrückt: Während Amerika früher ein riesiger (Netto-)Exporteur von Agrargütern war, ist es jetzt gerade ausgeglichen und nähert sich dem Defizit. Man kann sich ausrechnen, dass das Land mit einer weiterwachsenden Bevölkerung in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren deutlich defizitär werden wird.
Autoren von "Todd, Der Westen im Niedergang"
Bücher von Emmanuel Todd