08.09.2024 - Die Besetzung einer Villa in Frankfurt
Wolf Wetzel:
Wolf Wetzel hat seine Autobiographie geschrieben und sein rebellisches
Leben in drei Hälften geteilt. In der ersten Hälfte lebt man fast nur das Leben
der Anderen - das der Eltern, der Lehrer, der Erwachsenen: der Übermächtigen.
Die zweite Hälfte ist dann das Gegen-Leben, ein Kampf gegen das, was bereits in
einem ist und was jetzt von außen dazukommen will. Die dritte Hälfte ist der
Versuch, endlich zu sich selbst zu finden, sich freizumachen und über die ersten
beiden Hälften hinauszuwachsen. In einem schonungslosen Parforceritt lässt ein
Autonomer der ersten Stunde sein Leben vorüberziehen, ein Leben voller
emotionaler und politischer Grenzgänge, das in noch unausgeleuchtete Zonen
deutscher Geschichte führt. Ein Auszug.
1978 rief die NPD dazu auf,
Frankfurt zurückzuerobern. Ihre Demonstration sollte vom Frankfurter Rathaus,
dem »Römer«, losgehen. Nachdem dies klar war, entschloss man sich, den Platz zu
besetzen, um den Neonazis bereits den Auftakt zu vermiesen. Es waren circa
10.000 Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in den Morgenstunden den
Rathausplatz, den »Römer«, besetzt hielten, als die Polizei den Befehl gab,
diesen zu räumen.
Wasserwerfer und Hundertschaften wurden in Marsch gesetzt. Es gelang zwar,
den Platz vor dem Frankfurter Rathaus zu räumen, doch die Auseinandersetzungen
verlagerten sich daraufhin in die gesamte Innenstadt. Überall wurden Barrikaden
errichtet und immer wieder gelang es, diese gegen die heranrückende Polizei zu
verteidigen. Eine ziemlich euphorische Stimmung machte sich breit, denn es war
nun einmal nicht alltäglich, Hundertschaften für einige Zeit zum Rückzug zu
bewegen. Hinzu kam die Meldung, dass die Polizeiführung aufgrund der
unübersichtlichen Lage den Neonaziaufmarsch kurzfristig verlegt hatte, um eine
weitere Eskalation der Lage zu verhindern. Die Auseinandersetzungen gingen
stundenlang in der Innenstadt weiter, ohne dass die Polizei die Lage in den
Griff bekommen konnte. De facto konnte der Neonaziaufmarsch nicht (wie geplant)
stattfinden. Ein Jahr später versuchte die NPD abermals, in Frankfurt ihr
»Deutschlandtreffen« abzuhalten. Zahlreiche Gegendemonstrationen wurden
angekündigt. Die CDU-Regierung unter Wallmann verhängte ein generelles
Demonstrationsverbot. Selbst das erstmals ausgerichtete
»Rock-gegen-Rechts«-Musikspektakel sollte darunterfallen. Der Aufschrei war
groß. Im letzten Moment wurde dieser Kulturbeitrag als kompatibel verstanden und
unter strengen Auflagen genehmigt. Dennoch demonstrierten trotz des Verbots und
des ausgerufenen »polizeilichen Notstandes« rund 40.000 Antifaschistinnen und
Antifaschisten aus der ganzen BRD gegen den geplanten Neonazi-Aufmarsch, während
die NPD ganz auf ihren Aufzug verzichten musste.
Diese Schmach wollten die Neonazis erst recht nicht auf sich sitzen
lassen und riefen für das Jahr 1980 abermals zu einer Demonstration auf. Nun
beteiligte sich auch das Spektrum aus VVN, SPD, Gewerkschaften und
Kulturschaffenden (wie z. B. der Liedermacher Dieter Dehm) daran und mischten
mächtig mit, mit viel Geld und Publicity. Sie wollten nicht den Neonaziaufmarsch
verhindern, sondern eine erneute Eskalation wie im Jahr zuvor. Ein großes
»Rock-gegen-Rechts«-Spektakel auf dem Rebstockgelände, weitab von der
Frankfurter Innenstadt, sollte erneut die Gemüter beruhigen und das
»Trennungsgebot« selbst in die Hand nehmen. Mit einem Sternmarsch wollte man
kurz Flagge zeigen, um dann alles auf dem Rebstockgelände versanden und enden zu
lassen.
Wir waren damit überhaupt nicht einverstanden und so diskutierten wir
uns die Köpfe heiß, was man stattdessen machen könnte und müsste. Wir, das heißt
eine Gruppe von 10–15 Personen, waren zu Beginn eine Stadtteilgruppe, im Sinne
einer Basisarbeit vor Ort. Wir machten Mieterberatung, wir informierten über
Umstrukturierungen, wozu die beginnende Umwandlung von Miets- in
Eigentumswohnungen gehörte. Um Kontakt zu den BewohnerInnen zu bekommen, machten
wir auch Straßentheater. Und wenn wir nicht weiterwussten, malten wir Radwege
auf sehr befahrenen Straßen. Wir sperrten am helllichten Tag die dafür
vorgesehene Straße ab und hatten dann sehr bald ein großes Polizeiaufgebot als
Antwort, was in der Summe für viele Diskussionen und meist auch Festnahmen
sorgte. Aber sehr bald verließen wir den Stadtteil und wollten uns fast überall
einmischen.
Der angekündigte Naziaufmarsch war dafür eine gute Gelegenheit, einiges
zusammenzubringen. Auf der einen Seite wollten wir mehr als »Rock gegen rechts«
hören, zum anderen sahen wir die große Mobilisierung von über 40.000 Teilnehmern
als eine Chance, eine Hausbesetzung in Frankfurt zu riskieren. Das war nicht
leicht, obgleich genug Wohnungen und Häuser leer standen. Es war die
Stadtregierung, die aus den Häuserkämpfen in den 1970er-Jahren im Frankfurter
Westend ›gelernt‹ hatte und eine sofortige Räumung im Falle einer Besetzung
anordnete. Eine Art Blankovollmacht. Das war zwar nicht rechtens, aber dafür
witterte man »Gefahr im Verzug«, die es erlaubte, auch ohne Einwilligung des
Hausbesitzers den »Rechtsfrieden« wiederherzustellen. Also mussten wir einen
günstigen Moment abwarten, wo viele Leute in der Stadt waren und die Lage für
die Stadtpolitik und die Polizeiführung unübersichtlich und schwer einzuschätzen
war. Deshalb war der 16. Juni 1980 genau das richtige Datum.
Da wir schon zuvor Kontakt zu der ehrwürdigen und verdienstvollen
»Westend-AG« geknüpft hatten, die sich seit Jah-ren gegen die Vertreibung aus
ihrem Stadtteil zur Wehr setzte, hatten wir eine Liste von leer stehenden
Objekten. Wir entschieden uns für das schönste und repräsentativste Objekt, eine
echte Villa, großzügig, sehr geräumig, mit einer offenen Treppe und ganz viel
Platz für Projekte und Ideen.
Unsere Einschätzung war, dass sich die Polizei nicht sicher sein konnte,
ob der Ansturm von Zehntausenden Antifaschistinnen und Antifaschisten vor allem
dem Rockkonzert galt oder auch für ein gutes Beiprogramm wie eine Besetzung.
Auch wenn der Zusammenhang zwischen einem Neonaziaufmarsch und der städtischen
SPD-Politik (mit Leerstand, Umwandlung von Wohn- in Büroraum, Umwandlung von
Miet- in Eigentumswohnungen, Veredelung der Wohnbevölkerung usw.) nicht auf der
Hand lag, war es für uns der beste Zeitpunkt, das SPD-Verdikt, keine
Hausbesetzung in Frankfurt zu dulden und innerhalb von 24 Stunden zu beenden, zu
durchbrechen.
Autoren von "Die Besetzung einer Villa in Frankfurt"
08.09.2024 - Die Besetzung einer Villa in Frankfurt
Wolf Wetzel hat seine Autobiographie geschrieben und sein rebellisches Leben in drei Hälften geteilt. In der ersten Hälfte lebt man fast nur das Leben der Anderen - das der Eltern, der Lehrer, der Erwachsenen: der Übermächtigen. Die zweite Hälfte ist dann das Gegen-Leben, ein Kampf gegen das, was bereits in einem ist und was jetzt von außen dazukommen will. Die dritte Hälfte ist der Versuch, endlich zu sich selbst zu finden, sich freizumachen und über die ersten beiden Hälften hinauszuwachsen. In einem schonungslosen Parforceritt lässt ein Autonomer der ersten Stunde sein Leben vorüberziehen, ein Leben voller emotionaler und politischer Grenzgänge, das in noch unausgeleuchtete Zonen deutscher Geschichte führt. Ein Auszug.
1978 rief die NPD dazu auf, Frankfurt zurückzuerobern. Ihre Demonstration sollte vom Frankfurter Rathaus, dem »Römer«, losgehen. Nachdem dies klar war, entschloss man sich, den Platz zu besetzen, um den Neonazis bereits den Auftakt zu vermiesen. Es waren circa 10.000 Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in den Morgenstunden den Rathausplatz, den »Römer«, besetzt hielten, als die Polizei den Befehl gab, diesen zu räumen.
Wasserwerfer und Hundertschaften wurden in Marsch gesetzt. Es gelang zwar, den Platz vor dem Frankfurter Rathaus zu räumen, doch die Auseinandersetzungen verlagerten sich daraufhin in die gesamte Innenstadt. Überall wurden Barrikaden errichtet und immer wieder gelang es, diese gegen die heranrückende Polizei zu verteidigen. Eine ziemlich euphorische Stimmung machte sich breit, denn es war nun einmal nicht alltäglich, Hundertschaften für einige Zeit zum Rückzug zu bewegen. Hinzu kam die Meldung, dass die Polizeiführung aufgrund der unübersichtlichen Lage den Neonaziaufmarsch kurzfristig verlegt hatte, um eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern. Die Auseinandersetzungen gingen stundenlang in der Innenstadt weiter, ohne dass die Polizei die Lage in den Griff bekommen konnte. De facto konnte der Neonaziaufmarsch nicht (wie geplant) stattfinden.
Ein Jahr später versuchte die NPD abermals, in Frankfurt ihr »Deutschlandtreffen« abzuhalten. Zahlreiche Gegendemonstrationen wurden angekündigt. Die CDU-Regierung unter Wallmann verhängte ein generelles Demonstrationsverbot. Selbst das erstmals ausgerichtete »Rock-gegen-Rechts«-Musikspektakel sollte darunterfallen. Der Aufschrei war groß. Im letzten Moment wurde dieser Kulturbeitrag als kompatibel verstanden und unter strengen Auflagen genehmigt. Dennoch demonstrierten trotz des Verbots und des ausgerufenen »polizeilichen Notstandes« rund 40.000 Antifaschistinnen und Antifaschisten aus der ganzen BRD gegen den geplanten Neonazi-Aufmarsch, während die NPD ganz auf ihren Aufzug verzichten musste.
Diese Schmach wollten die Neonazis erst recht nicht auf sich sitzen lassen und riefen für das Jahr 1980 abermals zu einer Demonstration auf. Nun beteiligte sich auch das Spektrum aus VVN, SPD, Gewerkschaften und Kulturschaffenden (wie z. B. der Liedermacher Dieter Dehm) daran und mischten mächtig mit, mit viel Geld und Publicity. Sie wollten nicht den Neonaziaufmarsch verhindern, sondern eine erneute Eskalation wie im Jahr zuvor. Ein großes »Rock-gegen-Rechts«-Spektakel auf dem Rebstockgelände, weitab von der Frankfurter Innenstadt, sollte erneut die Gemüter beruhigen und das »Trennungsgebot« selbst in die Hand nehmen. Mit einem Sternmarsch wollte man kurz Flagge zeigen, um dann alles auf dem Rebstockgelände versanden und enden zu lassen.
Wir waren damit überhaupt nicht einverstanden und so diskutierten wir uns die Köpfe heiß, was man stattdessen machen könnte und müsste. Wir, das heißt eine Gruppe von 10–15 Personen, waren zu Beginn eine Stadtteilgruppe, im Sinne einer Basisarbeit vor Ort. Wir machten Mieterberatung, wir informierten über Umstrukturierungen, wozu die beginnende Umwandlung von Miets- in Eigentumswohnungen gehörte. Um Kontakt zu den BewohnerInnen zu bekommen, machten wir auch Straßentheater. Und wenn wir nicht weiterwussten, malten wir Radwege auf sehr befahrenen Straßen. Wir sperrten am helllichten Tag die dafür vorgesehene Straße ab und hatten dann sehr bald ein großes Polizeiaufgebot als Antwort, was in der Summe für viele Diskussionen und meist auch Festnahmen sorgte. Aber sehr bald verließen wir den Stadtteil und wollten uns fast überall einmischen.
Der angekündigte Naziaufmarsch war dafür eine gute Gelegenheit, einiges zusammenzubringen. Auf der einen Seite wollten wir mehr als »Rock gegen rechts« hören, zum anderen sahen wir die große Mobilisierung von über 40.000 Teilnehmern als eine Chance, eine Hausbesetzung in Frankfurt zu riskieren. Das war nicht leicht, obgleich genug Wohnungen und Häuser leer standen. Es war die Stadtregierung, die aus den Häuserkämpfen in den 1970er-Jahren im Frankfurter Westend ›gelernt‹ hatte und eine sofortige Räumung im Falle einer Besetzung anordnete. Eine Art Blankovollmacht. Das war zwar nicht rechtens, aber dafür witterte man »Gefahr im Verzug«, die es erlaubte, auch ohne Einwilligung des Hausbesitzers den »Rechtsfrieden« wiederherzustellen. Also mussten wir einen günstigen Moment abwarten, wo viele Leute in der Stadt waren und die Lage für die Stadtpolitik und die Polizeiführung unübersichtlich und schwer einzuschätzen war. Deshalb war der 16. Juni 1980 genau das richtige Datum.
Da wir schon zuvor Kontakt zu der ehrwürdigen und verdienstvollen »Westend-AG« geknüpft hatten, die sich seit Jah-ren gegen die Vertreibung aus ihrem Stadtteil zur Wehr setzte, hatten wir eine Liste von leer stehenden Objekten. Wir entschieden uns für das schönste und repräsentativste Objekt, eine echte Villa, großzügig, sehr geräumig, mit einer offenen Treppe und ganz viel Platz für Projekte und Ideen.
Unsere Einschätzung war, dass sich die Polizei nicht sicher sein konnte, ob der Ansturm von Zehntausenden Antifaschistinnen und Antifaschisten vor allem dem Rockkonzert galt oder auch für ein gutes Beiprogramm wie eine Besetzung. Auch wenn der Zusammenhang zwischen einem Neonaziaufmarsch und der städtischen SPD-Politik (mit Leerstand, Umwandlung von Wohn- in Büroraum, Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, Veredelung der Wohnbevölkerung usw.) nicht auf der Hand lag, war es für uns der beste Zeitpunkt, das SPD-Verdikt, keine Hausbesetzung in Frankfurt zu dulden und innerhalb von 24 Stunden zu beenden, zu durchbrechen.
Autoren von "Die Besetzung einer Villa in Frankfurt"
Bücher von Wolf Wetzel