08.06.2024 - Weiße Weste, graue Welt: Die guten Menschen von Deutschland
Erich Vad:
Was hat das Südchinesische Meer mit der
Krim-Halbinsel zu tun? Sind die USA noch unser Freund und Helfer? Unter welcher
Flagge kämpft eigentlich Europa? Dr. Erich Vad, Brigadegeneral a.D. und
militärpolitischer Berater der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, liefert
in seinem Buch „Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit“
Antworten: Europa braucht nachhaltige Sicherheit. Und die kommt nicht von
allein, sondern nur, wenn wir etwas dafür tun, und sie kommt hoffentlich auch
aus Deutschland. Denn wenn wir das Leben, wie wir es kennen, und unsere Freiheit
bewahren wollen, dann müssen wir unsere eigenen – deutschen wie europäischen –
Interessen kennen und danach handeln. Das macht uns zu einem Staat und
Kontinent, der die Stärke und den Einfluss besitzt, Lösungen zu finden und
durchzusetzen. Erich Vad zeigt Wege auf, durch glaubwürdige militärische
Abschreckung, Verteidigungsfähigkeit und Diplomatie Kriege zu verhindern und den
Frieden zu bewahren.
Während meiner Zeit als militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela
Merkel ging es einmal darum, Tornado-Kampfflugzeuge nach Afghanistan zu
entsenden. Der Auftrag war, geheime Taliban-Stellungen aufzuspüren. Es ging um
Aufklärung, nicht um einen Kampfeinsatz. Im Parlament wurde deshalb – teils
vehement – gefordert, die Zwanzig-Millimeter-Kanone an Bord der Jets unbrauchbar
zu machen. Die Tornados sollten nicht in einen ungewollten Kampfeinsatz
hineinschlittern. Was dabei außer Acht gelassen wurde, war, dass die Kanone für
den Fall nötig war, dass sich die Besatzung selbst schützen müsste.
Später diskutierte Deutschland darüber, ob in Afghanistan »Krieg« sei. Dabei
kämpften und starben deutsche Soldatinnen und Soldaten ganz offensichtlich wie
in einem Krieg, erstmals seit 1945. Dennoch vermied man es, von »Gefallenen« zu
reden, um nicht falsche, politisch wie gesellschaftlich nicht gewollte
Assoziationen zu wecken. Ähnliches galt lange für Rüstungsexportentscheidungen:
Im Gegensatz zu den meisten Partnern im NATO-Bündnis tat sich Deutschland damit
immer schwer; Waffenlieferungen in Krisen- und Konfliktgebiete waren in unserem
Selbstverständnis ein Tabu, zumindest in der Vergangenheit.
Extremisten mit besten Absichten
Was ich mit diesen Beispielen sagen will: Wir Deutschen sind friedliebende
Tauben. Wir sind nahezu fanatisch darauf bedacht, uns nicht in militärische
Auseinandersetzungen einzubringen. Wir wollen die Hände nicht im Spiel haben,
wollen uns nicht erneut schuldig machen. Unser reines Gewissen und unsere weiße
Weste stünden ansonsten auf dem Spiel. Deutschland ist gewaltlos, darauf waren
wir in den vergangenen Jahrzehnten durchaus stolz. Selbst wenn es dafür nötig
wurde, einen Krieg wie den in Afghanistan nicht beim Namen zu nennen.
In der weiter zurückliegenden Vergangenheit haben wir zahlreiche Kriege
angezettelt und unermessliche Grausamkeit nach Europa exportiert, um heute sehr
genau zu wissen, was für ein Deutschland wir nicht mehr sein wollen. Nachdem wir
lange, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, »die Bösen« waren, sind wir es
endlich nicht mehr. Wir sind »die Guten«, und das wollen wir bleiben.
Wie ich bereits angesprochen habe, geht es im globalen Kampf um Macht und
Einfluss jedoch nicht prioritär um Werte, sondern um Interessen. Natürlich ist
der Westen eine Wertegemeinschaft. Wir stellen das Gemeinwohl über
Einzelinteressen, setzen auf demokratische Zusammenarbeit statt auf einseitige
Machtausübung. Uns sind Freiheit und Gleichheit wichtig, die Achtung der
Menschenrechte, Individualismus, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit. Die Welt und
wie sie zusammenhängt, ist jedoch nicht schwarz-weiß und auch nicht (nur) gut
oder böse. Ich verweise noch einmal auf Clausewitz: Staaten treffen
politisch-strategische Entscheidungen nicht vorrangig wertegebunden, sondern
interessengeleitet. Nicht moralische Kategorien sind entscheidend, sondern
nationale Erwägungen wie Handelswege und Ressourcen und deren Sicherung,
Sicherheit und Verteidigung, Machterhalt und -ausübung.
Das lässt sich am Krieg gegen die Ukraine aufzeigen. Eine Destabilisierung
Russlands oder ein Regimewechsel, sprich: die Ergebnisse, die sich die deutsche
Politik aus dem Krieg gegen die Ukraine zu erhoffen scheint, werden die
Sicherheitslage des Westens dramatisch verschlechtern, das habe ich bereits
dargelegt. Wer sollte anschließend im Osten Eurasiens die Ordnung
aufrechterhalten? Das würde nicht allein mithilfe werteorientierter deutscher
Nachbarschaftspolitik funktionieren.
Jeder Staat hat strategische Interessen, bei denen er nicht zulässt, dass andere
daran rütteln; sie sind ein Muss für seine Sicherheit und sein Gedeihen. In
internationalen Beziehungen müssen wir darauf Rücksicht nehmen, wenn wir mit dem
jeweiligen Staat zusammenarbeiten oder friedlich zusammenleben wollen.
Das Problem ist, dass die Sicherheitsbedürfnisse des einen Staates mit denen
eines anderen konkurrieren oder kollidieren können. Wenn eine Macht in der
strategischen Interessensphäre einer anderen interveniert, gibt es vom
diplomatischen Ärger bis zu gewaltsamen Konflikten vieles, was zum Krieg führen
kann. Handelt es sich zudem um eine Nuklearmacht wie Russland, ist besondere
Vorsicht geboten.
Ein Beispiel: das NATO-Mitglied Türkei, ein Land, das in Syrien und im Irak
militärisch intervenierte und, parallel zum russischen Überfall auf die Ukraine,
die Kurden bekämpfte. Die Türkei reklamiert für ihre strategischen Interessen
eine Sicherheitszone in Syrien und im Irak – Völkerrecht und territoriale
Integrität ihrer Nachbarländer hin oder her. Auch ein freies Kurdistan wird die
Türkei aus strategischen Gründen nicht dulden, selbst wenn völkerrechtliche
Prinzipien wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker anderes fordern.
Gleichzeitig steckt die Türkei in der Ägäis in einem Interessenkonflikt mit
Griechenland fest. Wären nicht beide Länder in der NATO, hätte sich dieser
Konflikt im schlimmsten Fall womöglich schon zum Krieg ausgeweitet.
Oder Indien: Die USA versuchen, China geopolitisch in Schach zu halten. Indien
ist dafür strategisch bedeutend. Deshalb sind die engen militärtechnologischen
und wirtschaftlichen Beziehungen sowie die laufenden Energielieferungen von
Russland nach Indien für die USA sekundär. Die Amerikaner sehen darüber hinweg,
weil sie Indien als Verbündeten brauchen. Folgerichtig wird es den Deutschen
erlaubt, über Indien russisches Gas und Öl zu
beziehen, natürlich wesentlich teurer als direkt aus Russland, aber politisch
weniger brisant. Das Gas und Öl ist jedoch dasselbe. Eine wertegebundene
Entscheidung kann man das nicht nennen, weder von amerikanischer noch von
deutscher Seite.
Nibelungentreue der Tauben und Falken
Im Wörterbuch wird Nibelungentreue mit leichtem Spott als unverbrüchliche Treue
bis in den Tod oder den Untergang definiert. Wir Deutschen legen eine solche
Nibelungentreue an den Tag, vor allem wenn es um Werte geht. Wir bleiben dabei,
keine Rüstungsgüter zu exportieren und keine in irgendeiner Weise kampffähigen
Kampfflugzeuge in Kriege zu schicken, die sowieso keine sind. Deshalb haben wir
keine Gefallenen zu beklagen, sondern lediglich tote Soldatinnen und Soldaten.
Ich verallgemeinere natürlich, wenn ich von »uns Deutschen« spreche. Es geht mir
darum, einen Hang oder eine Tendenz in unserem Verhalten als Gesamtheit
aufzuzeigen, ohne dass jede der beschriebenen Eigenschaften zwangsläufig auf
jeden Einzelnen von uns zutrifft. In diesem Sinne sind »wir« radikal
romantische, idealistische Extremisten, die ihren Werten zuweilen so treu sind,
dass etwas prinzipiell Gutes gelegentlich ins Schlechte verkehrt wird. Im
globalen Streben – »Kampf« wäre in diesem Sinne ein sehr undeutsches Wort – nach
Macht und Einfluss sind wir damit ein Sonderfall.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war das von Hitler hinterlassene Deutschland eine
Bedrohung; ein Sicherheitsrisiko, das die anderen, ehemals gegnerischen Staaten
durch die Mitgliedschaft Westdeutschlands in der NATO einzudämmen hofften. Auf
diese Weise hatte man Deutschland im Blick und an der kurzen Leine. Inzwischen
haben sich die Deutschen gut in der NATO und in der Europäischen Union
eingerichtet. Deutschland braucht die NATO vor allem, um nicht selbst
Entscheidungen für die eigene Verteidigung treffen zu müssen. Gleichzeitig
wurden wir für die NATO in anderer Hinsicht ein Risiko: Es waren unsere
politische Kultur der Gewaltlosigkeit und unser struktureller Pazifismus, die
wie Mühlsteine um den Hals der NATO hätten hängen können. Ein Nein der
moralisierenden Deutschen hätte das Bündnis stoppen können, wenn es eigentlich
tätig werden und militärisch hätte handeln müssen.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat gezeigt, welche Macht unsere Werte
und die kategorische Unterteilung in Schwarz und Weiß, Gut und Böse über das
deutsche Denken haben können: Mit Putins Panzern ist das personifizierte Böse
über die Grenzen nach Europa gerollt. Es so zu betrachten ist moralisch nicht
falsch, unser Werte-Radar arbeitet verlässlich, wenn wir den russischen
Präsidenten verabscheuen. In deutscher Nibelungentreue wird jedoch nicht länger
dem Kriegerischen abgeschworen, sondern plötzlich im Gegenteil Kampf und
Waffen(lieferungen) das Wort geredet, zumindest auf politischer und medialer
Ebene. Ist Deutschland von dem einen Extrem ins nächste gefallen, sind aus den
pazifistischen Tauben der vergangenen Jahrzehnte über Nacht kriegsbereite Falken
geworden, weil wir mit Putin einen Feind haben, der es moralisch verdient,
vernichtet zu werden?
Eine solche Selbstgewissheit, die nicht an sich neu ist, sondern eine neue,
gegensätzliche Projektionsfläche gefunden hat, erschreckt mich. Statt nach
Frieden rufen wir nach Waffen, bis das Gute siegt und die Ukraine gewinnt? Eine
solche Reaktion auf den Krieg ist undifferenziert, solange sie vor allem
gesinnungsgesteuert ist. Ich sage bewusst »Reaktion«, denn eine Aktion im Sinne
von nachhaltigem, strategischem, rationalem politischem Handeln ist dies nicht.
Bisweilen scheint die deutsche Nibelungentreue den klaren Blick zu verstellen.
Es ist problematisch, wenn Werte die hauptsächlichen Argumente für die
politische Unterstützung eines Krieges sind – »Moralismus mit totalitären Zügen«
hat der Deutschlandfunk einmal getitelt, als es in einem anderen Zusammenhang um
die deutsche Seele ging.
In einem Gespräch mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Altkanzler
Helmut Schmidt die Deutschen einmal als emotional sehr wankelmütig und als
regelrecht »gefährdetes Volk« bezeichnet. Bei der Diskussion über den Krieg
gegen die Ukraine muss ich oft an diese Aussage denken, die ich damals in ihrer
Tragweite unterschätzte. Helmut Schmidt plädierte nicht zuletzt aufgrund der
deutschen Tendenz, sich von Emotionen leiten zu lassen, für politische Vernunft
und Realpolitik; von beidem ist in der Debatte um den Krieg in der Ukraine viel
zu wenig zu verspüren. Bedenken hinsichtlich der Risiken und Folgen, der
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen auf das eigene Land
werden in der deutschen Politik und zu einem großen Teil auch in den deutschen
Medien oft ausgeklammert.
Sicherheit braucht festen Boden
Abgesehen von dem Leid, das ein verlängerter Krieg für die ukrainische
Bevölkerung und die ukrainischen Soldaten (im Übrigen ebenso für die russischen)
mit sich bringt: Der Krieg betrifft auch uns unmittelbar. Er hat massive
negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Wir verlieren den billigen
Energielieferanten Russland, müssen diesen Verlust teuer kompensieren, drohen
den chinesischen Markt zu verlieren und stehen gleichzeitig unter Druck, weil
wir die Bundeswehr in unserem neu erwachten Sicherheitsinteresse mit Milliarden
wieder einsatzfähig machen müssen. Und doch treibt uns unsere Selbstgewissheit,
unsere Hypermoral zu dieser Art der Selbstzerstörung. Ich bin für jede
Unterstützung der Ukraine, politisch wie militärisch, aber sie darf nicht zur
Selbstzerstörung führen. Die deutschen Falken blenden das aus.
Wer das Gesamtbild objektiv bewerten will, muss sich bewusst machen: Deutschland
hat eigene Interessen. Deutschland muss eigene
Interessen haben. Es würde weder uns noch der Ukraine oder Europa helfen, wenn
aus einem wirtschaftlich starken und politisch gewichtigen Deutschland ein
hausgemachter Problemfall wird. Wir können keinen Waffenstillstand in der
Ukraine erreichen und keine Verhandlungen initiieren, wenn die »Global Players«
uns nicht ernst nehmen. Wir können Kriege und Konflikte nicht vermeiden, wenn
wir ignorieren, was Politik bedeutet.
Autoren von "Weiße Weste, graue Welt: Die guten Menschen von Deutschland"
08.06.2024 - Weiße Weste, graue Welt: Die guten Menschen von Deutschland
Was hat das Südchinesische Meer mit der Krim-Halbinsel zu tun? Sind die USA noch unser Freund und Helfer? Unter welcher Flagge kämpft eigentlich Europa? Dr. Erich Vad, Brigadegeneral a.D. und militärpolitischer Berater der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, liefert in seinem Buch „Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit“ Antworten: Europa braucht nachhaltige Sicherheit. Und die kommt nicht von allein, sondern nur, wenn wir etwas dafür tun, und sie kommt hoffentlich auch aus Deutschland. Denn wenn wir das Leben, wie wir es kennen, und unsere Freiheit bewahren wollen, dann müssen wir unsere eigenen – deutschen wie europäischen – Interessen kennen und danach handeln. Das macht uns zu einem Staat und Kontinent, der die Stärke und den Einfluss besitzt, Lösungen zu finden und durchzusetzen. Erich Vad zeigt Wege auf, durch glaubwürdige militärische Abschreckung, Verteidigungsfähigkeit und Diplomatie Kriege zu verhindern und den Frieden zu bewahren.
Während meiner Zeit als militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel ging es einmal darum, Tornado-Kampfflugzeuge nach Afghanistan zu entsenden. Der Auftrag war, geheime Taliban-Stellungen aufzuspüren. Es ging um Aufklärung, nicht um einen Kampfeinsatz. Im Parlament wurde deshalb – teils vehement – gefordert, die Zwanzig-Millimeter-Kanone an Bord der Jets unbrauchbar zu machen. Die Tornados sollten nicht in einen ungewollten Kampfeinsatz hineinschlittern. Was dabei außer Acht gelassen wurde, war, dass die Kanone für den Fall nötig war, dass sich die Besatzung selbst schützen müsste.
Später diskutierte Deutschland darüber, ob in Afghanistan »Krieg« sei. Dabei kämpften und starben deutsche Soldatinnen und Soldaten ganz offensichtlich wie in einem Krieg, erstmals seit 1945. Dennoch vermied man es, von »Gefallenen« zu reden, um nicht falsche, politisch wie gesellschaftlich nicht gewollte Assoziationen zu wecken. Ähnliches galt lange für Rüstungsexportentscheidungen: Im Gegensatz zu den meisten Partnern im NATO-Bündnis tat sich Deutschland damit immer schwer; Waffenlieferungen in Krisen- und Konfliktgebiete waren in unserem Selbstverständnis ein Tabu, zumindest in der Vergangenheit.
Extremisten mit besten Absichten
Was ich mit diesen Beispielen sagen will: Wir Deutschen sind friedliebende Tauben. Wir sind nahezu fanatisch darauf bedacht, uns nicht in militärische Auseinandersetzungen einzubringen. Wir wollen die Hände nicht im Spiel haben, wollen uns nicht erneut schuldig machen. Unser reines Gewissen und unsere weiße Weste stünden ansonsten auf dem Spiel. Deutschland ist gewaltlos, darauf waren wir in den vergangenen Jahrzehnten durchaus stolz. Selbst wenn es dafür nötig wurde, einen Krieg wie den in Afghanistan nicht beim Namen zu nennen.
In der weiter zurückliegenden Vergangenheit haben wir zahlreiche Kriege angezettelt und unermessliche Grausamkeit nach Europa exportiert, um heute sehr genau zu wissen, was für ein Deutschland wir nicht mehr sein wollen. Nachdem wir lange, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, »die Bösen« waren, sind wir es endlich nicht mehr. Wir sind »die Guten«, und das wollen wir bleiben.
Wie ich bereits angesprochen habe, geht es im globalen Kampf um Macht und Einfluss jedoch nicht prioritär um Werte, sondern um Interessen. Natürlich ist der Westen eine Wertegemeinschaft. Wir stellen das Gemeinwohl über Einzelinteressen, setzen auf demokratische Zusammenarbeit statt auf einseitige Machtausübung. Uns sind Freiheit und Gleichheit wichtig, die Achtung der Menschenrechte, Individualismus, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit. Die Welt und wie sie zusammenhängt, ist jedoch nicht schwarz-weiß und auch nicht (nur) gut oder böse. Ich verweise noch einmal auf Clausewitz: Staaten treffen politisch-strategische Entscheidungen nicht vorrangig wertegebunden, sondern interessengeleitet. Nicht moralische Kategorien sind entscheidend, sondern nationale Erwägungen wie Handelswege und Ressourcen und deren Sicherung, Sicherheit und Verteidigung, Machterhalt und -ausübung.
Das lässt sich am Krieg gegen die Ukraine aufzeigen. Eine Destabilisierung Russlands oder ein Regimewechsel, sprich: die Ergebnisse, die sich die deutsche Politik aus dem Krieg gegen die Ukraine zu erhoffen scheint, werden die Sicherheitslage des Westens dramatisch verschlechtern, das habe ich bereits dargelegt. Wer sollte anschließend im Osten Eurasiens die Ordnung aufrechterhalten? Das würde nicht allein mithilfe werteorientierter deutscher Nachbarschaftspolitik funktionieren.
Jeder Staat hat strategische Interessen, bei denen er nicht zulässt, dass andere daran rütteln; sie sind ein Muss für seine Sicherheit und sein Gedeihen. In internationalen Beziehungen müssen wir darauf Rücksicht nehmen, wenn wir mit dem jeweiligen Staat zusammenarbeiten oder friedlich zusammenleben wollen.
Das Problem ist, dass die Sicherheitsbedürfnisse des einen Staates mit denen eines anderen konkurrieren oder kollidieren können. Wenn eine Macht in der strategischen Interessensphäre einer anderen interveniert, gibt es vom diplomatischen Ärger bis zu gewaltsamen Konflikten vieles, was zum Krieg führen kann. Handelt es sich zudem um eine Nuklearmacht wie Russland, ist besondere Vorsicht geboten.
Ein Beispiel: das NATO-Mitglied Türkei, ein Land, das in Syrien und im Irak militärisch intervenierte und, parallel zum russischen Überfall auf die Ukraine, die Kurden bekämpfte. Die Türkei reklamiert für ihre strategischen Interessen eine Sicherheitszone in Syrien und im Irak – Völkerrecht und territoriale Integrität ihrer Nachbarländer hin oder her. Auch ein freies Kurdistan wird die Türkei aus strategischen Gründen nicht dulden, selbst wenn völkerrechtliche Prinzipien wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker anderes fordern. Gleichzeitig steckt die Türkei in der Ägäis in einem Interessenkonflikt mit Griechenland fest. Wären nicht beide Länder in der NATO, hätte sich dieser Konflikt im schlimmsten Fall womöglich schon zum Krieg ausgeweitet.
Oder Indien: Die USA versuchen, China geopolitisch in Schach zu halten. Indien ist dafür strategisch bedeutend. Deshalb sind die engen militärtechnologischen und wirtschaftlichen Beziehungen sowie die laufenden Energielieferungen von Russland nach Indien für die USA sekundär. Die Amerikaner sehen darüber hinweg, weil sie Indien als Verbündeten brauchen. Folgerichtig wird es den Deutschen erlaubt, über Indien russisches Gas und Öl zu beziehen, natürlich wesentlich teurer als direkt aus Russland, aber politisch weniger brisant. Das Gas und Öl ist jedoch dasselbe. Eine wertegebundene Entscheidung kann man das nicht nennen, weder von amerikanischer noch von deutscher Seite.
Nibelungentreue der Tauben und Falken
Im Wörterbuch wird Nibelungentreue mit leichtem Spott als unverbrüchliche Treue bis in den Tod oder den Untergang definiert. Wir Deutschen legen eine solche Nibelungentreue an den Tag, vor allem wenn es um Werte geht. Wir bleiben dabei, keine Rüstungsgüter zu exportieren und keine in irgendeiner Weise kampffähigen Kampfflugzeuge in Kriege zu schicken, die sowieso keine sind. Deshalb haben wir keine Gefallenen zu beklagen, sondern lediglich tote Soldatinnen und Soldaten.
Ich verallgemeinere natürlich, wenn ich von »uns Deutschen« spreche. Es geht mir darum, einen Hang oder eine Tendenz in unserem Verhalten als Gesamtheit aufzuzeigen, ohne dass jede der beschriebenen Eigenschaften zwangsläufig auf jeden Einzelnen von uns zutrifft. In diesem Sinne sind »wir« radikal romantische, idealistische Extremisten, die ihren Werten zuweilen so treu sind, dass etwas prinzipiell Gutes gelegentlich ins Schlechte verkehrt wird. Im globalen Streben – »Kampf« wäre in diesem Sinne ein sehr undeutsches Wort – nach Macht und Einfluss sind wir damit ein Sonderfall.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war das von Hitler hinterlassene Deutschland eine Bedrohung; ein Sicherheitsrisiko, das die anderen, ehemals gegnerischen Staaten durch die Mitgliedschaft Westdeutschlands in der NATO einzudämmen hofften. Auf diese Weise hatte man Deutschland im Blick und an der kurzen Leine. Inzwischen haben sich die Deutschen gut in der NATO und in der Europäischen Union eingerichtet. Deutschland braucht die NATO vor allem, um nicht selbst Entscheidungen für die eigene Verteidigung treffen zu müssen. Gleichzeitig wurden wir für die NATO in anderer Hinsicht ein Risiko: Es waren unsere politische Kultur der Gewaltlosigkeit und unser struktureller Pazifismus, die wie Mühlsteine um den Hals der NATO hätten hängen können. Ein Nein der moralisierenden Deutschen hätte das Bündnis stoppen können, wenn es eigentlich tätig werden und militärisch hätte handeln müssen.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat gezeigt, welche Macht unsere Werte und die kategorische Unterteilung in Schwarz und Weiß, Gut und Böse über das deutsche Denken haben können: Mit Putins Panzern ist das personifizierte Böse über die Grenzen nach Europa gerollt. Es so zu betrachten ist moralisch nicht falsch, unser Werte-Radar arbeitet verlässlich, wenn wir den russischen Präsidenten verabscheuen. In deutscher Nibelungentreue wird jedoch nicht länger dem Kriegerischen abgeschworen, sondern plötzlich im Gegenteil Kampf und Waffen(lieferungen) das Wort geredet, zumindest auf politischer und medialer Ebene. Ist Deutschland von dem einen Extrem ins nächste gefallen, sind aus den pazifistischen Tauben der vergangenen Jahrzehnte über Nacht kriegsbereite Falken geworden, weil wir mit Putin einen Feind haben, der es moralisch verdient, vernichtet zu werden?
Eine solche Selbstgewissheit, die nicht an sich neu ist, sondern eine neue, gegensätzliche Projektionsfläche gefunden hat, erschreckt mich. Statt nach Frieden rufen wir nach Waffen, bis das Gute siegt und die Ukraine gewinnt? Eine solche Reaktion auf den Krieg ist undifferenziert, solange sie vor allem gesinnungsgesteuert ist. Ich sage bewusst »Reaktion«, denn eine Aktion im Sinne von nachhaltigem, strategischem, rationalem politischem Handeln ist dies nicht. Bisweilen scheint die deutsche Nibelungentreue den klaren Blick zu verstellen. Es ist problematisch, wenn Werte die hauptsächlichen Argumente für die politische Unterstützung eines Krieges sind – »Moralismus mit totalitären Zügen« hat der Deutschlandfunk einmal getitelt, als es in einem anderen Zusammenhang um die deutsche Seele ging.
In einem Gespräch mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Altkanzler Helmut Schmidt die Deutschen einmal als emotional sehr wankelmütig und als regelrecht »gefährdetes Volk« bezeichnet. Bei der Diskussion über den Krieg gegen die Ukraine muss ich oft an diese Aussage denken, die ich damals in ihrer Tragweite unterschätzte. Helmut Schmidt plädierte nicht zuletzt aufgrund der deutschen Tendenz, sich von Emotionen leiten zu lassen, für politische Vernunft und Realpolitik; von beidem ist in der Debatte um den Krieg in der Ukraine viel zu wenig zu verspüren. Bedenken hinsichtlich der Risiken und Folgen, der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen auf das eigene Land werden in der deutschen Politik und zu einem großen Teil auch in den deutschen Medien oft ausgeklammert.
Sicherheit braucht festen Boden
Abgesehen von dem Leid, das ein verlängerter Krieg für die ukrainische Bevölkerung und die ukrainischen Soldaten (im Übrigen ebenso für die russischen) mit sich bringt: Der Krieg betrifft auch uns unmittelbar. Er hat massive negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Wir verlieren den billigen Energielieferanten Russland, müssen diesen Verlust teuer kompensieren, drohen den chinesischen Markt zu verlieren und stehen gleichzeitig unter Druck, weil wir die Bundeswehr in unserem neu erwachten Sicherheitsinteresse mit Milliarden wieder einsatzfähig machen müssen. Und doch treibt uns unsere Selbstgewissheit, unsere Hypermoral zu dieser Art der Selbstzerstörung. Ich bin für jede Unterstützung der Ukraine, politisch wie militärisch, aber sie darf nicht zur Selbstzerstörung führen. Die deutschen Falken blenden das aus.
Wer das Gesamtbild objektiv bewerten will, muss sich bewusst machen: Deutschland hat eigene Interessen. Deutschland muss eigene Interessen haben. Es würde weder uns noch der Ukraine oder Europa helfen, wenn aus einem wirtschaftlich starken und politisch gewichtigen Deutschland ein hausgemachter Problemfall wird. Wir können keinen Waffenstillstand in der Ukraine erreichen und keine Verhandlungen initiieren, wenn die »Global Players« uns nicht ernst nehmen. Wir können Kriege und Konflikte nicht vermeiden, wenn wir ignorieren, was Politik bedeutet.
Autoren von "Weiße Weste, graue Welt: Die guten Menschen von Deutschland"
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