Das Buch „Was befürchtet Israel von Palästina?“ des palästinensischen
Schriftstellers Raja Shehadeh ist eine erschütternde Reflexion über das Versagen
der Konfliktparteien im Nahost-Konflikt, einander als Gleichberechtigte zu
behandeln, als Partner auf dem Weg zum Frieden, anstatt als Feinde und
Völkermörder. Nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 kam es zur Nakba
(arab. „Katastrophe“): die Vertreibung des palästinensischen Volkes, die
Bruchlinien schuf, welche bis heute auf gewaltsame und tragische Weise
fortbestehen. In den folgenden Jahrzehnten, während die Berliner Mauer fiel und
Südafrika die Apartheid abschaffte, lehnten die israelische Regierung und die
PLO jede Gelegenheit zur Aussöhnung ab.
Raja Shehadeh,
Menschenrechtsanwalt und Palästinas größter lebender Schriftsteller, zeigt auf,
dass dies trotzdem nicht bedeutet, dass die beiden Nationen nicht als Partner
auf dem Weg zum Frieden zusammenarbeiten können. Im Gegenteil: Wenn dieser
gewaltsam ausgetragene Konflikt enden soll, müssen beide Seiten gegen ihre
Extremisten kämpfen. Ein Auszug aus dem Buch, das eine neue Perspektive in einer
Zeit großer Not bietet.
Die Nakba war die zentralste und prägendste
Erfahrung in meinem Leben. Ich wurde drei Jahre nach der Nakba in der Stadt
Ramallah im Westjordanland geboren, wohin meine Familie aus ihrem Haus an der
Küste in Jaffa vertrieben wurde. Als ich aufwuchs, hörte ich immer wieder von
dem verlorenen Land und dem Schock und Entsetzen über das, was uns widerfahren
war, wobei das Leid überall um uns herum zu sehen war. Ich erinnere mich daran,
wie meine Großmutter die Lichter am Horizont auf der anderen Seite der Hügel von
Ramallah betrachtete und glaubte, sie sähe die Lichter von Jaffa. Ihr Blick war
immer auf den Horizont gerichtet, und indem ich ihrem Blick folgte, lernte auch
ich, das Hier und Jetzt zu vermeiden und meine Hoffnungen auf die fernen Lichter
zu richten. Ich sah Ramallah und seine Hügel nicht als das, was sie waren,
sondern als den Beobachtungspunkt, von dem aus ich das dahinter liegende Jaffa
sehen konnte, das ich nie gekannt hatte. Wenn wir abends nach Hause gingen,
hielt meine Großmutter mich auf der Spitze des Hügels an, bevor wir die Straße
hinuntergingen, die zu unserem Haus führte. »Schau«, sagte sie dann. »Sieh dir
die Lichter am Horizont an.« Und sie blieb in ehrfürchtigem Schweigen stehen.
Ich stand neben ihr, ihre weiche, warme Hand in meiner, und hielt den Atem an,
während ich versuchte, meine ganze Aufmerksamkeit auf den Horizont zu richten
und mir vorzustellen, was für einen Ort diese Lichter beleuchteten.
Lange
Zeit war ich eine Geisel der Erinnerungen, Wahrnehmungen und Haltungen anderer,
die ich nicht loslassen konnte. Mein Gefühl für den Ort war nicht mein eigenes,
und ich hätte auch nie gewagt, es als solches zu beanspruchen. Die älteren
Menschen um mich herum wussten es besser. Ich hielt es für selbstverständlich,
mich in solchen Fragen nach ihnen zu richten. Im Juni 1967 gewann Israel einen
weiteren Krieg gegen die arabischen Staaten und besetzte unter anderem den Osten
Jerusalems, das Westjordanland und den Gazastreifen, womit die Übernahme des
gesamten palästinensischen Territoriums abgeschlossen war. Eine Folge dieser
Besetzungen war, dass ich nun Jaffa besuchen konnte, da Ramallah jetzt auch im
israelischen Gebiet lag. So begann ich, meinen Blick vom Horizont weg und näher
an mein Zuhause zu richten und auf die Hügel, auf denen ich lebte. Damals wurde
mir auch klar, dass die Lichter, die meine Großmutter und ich von Ramallah aus
am Horizont sahen, die von Tel Aviv und nicht von Jaffa waren.
In den Jahren
nach dem Krieg weigerten sich die israelischen Regierungen, einen Frieden mit
den Palästinensern auch nur in Erwägung zu ziehen, und die Kolonisierung
Palästinas wurde ernsthaft fortgesetzt. Ich war sechzehn, als diese zweite Phase
begann. Die Besatzung verwandelte sich bald in eine weitere Nakba, wenn auch
diesmal schrittweise, aber mit ähnlichen Merkmalen: Verleugnung unserer Existenz
auf dem Land, Umbenennung und Neugestaltung, Schaffung einer neuen Geografie und
Verweigerung der Einhaltung des Völkerrechts. Wenn ich auch die erste Phase der
Kolonisierung Palästinas nicht miterlebt, sondern nur davon gehört hatte, so war
ich doch bei der zweiten Phase dabei und habe sie bezeugen können. Was 1967
geschah, war ein ähnlicher Prozess der Besiedlung, der das Land ausschließlich
für Angehörige des jüdischen Glaubens beanspruchte und sich weigerte
anzuerkennen, dass Israel kein Souverän, sondern ein Besatzer dieser Gebiete
ist, auf die die Vierte Genfer Konvention von 1949 Anwendung findet. Entgegen
dem geltenden Völkerrecht errichtete Israel bereits wenige Monate nach Beginn
der Besatzung israelische Siedlungen, und israelische Bürger wurden mit
materiellen Anreizen und Steuererleichterungen zur Umsiedlung ermutigt. Dieser
Prozess ist bis heute nicht ins Stocken geraten. Im Gegenteil, er hat sich sogar
noch beschleunigt. Unter der gegenwärtigen rechtsgerichteten Regierung Israels
hat er sich noch beschleunigt, mit mehr Siedlungen und mehr Straßen, die die
Hügel des Westjordanlandes weiter zerteilen.
Seit den frühen 1980er-Jahren,
als ich begann zu verfolgen, was Israel mit der Errichtung israelischer
Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten und der Ansiedlung seiner
Bevölkerung dort tat, war ich der Meinung, dass dies nicht anders enden konnte
als in Apartheid. Und mit dieser Meinung war ich nicht allein. 1976 gab Jitzchak
Rabin, der während der Ersten Intifada (einer Reihe von anhaltenden Protesten,
zivilem Ungehorsam und gewaltsamen Auseinandersetzungen, die von 1987 bis 1993
andauerte) als Israels Verteidigungsminister und während der Verhandlungen und
der Unterzeichnung der Osloer Abkommen als Premierminister fungierte, ein
Interview, in dem er die damals bestehenden sechzig Siedlungen als »ein
Krebsgeschwür im sozialen und demokratischen Gewebe des Staates Israel«
bezeichnete. Er kritisierte Gusch Emunim (»Block der Gläubigen«), die
Organisation, die anfangs an der Spitze der Siedlungsbewegung in Israel stand,
und bezeichnete sie als »eine Gruppe, die das Gesetz in ihre eigenen Hände
nimmt«. Damals hielt ich die Bedrohung, die von Gusch Emunim ausging, nicht für
real. Wie würden sie es schaffen, uns zu vertreiben? Waren wir nicht »Samidun«
(arab. »diejenigen, die an Ort und Stelle bleiben«, von »Sumud«,
»Standhaftigkeit«, Anm. d. Übers.)? Anders als 1948 hatten wir unsere Häuser
nicht verlassen, als 1967 der Krieg ausgebrochen war.5 Und angesichts des Ziels,
das Israel verfolgte, nämlich die Palästinenser zum Verlassen des Landes zu
bewegen, wurde das Verharren an Ort und Stelle, koste es, was es wolle, zu einer
wirksamen Form des Kampfes. »Sumud«, so glaubte ich, war unsere kollektive Art,
die Besatzung herauszufordern.
Was auch immer das israelische Militär tun würde,
um uns zum Gehen zu bewegen, wir würden nicht gehen. Ich wurde von Rabin
ermutigt, der in demselben Interview sagte:
»Ich sage nicht mit
Sicherheit, dass wir wegen der [palästinensischen] Bevölkerung nicht den Punkt
der Evakuierung erreichen werden. Ich glaube nicht, dass es auf lange Sicht
möglich ist, anderthalb Millionen Araber in einem jüdischen Staat zu halten,
wenn wir nicht zur Apartheid kommen wollen.«
Autoren von "Was befürchtet Israel von Palästina?"
11.08.2024 - Was befürchtet Israel von Palästina?
Das Buch „Was befürchtet Israel von Palästina?“ des palästinensischen Schriftstellers Raja Shehadeh ist eine erschütternde Reflexion über das Versagen der Konfliktparteien im Nahost-Konflikt, einander als Gleichberechtigte zu behandeln, als Partner auf dem Weg zum Frieden, anstatt als Feinde und Völkermörder. Nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 kam es zur Nakba (arab. „Katastrophe“): die Vertreibung des palästinensischen Volkes, die Bruchlinien schuf, welche bis heute auf gewaltsame und tragische Weise fortbestehen. In den folgenden Jahrzehnten, während die Berliner Mauer fiel und Südafrika die Apartheid abschaffte, lehnten die israelische Regierung und die PLO jede Gelegenheit zur Aussöhnung ab.
Raja Shehadeh, Menschenrechtsanwalt und Palästinas größter lebender Schriftsteller, zeigt auf, dass dies trotzdem nicht bedeutet, dass die beiden Nationen nicht als Partner auf dem Weg zum Frieden zusammenarbeiten können. Im Gegenteil: Wenn dieser gewaltsam ausgetragene Konflikt enden soll, müssen beide Seiten gegen ihre Extremisten kämpfen. Ein Auszug aus dem Buch, das eine neue Perspektive in einer Zeit großer Not bietet.
Die Nakba war die zentralste und prägendste Erfahrung in meinem Leben. Ich wurde drei Jahre nach der Nakba in der Stadt Ramallah im Westjordanland geboren, wohin meine Familie aus ihrem Haus an der Küste in Jaffa vertrieben wurde. Als ich aufwuchs, hörte ich immer wieder von dem verlorenen Land und dem Schock und Entsetzen über das, was uns widerfahren war, wobei das Leid überall um uns herum zu sehen war. Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter die Lichter am Horizont auf der anderen Seite der Hügel von Ramallah betrachtete und glaubte, sie sähe die Lichter von Jaffa. Ihr Blick war immer auf den Horizont gerichtet, und indem ich ihrem Blick folgte, lernte auch ich, das Hier und Jetzt zu vermeiden und meine Hoffnungen auf die fernen Lichter zu richten. Ich sah Ramallah und seine Hügel nicht als das, was sie waren, sondern als den Beobachtungspunkt, von dem aus ich das dahinter liegende Jaffa sehen konnte, das ich nie gekannt hatte. Wenn wir abends nach Hause gingen, hielt meine Großmutter mich auf der Spitze des Hügels an, bevor wir die Straße hinuntergingen, die zu unserem Haus führte. »Schau«, sagte sie dann. »Sieh dir die Lichter am Horizont an.« Und sie blieb in ehrfürchtigem Schweigen stehen. Ich stand neben ihr, ihre weiche, warme Hand in meiner, und hielt den Atem an, während ich versuchte, meine ganze Aufmerksamkeit auf den Horizont zu richten und mir vorzustellen, was für einen Ort diese Lichter beleuchteten.
Lange Zeit war ich eine Geisel der Erinnerungen, Wahrnehmungen und Haltungen anderer, die ich nicht loslassen konnte. Mein Gefühl für den Ort war nicht mein eigenes, und ich hätte auch nie gewagt, es als solches zu beanspruchen. Die älteren Menschen um mich herum wussten es besser. Ich hielt es für selbstverständlich, mich in solchen Fragen nach ihnen zu richten. Im Juni 1967 gewann Israel einen weiteren Krieg gegen die arabischen Staaten und besetzte unter anderem den Osten Jerusalems, das Westjordanland und den Gazastreifen, womit die Übernahme des gesamten palästinensischen Territoriums abgeschlossen war. Eine Folge dieser Besetzungen war, dass ich nun Jaffa besuchen konnte, da Ramallah jetzt auch im israelischen Gebiet lag. So begann ich, meinen Blick vom Horizont weg und näher an mein Zuhause zu richten und auf die Hügel, auf denen ich lebte. Damals wurde mir auch klar, dass die Lichter, die meine Großmutter und ich von Ramallah aus am Horizont sahen, die von Tel Aviv und nicht von Jaffa waren.
In den Jahren nach dem Krieg weigerten sich die israelischen Regierungen, einen Frieden mit den Palästinensern auch nur in Erwägung zu ziehen, und die Kolonisierung Palästinas wurde ernsthaft fortgesetzt. Ich war sechzehn, als diese zweite Phase begann. Die Besatzung verwandelte sich bald in eine weitere Nakba, wenn auch diesmal schrittweise, aber mit ähnlichen Merkmalen: Verleugnung unserer Existenz auf dem Land, Umbenennung und Neugestaltung, Schaffung einer neuen Geografie und Verweigerung der Einhaltung des Völkerrechts. Wenn ich auch die erste Phase der Kolonisierung Palästinas nicht miterlebt, sondern nur davon gehört hatte, so war ich doch bei der zweiten Phase dabei und habe sie bezeugen können. Was 1967 geschah, war ein ähnlicher Prozess der Besiedlung, der das Land ausschließlich für Angehörige des jüdischen Glaubens beanspruchte und sich weigerte anzuerkennen, dass Israel kein Souverän, sondern ein Besatzer dieser Gebiete ist, auf die die Vierte Genfer Konvention von 1949 Anwendung findet. Entgegen dem geltenden Völkerrecht errichtete Israel bereits wenige Monate nach Beginn der Besatzung israelische Siedlungen, und israelische Bürger wurden mit materiellen Anreizen und Steuererleichterungen zur Umsiedlung ermutigt. Dieser Prozess ist bis heute nicht ins Stocken geraten. Im Gegenteil, er hat sich sogar noch beschleunigt. Unter der gegenwärtigen rechtsgerichteten Regierung Israels hat er sich noch beschleunigt, mit mehr Siedlungen und mehr Straßen, die die Hügel des Westjordanlandes weiter zerteilen.
Seit den frühen 1980er-Jahren, als ich begann zu verfolgen, was Israel mit der Errichtung israelischer Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten und der Ansiedlung seiner Bevölkerung dort tat, war ich der Meinung, dass dies nicht anders enden konnte als in Apartheid. Und mit dieser Meinung war ich nicht allein. 1976 gab Jitzchak Rabin, der während der Ersten Intifada (einer Reihe von anhaltenden Protesten, zivilem Ungehorsam und gewaltsamen Auseinandersetzungen, die von 1987 bis 1993 andauerte) als Israels Verteidigungsminister und während der Verhandlungen und der Unterzeichnung der Osloer Abkommen als Premierminister fungierte, ein Interview, in dem er die damals bestehenden sechzig Siedlungen als »ein Krebsgeschwür im sozialen und demokratischen Gewebe des Staates Israel« bezeichnete. Er kritisierte Gusch Emunim (»Block der Gläubigen«), die Organisation, die anfangs an der Spitze der Siedlungsbewegung in Israel stand, und bezeichnete sie als »eine Gruppe, die das Gesetz in ihre eigenen Hände nimmt«. Damals hielt ich die Bedrohung, die von Gusch Emunim ausging, nicht für real. Wie würden sie es schaffen, uns zu vertreiben? Waren wir nicht »Samidun« (arab. »diejenigen, die an Ort und Stelle bleiben«, von »Sumud«, »Standhaftigkeit«, Anm. d. Übers.)? Anders als 1948 hatten wir unsere Häuser nicht verlassen, als 1967 der Krieg ausgebrochen war.5 Und angesichts des Ziels, das Israel verfolgte, nämlich die Palästinenser zum Verlassen des Landes zu bewegen, wurde das Verharren an Ort und Stelle, koste es, was es wolle, zu einer wirksamen Form des Kampfes. »Sumud«, so glaubte ich, war unsere kollektive Art, die Besatzung herauszufordern.
Was auch immer das israelische Militär tun würde, um uns zum Gehen zu bewegen, wir würden nicht gehen. Ich wurde von Rabin ermutigt, der in demselben Interview sagte:
»Ich sage nicht mit Sicherheit, dass wir wegen der [palästinensischen] Bevölkerung nicht den Punkt der Evakuierung erreichen werden. Ich glaube nicht, dass es auf lange Sicht möglich ist, anderthalb Millionen Araber in einem jüdischen Staat zu halten, wenn wir nicht zur Apartheid kommen wollen.«
Autoren von "Was befürchtet Israel von Palästina?"
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