"… nicht hören. In mir ein mulmiges Gefühl, Angst. Zu viele Mitbürger kennen diese Stimmung.
Vergangenen Montag war für mich ein Tag voller Anspannung und auch Angst. Um genau zu sein, dieses Gefühl hatte sich schon in den Tagen zuvor nach und nach, absolut unaufhaltsam, aufgebaut – ein mulmiges Gefühl, das – leider – wohl auch zig-Tausende Mitbürger kennen, die an Krebs erkrankt waren und nun keine aggressiven Krebszellen mehr in ihrem Körper haben. Aber alle paar Monate zur Nachuntersuchung müssen.
Auf dem Weg zur Praxis, wo ich in die MRT-Röhre gesteckt werde, macht mir mein Gehirn, dieses verdammte Gehirn, das Leben schwer. Die Gedanken rasen. Sie lassen sich nicht stoppen. Es ist ein wunderschöner, warmer Frühlingstag, die Sonne scheint, in den Bäumen zwitschern die Vögel, ich will sie nicht hören, ich schleiche bedrückt zum Arzt. Im Kopf habe ich plötzlich einen Tagebucheintrag vom 2. Oktober 2022, da notierte ich: „Alle sagen zu mir: Du schaffst es. Tief in meinem Inneren das Gefühl: Es geht nicht gut aus.“
Geht es jetzt gut aus? Was, wenn der Arzt sagt; „Herr Luik, es tut mir Leid, aber …“ Ich will nicht nochmals diese Tortur der Chemotherapie auf mich nehmen müssen. Nein, bitte nicht! Wenn die in meinem Körper jetzt was finden – wie verhalte ich mich? Sag ich das Treffen, das ich nachher mit einem Freund habe, sage ich es dann ab? Fall ich in ein Loch? Sage ich dann all die nächsten Termine ab? Was mache ich dann bloß!?! Wie verhalte ich mich? Geht weg, blöde Gedanken, geht weg! Aber sie denken nicht daran, sie haken sich fest, und viel zu früh bin ich in der Praxis.
Im Wartezimmer ist es ruhig. Niemand blickt sich an. Alle sind für sich allein. Da sitzt eine Mutter mit ihrer Tochter, beide tieftraurig. Wer von ihnen, frage ich mich, muss in die Röhre? Es ist die Tochter, vielleicht 15 Jahre alt. Mit einem Blick, der weh tut, blickt die Mutter ihrem Kind nach.
Und dann bin auch ich in der Röhre, ich strenge mich sehr an mich nicht zu bewegen, ich will ja, dass die Bilder von meinem Innern gut werden, ich werde hin- und hergeschoben und das Geknatter, das Gedröhn des MRT-Apparats geht los, ich versuch mich von allem wegzuträumen, die Stimme der Krankenschwester sagt über den Kopfhörer: „Einatmen.
Ausatmen. Nicht atmen. Einatmen.“
Die Minuten dehnen sich zur Ewigkeit, plötzlich zwickt mich etwas in der Nase, ich würde mich gerne kratzen, das darf ich nicht, „noch 20 Minuten“ sagt die Stimme in meinem Kopfhörer, um mich Krach, Stille, Lärm, Gewehrsalven, Explosionen, es pfeift und jault, knatterndes Maschinengewehr, dann dumpfe Kanonenschläge, warum schießen die immer auf die gleiche Stelle in meinem Körper? Haben die da etwas entdeckt? Es ist kalt in der Röhre, aber ich schwitze. „Sie machen das gut“, sagt die Stimme in meinem Kopfhörer, aber ich will nur raus aus dieser verdammten Röhre, plötzlich kitzelt mich etwas an der Fußsohle, „noch zwei Minuten“, sagt die Stimme im Kopfhörer. Zwei Minuten? Es sind Stunden, so empfinde ich es.
Ich gehe raus aus dem MRT-Raum, ich sehe einen Arzt, wie er die Aufnahmen meines Körperinneren anguckt; ich grüße ihn, er hört mich nicht. Hört er mich nicht, weil er Schlimmes auf diesen Bildern entdeckt hat?
Ich sitze im Wartezimmer, blicke stur vor mich hin. Die Zeit dehnt sich. Was ist los? Ich will wissen, was mit mir los ist!
Ich darf ins Sprechzimmer, endlich. Der Arzt, der auf den Bildschirm schaut, dreht sich zu mir um. Er lächelt, sagt: „Ich habe gute Nachrichten für Sie. Es sieht in Ihnen richtig gut aus. Glückwunsch.“
Ich kann kaum reden. Ich bin so glücklich. Ich stehe vor der Praxis. Die Sonne scheint. Sie scheint so schön. Die Vögel zwitschern. Ich will sie hören."
Autoren von "Die Vögel zwitschern, ich will sie …"
15.05.2024 - Die Vögel zwitschern, ich will sie …
"… nicht hören. In mir ein mulmiges Gefühl, Angst. Zu viele Mitbürger kennen diese Stimmung.
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