Vor Kurzem war ich eingeladen nach Wien zum
Österreichischen Rundfunk (ORF). Der hatte sich zur Fußball-Europameisterschaft
etwas ziemlich Naheliegendes und doch Überraschendes ausgedacht: einen
TV-Thementag darüber, wie es Deutschland so geht.
Die Stichworte in der Sendung waren: zerbröselnde
Autobahnbrücken, marode Deutsche Bahn AG, kränkelndes Gesundheitswesen,
schleichende Deindustrialisierung, erstarkende AFD. Also all diese Dinge, die
sehr viele Menschen auch hierzulande immer mehr bedrücken. Und so schaute der
Moderator auch sehr traurig und voller Sorge in die Kamera, sagte: „Wenn
Deutschland hustet, droht uns in Österreich die Lungenentzündung“.
Felix Austria bedroht vom deutschen Riesen? Da ich schon
länger nicht mehr in Österreich war, nutzte ich diesen Termin für einen
Kurzurlaub in der Wachau. Und weil ich mich der zuverlässig unzuverlässigen
Deutschen Bahn nicht anvertrauen wollte, fuhr ich mit dem Auto nach Krems
– und dann mit dem Zug weiter nach Wien.
Meine ersten Worte in der ORF-Gesprächsrunde waren ein
kleines Geständnis: „Ich stehe gerade“, sagte ich, „unter einer Art
Kulturschock“ . Erstaunt sah mich der Moderator an. Tja, sagte ich, ich sei in
Österreich auf Autobahnen gefahren, bei denen man nicht alle paar Kilometer
wegen Reparaturarbeiten im Stau stehen muss, ich sei über Autobahnbrücken
gefahren, über die man fahren konnte, ohne vorher wegen Reparaturarbeiten im
Stau stehen zu müssen. Aber vor allem hätte ich mit den Österreichischen
Bundesbahnen „ein Reisen in eine fast vergessene Vergangenheit“ erlebt.
Ich erklärte meinen Schock, der eher eine wohltuende
Überraschung war, denn: Ich hatte auf österreichischen Schienen erlebt, was vor
Jahrzehnten in Deutschland Standard war, heute wie ein Märchen klingt:
pünktliche Züge. Saubere Züge. Ruckelfreie Züge. Leise Züge. Züge, in denen man
entspannt reist ohne Angst, den Anschlusszug zu verpassen. Züge, die tatsächlich
fahren und nicht ausfallen. Bahnhöfe selbst in kleinen Städten, in denen noch
echte Menschen Fahrkarten verkaufen.
Also eine Bahn, die tatsächlich noch eine Bahn ist – und
nicht wie in Deutschland ein Unternehmen, das Manchen sogar Angst macht. Etwa
schottischen Fußballfans. Die „Scottish Football Supporters Assosiciation“
jedenfalls hatte an ihre recht trinkfesten Landsleute vor der EM eine sehr
konkrete Warnung verschickt: „Verlasst die Kneipe ein bisschen schneller, gebt
euch selbst ein wenig mehr Zeit. Das Letzte, was ihr wollt, ist, erst zur
Halbzeit anzukommen!“ Also: „Vorsicht Schottland-Fans! Stellt sicher, dass
ihr den früheren Zug nehmt.“
Die Schotten sind weg, sie haben ihre Spiele verloren – und
so gesehen ist es vielleicht ein Segen, dass diese Deutsche Bahn so ist, wie sie
ist.
Ein paar Tage nach meiner Rückkehr aus Österreich ruft mich
der ORF nochmals an. Sie planen eine Dokumentation. Der Titel: „Deutschland
sandelt ab – Vom Musterschüler zum Sorgenkind?“ Ob ich mitmache? Es gehe in
dieser Dokumentation auch um die Bahn und ihre ausfallenden Züge, ich würde mich
doch da auskennen und irgendwie stünde der traurige Zustand der Deutschen Bahn
AG ja wohl symbolisch für dieses Land? Das – man könne es nicht anders
sagen: absandelt.
Ich verstehe dieses etwas merkwürdig klingende Wort
„absandeln“ nicht, aber erfahre nun, dass ein „Sandler“ in Österreich ein
Obdachloser ist, und dass „absandeln“ ein ziemlich unfeines Wort ist für
„verlottern, verkommen, abstürzen“.
Ich sage zu. Und muss dafür nach Berlin.
Mein Zug, der ab Dammtor fahren soll, fährt nicht ab
Dammtor. Mich überrascht das nicht, aber die Welt, die derzeit zu Gast bei
Freunden ist, staunt sehr: „Vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten“,
schreibt ein ziemlich entsetzter Reporter der „New York Times“ über seine
EM-Erlebnisse: „Effizienz. Verlässlichkeit. Zweckmäßigkeit“ sei doch das, „was
viele Menschen am meisten mit Deutschland assoziieren, aber bisher hat sich bei
der Europameisterschaft 2024 keines dieser Klischees bewahrheitet. Die
Organisatoren des Turniers hatten Probleme mit der Kontrolle der Zuschauer vor
den Stadien. Die Fans haben miserable Bedingungen auf dem Weg zu und von den
Spielen ertragen müssen. Der U-Bahn- und Zugverkehr in den Austragungsstädten
ist unter der zusätzlichen Nachfrage zusammengebrochen. Das ist nicht das, was
der Rest Europas erwartet hat.“
07.07.2024 - Deutschland sandelt ab
Vor Kurzem war ich eingeladen nach Wien zum Österreichischen Rundfunk (ORF). Der hatte sich zur Fußball-Europameisterschaft etwas ziemlich Naheliegendes und doch Überraschendes ausgedacht: einen TV-Thementag darüber, wie es Deutschland so geht.
Die Stichworte in der Sendung waren: zerbröselnde Autobahnbrücken, marode Deutsche Bahn AG, kränkelndes Gesundheitswesen, schleichende Deindustrialisierung, erstarkende AFD. Also all diese Dinge, die sehr viele Menschen auch hierzulande immer mehr bedrücken. Und so schaute der Moderator auch sehr traurig und voller Sorge in die Kamera, sagte: „Wenn Deutschland hustet, droht uns in Österreich die Lungenentzündung“.
Felix Austria bedroht vom deutschen Riesen? Da ich schon länger nicht mehr in Österreich war, nutzte ich diesen Termin für einen Kurzurlaub in der Wachau. Und weil ich mich der zuverlässig unzuverlässigen Deutschen Bahn nicht anvertrauen wollte, fuhr ich mit dem Auto nach Krems – und dann mit dem Zug weiter nach Wien.
Meine ersten Worte in der ORF-Gesprächsrunde waren ein kleines Geständnis: „Ich stehe gerade“, sagte ich, „unter einer Art Kulturschock“ . Erstaunt sah mich der Moderator an. Tja, sagte ich, ich sei in Österreich auf Autobahnen gefahren, bei denen man nicht alle paar Kilometer wegen Reparaturarbeiten im Stau stehen muss, ich sei über Autobahnbrücken gefahren, über die man fahren konnte, ohne vorher wegen Reparaturarbeiten im Stau stehen zu müssen. Aber vor allem hätte ich mit den Österreichischen Bundesbahnen „ein Reisen in eine fast vergessene Vergangenheit“ erlebt.
Ich erklärte meinen Schock, der eher eine wohltuende Überraschung war, denn: Ich hatte auf österreichischen Schienen erlebt, was vor Jahrzehnten in Deutschland Standard war, heute wie ein Märchen klingt: pünktliche Züge. Saubere Züge. Ruckelfreie Züge. Leise Züge. Züge, in denen man entspannt reist ohne Angst, den Anschlusszug zu verpassen. Züge, die tatsächlich fahren und nicht ausfallen. Bahnhöfe selbst in kleinen Städten, in denen noch echte Menschen Fahrkarten verkaufen.
Also eine Bahn, die tatsächlich noch eine Bahn ist – und nicht wie in Deutschland ein Unternehmen, das Manchen sogar Angst macht. Etwa schottischen Fußballfans. Die „Scottish Football Supporters Assosiciation“ jedenfalls hatte an ihre recht trinkfesten Landsleute vor der EM eine sehr konkrete Warnung verschickt: „Verlasst die Kneipe ein bisschen schneller, gebt euch selbst ein wenig mehr Zeit. Das Letzte, was ihr wollt, ist, erst zur Halbzeit anzukommen!“ Also: „Vorsicht Schottland-Fans! Stellt sicher, dass ihr den früheren Zug nehmt.“
Die Schotten sind weg, sie haben ihre Spiele verloren – und so gesehen ist es vielleicht ein Segen, dass diese Deutsche Bahn so ist, wie sie ist.
Ein paar Tage nach meiner Rückkehr aus Österreich ruft mich der ORF nochmals an. Sie planen eine Dokumentation. Der Titel: „Deutschland sandelt ab – Vom Musterschüler zum Sorgenkind?“ Ob ich mitmache? Es gehe in dieser Dokumentation auch um die Bahn und ihre ausfallenden Züge, ich würde mich doch da auskennen und irgendwie stünde der traurige Zustand der Deutschen Bahn AG ja wohl symbolisch für dieses Land? Das – man könne es nicht anders sagen: absandelt.
Ich verstehe dieses etwas merkwürdig klingende Wort „absandeln“ nicht, aber erfahre nun, dass ein „Sandler“ in Österreich ein Obdachloser ist, und dass „absandeln“ ein ziemlich unfeines Wort ist für „verlottern, verkommen, abstürzen“.
Ich sage zu. Und muss dafür nach Berlin.
Mein Zug, der ab Dammtor fahren soll, fährt nicht ab Dammtor. Mich überrascht das nicht, aber die Welt, die derzeit zu Gast bei Freunden ist, staunt sehr: „Vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten“, schreibt ein ziemlich entsetzter Reporter der „New York Times“ über seine EM-Erlebnisse: „Effizienz. Verlässlichkeit. Zweckmäßigkeit“ sei doch das, „was viele Menschen am meisten mit Deutschland assoziieren, aber bisher hat sich bei der Europameisterschaft 2024 keines dieser Klischees bewahrheitet. Die Organisatoren des Turniers hatten Probleme mit der Kontrolle der Zuschauer vor den Stadien. Die Fans haben miserable Bedingungen auf dem Weg zu und von den Spielen ertragen müssen. Der U-Bahn- und Zugverkehr in den Austragungsstädten ist unter der zusätzlichen Nachfrage zusammengebrochen. Das ist nicht das, was der Rest Europas erwartet hat.“
Pass auf, felix Austria, Deutschland sandelt ab.
Autoren von "Deutschland sandelt ab"
Bücher von Arno Luik