75 Jahre nach ihrer Gründung scheint die NATO auf dem Höhepunkt ihrer
Macht. Heute fordern der Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine,
soziale Verwerfungen durch exzessives Hochrüsten sowie die Einkreisung Chinas in
Asien den Militärpakt in nie da gewesener Form heraus, zeigt Sevim Dagdelen in
ihrem neuen Buch. Und die NATO setzt auf Eskalation. Was mit der Lieferung von
Helmen an die Ukraine begann, ist nun der Ruf nach Soldaten. Mit ihrer
expansiven Geopolitik treibt die NATO die Welt näher an den Rand eines Dritten
Weltkrieges als jemals zuvor.
Im gegenwärtigen Konflikt mit Russland scheint man bei der NATO noch den
Mythen der Achtzigerjahre nachzuhängen. Die Strategie, Russland ähnlich wie
damals die Sowjetunion totzurüsten, blendet die Wirklichkeit im dritten
Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schlicht aus. Russland gibt nicht 13 Prozent
seines Bruttoinlandsprodukts für Waffen und Rüstung aus, wie es damals die
Sowjetunion tat. Der Versuch, Russland vom Import von Hochtechnologie
abzuschneiden, ist wenig erfolgversprechend – China und Indien stehen bereit.
Dennoch beschleunigt die NATO die Fahrt zu immer neuen Rüstungsrekorden. Sie
gibt im Vergleich zu China das Fünffache für Waffen aus, im Vergleich zu
Russland das 15-Fache. Dabei wird die eigene Strategie auch begrifflich
entgrenzt. So ist nicht mehr von einer Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit
die Rede, sondern, wie es der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius
(SPD) sagte, von der Erlangung einer »Kriegstüchtigkeit«.1 Um die exorbitanten
Rüstungsausgaben gegenüber der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, wird ein in
wenigen Jahren bevorstehender Angriff Russlands auf das NATO-Gebiet beschworen.
Gleichzeitig wird die eigene Beteiligung am Stellvertreterkrieg in der Ukraine
beständig hochgefahren und ein direkter Konflikt mit der Atommacht Russland
riskiert. Die bereits erwähnte 38-minütige Tonaufnahme einer Diskussion von
hochrangigen Bundeswehroffizieren über mögliche Angriffe auf die Brücke von
Kertsch sowie auf Munitionsdepots auf der Krim belegt einmal mehr: Den Konflikt
mit Russland schürt die NATO. Das besagt auch die in dem Gespräch angesprochene
Einbindung von britischen Soldaten wie auch »viele[n] Leute[n] mit
amerikanischem Akzent in Zivilklamotten« in den Krieg. Die Initiative zur
weiteren Eskalation geht eindeutig vom Westen aus.
Rüstungsrekorde und sozialer Kahlschlag
Für das Jahr 2023 konnte die NATO neue Rekordausgaben vermelden. 18 von 31
Mitgliedsstaaten erreichten das 2014 festgelegte Zwei-Prozent-Ziel an
Militärausgaben. Dies bedeutete wie in Deutschland enorme Steigerungen der
Militärausgaben. Die Bundesregierung meldete für 2023 einen Spitzenwert von
73,41 Milliarden Euro an die NATO. Die europäischen NATO-Mitglieder erhöhten
ihre Ausgaben im vergangenen Jahr insgesamt um elf Prozent auf über 350
Milliarden Euro, mehr als das Dreifache, das Russland aufwandte.
Ein Teil dieser Aufrüstung wird über Kriegskredite finanziert. Das erklärt
die Höhe der Haushaltsdefizite. Der Haushaltssaldo Frankreichs betrug 2023
bereits 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Italiens lag bei 4,2
Prozent, das Defizit der Eurozone betrug insgesamt etwa 3,3 Prozent,
Deutschlands noch 2,6 Prozent. Die EU plant derzeit, Verteidigungsausgaben bei
der Bewertung des Defizits gemäß der EU-Schuldenregeln zu berücksichtigen, mit
dem offenkundigen Ziel, Ausgaben für Rüstung und Militär an den eigenen
Stabilitätskriterien vorbei auszuweiten.2 Bereits jetzt aber schlägt die
gigantische Aufrüstung der NATO-Staaten wie auch der flankierende
Wirtschaftskrieg in einen sozialen Krieg gegen die Bevölkerungen um. Sie werden
zur Kasse gebeten. Italien ist dabei neben Deutschland ein besonders
gravierendes Beispiel. 2022 sanken die Reallöhne in Italien um 3,6 Prozent, 2023
noch um 2,1 Prozent. Die Rechtsregierung Giorgia Melonis strich die Sozialhilfe
massiv zusammen. Alleinstehende Arbeitslose zwischen 18 und 59 Jahren erhalten
in Zukunft nur noch 350 Euro statt 780 Euro im Monat und dies auch nur noch für
zwölf Monate, wenn sie an einer Wiedereingliederungsmaßnahme teilnehmen. In
Deutschland, wo jeder fünfte Euro des Bundeshaushalts künftig in Militär und
Rüstung fließen soll, gibt es nicht nur für Bauern massive Kürzungen, sondern
auch bei Bildung und Infrastruktur. Für die geplante Kindergrundsicherung in
Höhe von 2,4 Milliarden Euro ist offenbar kein Geld mehr da – und dies ist nur
der Anfang. In Frankreich wiederum setzt Präsident Macron unter Umgehung der
Nationalversammlung massive Rentenkürzungen durch. Ein weiterer sozialer
Kahlschlag ist geplant, denn für die Aufrüstung wird dringend frisches Geld
benötigt. Allerdings ziehen genau diese antisozialen Angriffe auf die
Bevölkerung immer schärfere soziale Proteste nach sich – eine Ironie des
Schicksals. Denn nach eigenem Selbstverständnis machen sich die NATO-Staaten
dabei immer angreifbarer für hybride Operationen zur Destabilisierung ihrer
Gesellschaften. Wie bei den Wirtschaftssanktionen drohen die Regierungen der
Länder sich ins eigene Bein zu schießen, was Sicherheit und Stabilität angeht.
Die Aufgabe der NATO war es schon immer, »alle Möglichkeiten für eine
kapitalistische Expansion offen zu halten«, schrieben Andreas Buro und Martin
Singe bereits 2009 in den Blättern für deutsche und internationale Politik.
Neokoloniale Unterdrückung
Bei ihrem Versuch aber, Russland niederzurüsten, verschärfen die NATO-Staaten
nicht nur innere soziale Gegensätze, sondern spitzen auch die internationalen
Widersprüche extrem zu. Zum einen streben die Mitglieder des Pakts danach, durch
die Ausweitung der Russland-Sanktionen auf Dritte, durch sogenannte
Sekundärsanktionen, anderen Staaten im globalen Süden den eigenen Willen
aufzuzwingen. Damit halten sie die neokolonialen Ausbeutungsverhältnisse
aufrecht, wenn sie nicht sogar verschärft werden. Dabei bringt die NATO aber
immer größere Teile der dortigen Bevölkerung gegen sich auf, wie es gerade in
der Sahelzone passiert. Die Staaten dort sind nicht mehr bereit hinzunehmen,
dass Vasallenregierungen Rohstoffe für ein paar Glasperlen an westliche Privat-
oder Staatskonzerne abgeben. »Mit Nigers Uran bekommt Frankreich Strom und
Geschäfte, Niger bekommt Verschmutzung und Radioaktivität«, zitiert die taz dazu
passend einen französischen Bergbauingenieur.3 Nach dem von der Bevölkerung
getragenen Umsturz in Niger ist dieses ausbeuterische Geschäftsmodell gefährdet.
Zentrale Staaten des Sahel wie Mali, Burkina Faso und Niger wenden sich nun an
Russland und China, um der Drangsalierung des französischen und des
EU-Neokolonialismus zu entkommen. Frankreich aber unterstützt Putsche und
blutige Gewalt in der Region, zuletzt im Tschad, dessen Regierung den
sozialistischen Oppositionsführer Yaya Dillo Djérou am 28. Februar 2024 ermorden
ließ, um ihr Unrechtsregime aufrechtzuerhalten. Dabei erhält sie großzügige
Unterstützung von anderen NATO-Mitgliedern wie den USA und Deutschland sowie
auch Ungarn, das mit zweihundert Militärberatern vor Ort ist.4
Hauptprofiteure Rüstungsschmieden
Die NATO, unterstützt von der EU, wird so zum Symbol sozialer Unterdrückung
im In- und Ausland. Ihr Geschäftsmodell scheint die seit ihrer Gründung größten
Gegenkräfte hervorzubringen. Der Militärpakt selbst droht zu einer Allianz für
neokoloniale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung zu werden. Dabei ist
bemerkenswert, dass die wirklichen Profiteure des Rüstungswettlaufs allein die
Großaktionäre der Waffenlieferanten in den NATO-Staaten sind. Auch der
Stellvertreterkrieg in der Ukraine läuft auf eine gigantische
Umverteilungsaktion hinaus. Während die Arbeiter den Krieg mit Sozialkürzungen
und Reallohnverlusten bezahlen – in Deutschland ist der Reallohn 2023 auf den
Stand von 2016 gesunken –, profitieren die Aktionäre der Großkonzerne und können
sich über Rekordgewinne freuen. Ganz besonders betrifft dies allerdings die
Rüstungsunternehmen. So jubelte das Internetportal Finanzmarktwelt am 14.
Februar 2024: »Lag der Gewinn pro Aktie vor Kriegsausbruch im Jahr 2021 noch bei
9,04 Euro, waren es in 2022 bereits 10,64 Euro. Für 2023 sollen es 13,75 Euro
werden (…). Und für 2024 sollen es bei Rheinmetall bereits 19,22 Euro Gewinn pro
Aktie sein – eine Steigerung von mehr als 100 Prozent im Vergleich zum
Vorkriegsjahr 2021. Auch der Umsatz soll enorm ansteigen: von 5,66 Milliarden
Euro in 2021 auf 9,46 Milliarden Euro in 2024.«5 Am stärksten profitieren aber
US-amerikanische Rüstungskonzerne, die den Löwenanteil auch der europäischen
Steuerzahlergelder auf ihre Konten lenken können. So kaufte Deutschland 2023 zum
Beispiel für 7,75 Milliarden Euro 60 schwere US-Transporthubschrauber des Typ
CH-47F Chinook des Herstellers Boeing. Fragen, ob und wie sinnvoll in den Zeiten
des Kampfdrohnenkriegs gerade diese Rüstungsanschaffung ist, wurden nicht
gestellt.
Die angestrebte Kriegstüchtigkeit besteht offenbar vor allem in der Förderung
der Profite von US-Rüstungsunternehmen durch Aufträge europäischer Verbündeter.
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel prophezeite der Bundeswehr mit ihrer
Stationierung an der russischen Grenze aufgrund ihrer fehlenden
Kampfdrohnenabwehr, dass »sie dort nur mit Anstand sterben könne«, sollte es zu
einem bewaffneten Konflikt kommen.6 Kriegstüchtigkeit ist nicht mehr als eine
Chiffre für militärische Großmäuligkeit, brandgefährliche Hybris und ein
bedingungsloses Eintreten für eine radikale Umverteilung in der Gesellschaft von
unten nach oben.
06.04.2024 - »Zeitenwende« und Kriegstüchtigkeit
75 Jahre nach ihrer Gründung scheint die NATO auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Heute fordern der Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine, soziale Verwerfungen durch exzessives Hochrüsten sowie die Einkreisung Chinas in Asien den Militärpakt in nie da gewesener Form heraus, zeigt Sevim Dagdelen in ihrem neuen Buch. Und die NATO setzt auf Eskalation. Was mit der Lieferung von Helmen an die Ukraine begann, ist nun der Ruf nach Soldaten. Mit ihrer expansiven Geopolitik treibt die NATO die Welt näher an den Rand eines Dritten Weltkrieges als jemals zuvor.
Im gegenwärtigen Konflikt mit Russland scheint man bei der NATO noch den Mythen der Achtzigerjahre nachzuhängen. Die Strategie, Russland ähnlich wie damals die Sowjetunion totzurüsten, blendet die Wirklichkeit im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schlicht aus. Russland gibt nicht 13 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Waffen und Rüstung aus, wie es damals die Sowjetunion tat. Der Versuch, Russland vom Import von Hochtechnologie abzuschneiden, ist wenig erfolgversprechend – China und Indien stehen bereit.
Dennoch beschleunigt die NATO die Fahrt zu immer neuen Rüstungsrekorden. Sie gibt im Vergleich zu China das Fünffache für Waffen aus, im Vergleich zu Russland das 15-Fache. Dabei wird die eigene Strategie auch begrifflich entgrenzt. So ist nicht mehr von einer Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit die Rede, sondern, wie es der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte, von der Erlangung einer »Kriegstüchtigkeit«.1 Um die exorbitanten Rüstungsausgaben gegenüber der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, wird ein in wenigen Jahren bevorstehender Angriff Russlands auf das NATO-Gebiet beschworen. Gleichzeitig wird die eigene Beteiligung am Stellvertreterkrieg in der Ukraine beständig hochgefahren und ein direkter Konflikt mit der Atommacht Russland riskiert. Die bereits erwähnte 38-minütige Tonaufnahme einer Diskussion von hochrangigen Bundeswehroffizieren über mögliche Angriffe auf die Brücke von Kertsch sowie auf Munitionsdepots auf der Krim belegt einmal mehr: Den Konflikt mit Russland schürt die NATO. Das besagt auch die in dem Gespräch angesprochene Einbindung von britischen Soldaten wie auch »viele[n] Leute[n] mit amerikanischem Akzent in Zivilklamotten« in den Krieg. Die Initiative zur weiteren Eskalation geht eindeutig vom Westen aus.
Rüstungsrekorde und sozialer Kahlschlag
Für das Jahr 2023 konnte die NATO neue Rekordausgaben vermelden. 18 von 31 Mitgliedsstaaten erreichten das 2014 festgelegte Zwei-Prozent-Ziel an Militärausgaben. Dies bedeutete wie in Deutschland enorme Steigerungen der Militärausgaben. Die Bundesregierung meldete für 2023 einen Spitzenwert von 73,41 Milliarden Euro an die NATO. Die europäischen NATO-Mitglieder erhöhten ihre Ausgaben im vergangenen Jahr insgesamt um elf Prozent auf über 350 Milliarden Euro, mehr als das Dreifache, das Russland aufwandte.
Ein Teil dieser Aufrüstung wird über Kriegskredite finanziert. Das erklärt die Höhe der Haushaltsdefizite. Der Haushaltssaldo Frankreichs betrug 2023 bereits 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Italiens lag bei 4,2 Prozent, das Defizit der Eurozone betrug insgesamt etwa 3,3 Prozent, Deutschlands noch 2,6 Prozent. Die EU plant derzeit, Verteidigungsausgaben bei der Bewertung des Defizits gemäß der EU-Schuldenregeln zu berücksichtigen, mit dem offenkundigen Ziel, Ausgaben für Rüstung und Militär an den eigenen Stabilitätskriterien vorbei auszuweiten.2 Bereits jetzt aber schlägt die gigantische Aufrüstung der NATO-Staaten wie auch der flankierende Wirtschaftskrieg in einen sozialen Krieg gegen die Bevölkerungen um. Sie werden zur Kasse gebeten. Italien ist dabei neben Deutschland ein besonders gravierendes Beispiel. 2022 sanken die Reallöhne in Italien um 3,6 Prozent, 2023 noch um 2,1 Prozent. Die Rechtsregierung Giorgia Melonis strich die Sozialhilfe massiv zusammen. Alleinstehende Arbeitslose zwischen 18 und 59 Jahren erhalten in Zukunft nur noch 350 Euro statt 780 Euro im Monat und dies auch nur noch für zwölf Monate, wenn sie an einer Wiedereingliederungsmaßnahme teilnehmen. In Deutschland, wo jeder fünfte Euro des Bundeshaushalts künftig in Militär und Rüstung fließen soll, gibt es nicht nur für Bauern massive Kürzungen, sondern auch bei Bildung und Infrastruktur. Für die geplante Kindergrundsicherung in Höhe von 2,4 Milliarden Euro ist offenbar kein Geld mehr da – und dies ist nur der Anfang. In Frankreich wiederum setzt Präsident Macron unter Umgehung der Nationalversammlung massive Rentenkürzungen durch. Ein weiterer sozialer Kahlschlag ist geplant, denn für die Aufrüstung wird dringend frisches Geld benötigt.
Allerdings ziehen genau diese antisozialen Angriffe auf die Bevölkerung immer schärfere soziale Proteste nach sich – eine Ironie des Schicksals. Denn nach eigenem Selbstverständnis machen sich die NATO-Staaten dabei immer angreifbarer für hybride Operationen zur Destabilisierung ihrer Gesellschaften. Wie bei den Wirtschaftssanktionen drohen die Regierungen der Länder sich ins eigene Bein zu schießen, was Sicherheit und Stabilität angeht. Die Aufgabe der NATO war es schon immer, »alle Möglichkeiten für eine kapitalistische Expansion offen zu halten«, schrieben Andreas Buro und Martin Singe bereits 2009 in den Blättern für deutsche und internationale Politik.
Neokoloniale Unterdrückung
Bei ihrem Versuch aber, Russland niederzurüsten, verschärfen die NATO-Staaten nicht nur innere soziale Gegensätze, sondern spitzen auch die internationalen Widersprüche extrem zu. Zum einen streben die Mitglieder des Pakts danach, durch die Ausweitung der Russland-Sanktionen auf Dritte, durch sogenannte Sekundärsanktionen, anderen Staaten im globalen Süden den eigenen Willen aufzuzwingen. Damit halten sie die neokolonialen Ausbeutungsverhältnisse aufrecht, wenn sie nicht sogar verschärft werden. Dabei bringt die NATO aber immer größere Teile der dortigen Bevölkerung gegen sich auf, wie es gerade in der Sahelzone passiert. Die Staaten dort sind nicht mehr bereit hinzunehmen, dass Vasallenregierungen Rohstoffe für ein paar Glasperlen an westliche Privat- oder Staatskonzerne abgeben. »Mit Nigers Uran bekommt Frankreich Strom und Geschäfte, Niger bekommt Verschmutzung und Radioaktivität«, zitiert die taz dazu passend einen französischen Bergbauingenieur.3 Nach dem von der Bevölkerung getragenen Umsturz in Niger ist dieses ausbeuterische Geschäftsmodell gefährdet. Zentrale Staaten des Sahel wie Mali, Burkina Faso und Niger wenden sich nun an Russland und China, um der Drangsalierung des französischen und des EU-Neokolonialismus zu entkommen. Frankreich aber unterstützt Putsche und blutige Gewalt in der Region, zuletzt im Tschad, dessen Regierung den sozialistischen Oppositionsführer Yaya Dillo Djérou am 28. Februar 2024 ermorden ließ, um ihr Unrechtsregime aufrechtzuerhalten. Dabei erhält sie großzügige Unterstützung von anderen NATO-Mitgliedern wie den USA und Deutschland sowie auch Ungarn, das mit zweihundert Militärberatern vor Ort ist.4
Hauptprofiteure Rüstungsschmieden
Die NATO, unterstützt von der EU, wird so zum Symbol sozialer Unterdrückung im In- und Ausland. Ihr Geschäftsmodell scheint die seit ihrer Gründung größten Gegenkräfte hervorzubringen. Der Militärpakt selbst droht zu einer Allianz für neokoloniale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung zu werden. Dabei ist bemerkenswert, dass die wirklichen Profiteure des Rüstungswettlaufs allein die Großaktionäre der Waffenlieferanten in den NATO-Staaten sind. Auch der Stellvertreterkrieg in der Ukraine läuft auf eine gigantische Umverteilungsaktion hinaus. Während die Arbeiter den Krieg mit Sozialkürzungen und Reallohnverlusten bezahlen – in Deutschland ist der Reallohn 2023 auf den Stand von 2016 gesunken –, profitieren die Aktionäre der Großkonzerne und können sich über Rekordgewinne freuen. Ganz besonders betrifft dies allerdings die Rüstungsunternehmen. So jubelte das Internetportal Finanzmarktwelt am 14. Februar 2024: »Lag der Gewinn pro Aktie vor Kriegsausbruch im Jahr 2021 noch bei 9,04 Euro, waren es in 2022 bereits 10,64 Euro. Für 2023 sollen es 13,75 Euro werden (…). Und für 2024 sollen es bei Rheinmetall bereits 19,22 Euro Gewinn pro Aktie sein – eine Steigerung von mehr als 100 Prozent im Vergleich zum Vorkriegsjahr 2021. Auch der Umsatz soll enorm ansteigen: von 5,66 Milliarden Euro in 2021 auf 9,46 Milliarden Euro in 2024.«5 Am stärksten profitieren aber US-amerikanische Rüstungskonzerne, die den Löwenanteil auch der europäischen Steuerzahlergelder auf ihre Konten lenken können. So kaufte Deutschland 2023 zum Beispiel für 7,75 Milliarden Euro 60 schwere US-Transporthubschrauber des Typ CH-47F Chinook des Herstellers Boeing. Fragen, ob und wie sinnvoll in den Zeiten des Kampfdrohnenkriegs gerade diese Rüstungsanschaffung ist, wurden nicht gestellt.
Die angestrebte Kriegstüchtigkeit besteht offenbar vor allem in der Förderung der Profite von US-Rüstungsunternehmen durch Aufträge europäischer Verbündeter. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel prophezeite der Bundeswehr mit ihrer Stationierung an der russischen Grenze aufgrund ihrer fehlenden Kampfdrohnenabwehr, dass »sie dort nur mit Anstand sterben könne«, sollte es zu einem bewaffneten Konflikt kommen.6 Kriegstüchtigkeit ist nicht mehr als eine Chiffre für militärische Großmäuligkeit, brandgefährliche Hybris und ein bedingungsloses Eintreten für eine radikale Umverteilung in der Gesellschaft von unten nach oben.
1 Zeit Online: Boris Pistorius verteidigt seine Forderung nach »Kriegstüchtigkeit«, 12. November 2023, https://www.zeit.de/politik/2023-11/bundeswehr-boris-pistorius-verteidigungspolitik-kriegstuechtigkeit
2 Wirtschaftswoche: EU-Staaten und Parlament einigen sich auf neue Schuldenregeln, 10. Februar 2024, https://www.wiwo.de/politik/ausland/bruessel-eu-staaten-und-parlament-einigen-sich-auf-neue-schuldenregeln/29648930.html
3 Francois Misser: Uranabbau in Niger. Da strahlt das Land. taz, 29.8.2023, https://taz.de/Uranabbau-in-Niger/!5953147/
4 Human Rights Watch: Chad: Prominent Opposition Leader Killed. Investigate Yaya Dillo’s Death During Crackdown by Security Forces, 1. März 2024, https://www.hrw.org/news/2024/03/01/chad-prominent-opposition-leader-killed; Harald Stutte: Was machen Orbans Soldaten im Tschad?, RND, 12. März 2024, https://www.rnd.de/politik/was-machen-orbans-soldaten-im-tschad-NILLPVALBJDO7EI6DBEBQV47UI.html
5 Claudio Kummerfeld: Rheinmetall-Aktie im Höhenflug – Blick auf Daten und Erwartungen, Finanzmarktwelt, 14. Februar 2024, https://finanzmarktwelt.de/rheinmetall-hoehenflug-301045/
6 Militärhistoriker Sönke Neitzel im Interview: »Die Bundeswehr könnte momentan wohl nur beweisen, dass sie mit Anstand zu sterben versteht.«, RND, 1. Februar 2024, https://www.rnd.de/politik/zusammenbruch-der-ukraine-was-eine-niederlage-fuer-europa-bedeuten-koennte-RGMBM7WCXBC4TCTCPO23INPD6M.html
Autoren von "»Zeitenwende« und Kriegstüchtigkeit"
Bücher von Sevim Dagdelen